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70

Clarisse besucht Ulrich, um ihm eine Geschichte zu erzählen

 

Die Neueinrichtung alter Schlösser bildete die besondere Fähigkeit des bekannten Malers van Heimond, dessen genialstes Werk seine Tochter Clarisse war, und eines Tages trat diese unerwartet bei Ulrich ein.

»Papa schickt mich,« teilte sie mit »ich soll nachsehn, ob du deine großartigen aristokratischen Beziehungen nicht auch ein wenig für ihn ausnützen könntest!« Sie sah sich neugierig im Zimmer um, warf sich in einen Stuhl und ihren Hut auf einen anderen. Dann reichte sie Ulrich die Hand.

»Dein Papa überschätzt mich« wollte er sagen, aber sie schnitt ihm das Wort ab.

»Ach, Unsinn! Du weißt doch, der Alte braucht immer Geld. Das Geschäft geht nicht mehr so wie früher!« Sie lachte. »Sehr elegant hast du's. Hübsch!« Sie musterte abermals die Umgebung und sah dann Ulrich an; ihre ganze Haltung hatte etwas von der liebenswürdigen Unsicherheit eines Hündchens, das sein böses Gewissen im Fell juckt. »Na!« sagte sie. »Also wenn du kannst, wirst du's tun! Wenn nicht, dann nicht! Ich hab es ihm natürlich versprochen. Aber ich bin aus einem anderen Grund gekommen; er hat mich mit seinem Anliegen auf eine Idee gebracht. Bei uns liegt nämlich etwas in der Familie. Ich möchte einmal hören, was du dazu sagst.« Mund und Augen zögerten und zuckten einen Augenblick, dann setzte sie mit einem Ruck über das Anfangshindernis. »Kannst du dir etwas vorstellen, wenn ich Schönheitsarzt sage? Ein Maler ist ein Schönheitsarzt.«

Ulrich begriff; er kannte das Haus ihrer Eltern.

»Also dunkel, vornehm, prächtig, üppig, gepolstert, bewimpelt und bewedelt!« fuhr sie fort. »Papa ist Maler, der Maler ist eine Art Schönheitsarzt, und mit uns zu verkehren, hat in der Gesellschaft immer für ebenso schick gegolten wie eine Badereise anzutreten. Du verstehst. Und eine Haupteinnahme Papas bildet seit je die Einrichtung von Palästen und Landschlössern. Du kennst die Pachhofens?«

Das war eine Patrizierfamilie, aber Ulrich kannte sie nicht; bloß ein Fräulein Pachhofen hatte er vor Jahren in Clarissens Gesellschaft einmal angetroffen.

»Das war meine Freundin« erklärte Clarisse. »Sie war damals siebzehn und ich fünfzehn; Papa sollte das Schloß einrichten und umbaun.«

»Nun ja, natürlich, das Pachhofensche. Wir waren alle eingeladen. Auch Walter war zum erstenmal mit uns. Und Meingast.«

»Meingast?« Ulrich wußte nicht, wer Meingast sei.

»Aber ja, du kennst ihn doch auch? Meingast, der dann in die Schweiz gegangen ist. Damals war er noch nicht Philosoph, sondern Hahn in allen Familien, die Töchter hatten.«

»Ich habe ihn nie persönlich gekannt;« stellte Ulrich fest »aber jetzt weiß ich wohl, wer er ist.«

»Also gut,« – Clarisse rechnete angestrengt im Kopf »warte: Walter war damals dreiundzwanzig Jahre alt und Meingast etwas älter. Ich glaube, Walter hat im geheimen mächtig Papa bewundert. Er war zum erstenmal auf einem Schloß eingeladen. Papa hatte oft so etwas wie einen inneren Königsmantel. Ich glaube, Walter war anfangs mehr in Papa verliebt als in mich. Und Lucy –«

»Um Gottes willen, langsam, Clarisse!« bat Ulrich. »Ich glaube, ich habe den Zusammenhang verloren.«

»Lucy« sagte Clarisse »ist doch Fräulein Pachhofen, die Tochter der Pachhofens, bei denen wir alle eingeladen waren. Verstehst du es jetzt? Also nun verstehst du; wenn Papa Lucy in Samt oder Brokat wickelte und mit einer langen Schleppe auf eins ihrer Pferde setzte, so bildete sie sich ein, er sei ein Tizian oder ein Tintoretto. Sie waren ganz ineinander verschossen.«

»Also Papa in Lucy, und Walter in Papa?«

»So warte doch nur! Damals gab es den Impressionismus. Papa malte altmodisch-musikalisch, wie er es noch heute tut, braune Soße mit Pfauenschwänzen. Aber Walter war für freie Luft, klarlinige englische Gebrauchsformen, das Neue und Ehrliche. Papa mochte ihn insgeheim so wenig ausstehen wie eine protestantische Predigt; er mochte übrigens auch Meingast nicht ausstehen, aber er hatte zwei Töchter zu verheiraten, hatte immer mehr Geld ausgegeben als eingenommen und war duldsam gegen die Seele der zwei jungen Männer. Walter dagegen liebte heimlich Papa, das habe ich schon gesagt; aber er mußte ihn öffentlich verachten, wegen der neuen Kunstrichtung, und Lucy hat überhaupt nie etwas von Kunst verstanden, aber sie hatte Angst, sich vor Walter zu blamieren, und befürchtete, daß Papa, wenn Walter recht behalte, bloß als ein komischer alter Mann erscheinen würde. Bist du jetzt im Bild?«

Ulrich wollte zu diesem Zweck noch wissen, wo Mama gewesen sei.

»Mama war natürlich auch da. Sie stritten wie immer alle Tage, nicht mehr und nicht weniger. Du verstehst, daß unter diesen Umständen Walter eine begünstigte Position hatte. Er wurde eine Art Schnittpunkt von uns allen, Papa fürchtete sich vor ihm, Mama hetzte ihn auf, und ich fing an, mich in ihn zu verlieben. Lucy aber tat ihm schön. So hatte Walter eine gewisse Macht über Papa, und er begann, sie mit vorsichtiger Wollust auszukosten. Ich meine, damals ist ihm seine eigene Bedeutung aufgegangen; ohne Papa und mich wäre er nichts geworden. Verstehst du diese Zusammenhänge?«

Ulrich glaubte diese Frage bejahen zu können.

»Aber ich wollte etwas anderes erzählen!« versicherte Clarisse. Sie überlegte und sagte nach einer Weile: »Warte! Denk zunächst nur an mich und Lucy: Das war ein aufregend verworrenes Verhältnis! Ich habe natürlich Angst um Vater gehabt, der in seiner Verliebtheit Miene machte, die ganze Familie zu ruinieren. Und dabei wollte ich doch natürlich auch wissen, wie so etwas eigentlich vor sich geht. Sie waren beide ganz toll. In Lucy mischte sich selbstverständlich die Freundschaft für mich mit dem Gefühl, daß sie den Mann zum Geliebten hatte, zu dem ich noch gehorsam Papa sagen mußte. Sie bildete sich nicht wenig darauf ein, aber schämte sich auch heftig vor mir. Ich glaube, das alte Schloß hatte seit seiner Erbauung noch keine solchen Komplikationen beherbergt! Den ganzen Tag über trieb sich Lucy, wo sie nur konnte, mit Papa herum, und nachts kam sie zu mir in den Turm beichten. Ich schlief nämlich im Turm, und wir brannten fast die ganze Nacht Licht.«

»Wie weit hat sich denn Lucy mit deinem Vater eingelassen?«

»Das war das einzige, was ich nie erfahren konnte. Aber denk dir solche Sommernächte! Die Eulen haben gewimmert, die Nacht hat gestöhnt, und wenn es uns zu unheimlich wurde, haben wir uns beide in mein Bett gelegt, um dort weiter zu erzählen. Wir konnten uns die Sache nicht anders vorstellen, als daß ein Mann, den eine so unselige Leidenschaft erfaßt hat, sich erschießen müsse. Eigentlich warteten wir alle Tage darauf –«

»Ich habe doch den Eindruck,« unterbrach Ulrich »daß zwischen ihnen nicht viel vorgefallen war.«

»Ich glaube auch: nicht alles. Aber doch manches. Du wirst gleich sehen. Lucy hat nämlich plötzlich das Schloß verlassen müssen, weil ihr Vater unerwartet ankam und sie zu einer Spanienreise abholte. Da hättest du nun Papa sehen sollen, wie er allein blieb! Ich glaube, es fehlte manchmal nicht viel dazu, daß er Mama erwürgt hätte. Mit einer zusammenlegbaren Staffelei, die er hinter den Sattel schnallte, ist er von morgens bis abends umhergeritten, ohne einen Strich zu malen, und wenn er zu Hause blieb, rührte er auch keinen Pinsel an. Du mußt wissen, daß er sonst wie eine Maschine malt, aber damals traf ich ihn oft, wie er in einem der großen, leeren Säle hinter einem Buch saß und hatte es nicht geöffnet. So hat er manchmal stundenlang gebrütet, dann ist er aufgestanden, und in einem anderen Zimmer oder im Garten war es das gleiche; mitunter den ganzen Tag lang. Schließlich war er ein alter Mann, und die Jugend hatte ihn im Stich gelassen; nicht, das läßt sich begreifen?! Und ich denke mir, das Bild, wie er Lucy und mich oft gesehen hat, als zwei Freundinnen, die einander den Arm um den Leib legen und vertraut miteinander plaudern, muß in ihm damals aufgegangen sein, – wie ein wilder Samen. Vielleicht hat er auch davon gewußt, daß Lucy immer zu mir in den Turm gekommen ist. Kurz, einmal, so gegen elf Uhr nachts, alle Lichter waren im Schloß schon ausgelöscht, war er da! Du, das war etwas!« Clarisse wurde jetzt lebhaft von der Bedeutung ihrer eigenen Geschichte hingerissen. »Du hörst dieses Tasten und Scharren auf der Treppe und weißt nicht, was das ist; hörst dann das ungeschickte Drücken an der Klinke und das abenteuerliche Aufgehen der Tür . . .«

»Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?«

»Das ist das Sonderbare. Ich habe vom ersten Ton an gewußt, wer er ist. Er muß reglos in der Tür stehen geblieben sein, denn man hörte eine ganze Weile nichts. Er war wahrscheinlich auch erschrocken. Dann zog er vorsichtig die Tür zu und hat mich leise angerufen. Ich bin wie durch alle Sphären gesaust. Ich habe ihm keineswegs antworten wollen, aber das ist das Sonderbare: ganz aus mir heraus, als wäre ich ein tiefer Raum, ist ein Laut gekommen, der wie ein Winseln war. Kennst du das?«

»Nein. Erzähl weiter!«

»Nun einfach, und im nächsten Augenblick hat er sich mit unendlicher Verzweiflung an mir festgehalten; er ist beinahe auf mein Bett gefallen, und sein Kopf ist neben dem meinen in den Polstern gelegen.«

»Tränen?«

»Zuckende Trockenheit! Ein alter, verlassener Körper! Ich habe das augenblicklich verstanden. Oh, ich sage dir, wenn man später sagen könnte, was man in solchen Augenblicken gedacht hat, das wäre etwas ganz Großes! Ich glaube, daß ihn wegen des Versäumten tolle Wut gegen alle Sittsamkeit gepackt hatte. Ich merke also mit einemmal, daß er wieder aufwacht, und weiß sofort, obgleich es stockfinster war, daß er jetzt ganz zusammengekrampft ist von rücksichtslosem Hunger nach mir. Ich weiß, jetzt gibt es keine Schonung und Rücksicht; seit meinem Stöhnen war es noch immer ganz still; mein Körper war glühend trocken, und seiner war wie ein Papier, das man an den Rand des Feuers legt. Ordentlich leicht ist er geworden; ich habe gefühlt, wie sein Arm sich an meinem Körper hinabschlängelt und von meiner Schulter loslöst. Und da wollte ich dich etwas fragen. Deshalb bin ich gekommen –«

Clarisse unterbrach sich.

»Was? Du hast doch nichts gefragt!« half ihr Ulrich nach kurzer Pause.

»Nein. Ich muß vorher noch etwas anderes sagen: Ich habe mich bei dem Gedanken, daß er meine Reglosigkeit für ein Zeichen des Einverständnisses halten müsse, verabscheut; aber ich bin ganz ratlos liegengeblieben, eine steinerne Angst hat auf mir gelastet. Wie denkst du darüber?«

»Ich kann da gar nichts sagen.«

»Mit einer Hand hat er mich immerzu im Gesicht gestreichelt, die andere ist gewandert. Zitternd, mit gespielter Harmlosigkeit, weißt du, über meine Brust wie ein Kuß hinweg, dann, als wartete sie und lauschte auf Antwort. Und zuletzt wollte sie – nun du verstehst wohl, und sein Gesicht suchte zugleich das meine. Aber da habe ich mich doch mit letzter Kraft ihm entwunden und zur Seite gedreht; und wieder ist dabei dieser Laut, den ich sonst nicht an mir kenne, so zwischen Bitte und Stöhnen liegt er, aus meiner Brust gekommen. Ich habe nämlich ein Muttermal, ein schwarzes Medaillon –«

»Und wie hat sich dein Vater verhalten?« unterbrach sie Ulrich kühl.

Aber Clarisse ließ sich nicht unterbrechen. »Hier!« Sie lächelte gespannt und zeigte durch das Kleid eine Stelle einwärts der Hüfte. »Bis hieher ist er gekommen, hier ist das Medaillon. Dieses Medaillon besitzt eine wunderbare Kraft oder es hat damit eine sonderbare Bewandtnis!«

Das Blut strömte ihr plötzlich ins Gesicht. Ulrichs Schweigen ernüchterte sie und löste den Gedanken, der sie gefangen gehalten. Sie lächelte verlegen und schloß mit raschen Worten: »Mein Vater? Er hat sich augenblicklich aufgerichtet. Ich habe nicht sehen können, was in seinem Gesicht vorging; ich denke, es wird wohl Verlegenheit gewesen sein. Vielleicht Dankbarkeit. Ich hatte ihn doch im letzten Augenblick erlöst. Du mußt denken: ein alter Mann, und ein junges Mädchen hat die Kraft dazu! Ich muß ihm merkwürdig vorgekommen sein, denn er hat mir ganz zart die Hand gedrückt und mit der anderen zweimal über den Kopf gestreichelt, dann ist er fortgegangen, ohne etwas zu sagen. Also du wirst für ihn tun, was du kannst?! Schließlich mußte ich dir das aber auch erklären.«

Knapp und korrekt, in einem Schneiderkleid, das sie nur trug, wenn sie in die Stadt kam, stand sie da, um fortzugehen, und streckte die Hand zum Gruß aus.


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