David Christie Murray
Die Jagd nach Millionen
David Christie Murray

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Sechzehntes Kapitel.

Das kleine Städtchen war gesteckt voll von Fremden, wovon aber Marie natürlich keine Ahnung hatte. Es war ihr allerdings aufgefallen, wie belebt die Straßen waren, aber sie konnte nicht wissen, ob das ein Ausnahmezustand sei oder nicht. Eine große, halb und halb staatliche Expedition nach den Goldfeldern von Klondyke war vorbereitet und Edmonton der Ausgangspunkt dafür. Am Tage nach Maries Ankunft sollte ein zweihundert Mann starkes Arbeitercorps aufbrechen. Dieses war wohl und sorgfältig ausgerüstet für alle Gefahren und Schwierigkeiten und stand unter Befehl eines Mannes von anerkannter Leistungsfähigkeit und Erfahrung; die Mannschaft aber bestand aus abenteuerlustigen, wetterfesten Minenarbeitern, die sich hier von weit und breit zusammengefunden hatten, und war verstärkt durch eine Abteilung berittener Nordwest-Polizei, eine Truppe, die viel für die Kultur jener Gegenden geleistet hat und aus Männern besteht, die an militärischen Eigenschaften, Mut und Ausdauer, Kenntnis aller Eigentümlichkeiten von Wald, Heide, Gebirg, Flüssen und Seeen, nicht ihresgleichen haben.

Der rotbärtige Welsche, den Engel für sein Privatunternehmen als Anführer gewonnen hatte, war unter diesen Scharen heimisch und hatte eine Stunde nach seiner Ankunft schon ein Dutzend alter Kameraden angetroffen, Waffenbrüder im Kampfe gegen die Gewalten des Winters, denen sie wieder einmal kühn die Stirne bieten wollten. Selbstverständlich erkannte er sofort, von welchem Vorteil es wäre, wenn er's mit Aufwand aller Staatsklugheit dahin bringen könnte, daß seine Handvoll Abenteurer sich der großen starken Expedition anschließen dürfte, und er bot alles auf, seinen Zweck zu erreichen. Zum Glück war auch der Hauptmann dieser Expedition ein alter Bekannter von ihm, den er alsbald aufsuchte.

»Nun, sehen Sie, Jones,« erwiderte dieser auf sein Gesuch, »ich will offen mit Ihnen reden und kann's auch, weil Sie ja das Handwerk kennen. Ich kann nicht eine Unze Verantwortlichkeit und nicht eine Unze Gewicht mehr auf mich nehmen, als ich schon auf den Schultern habe.«

Jones gab sein Verständnis für diese Anschauung zu erkennen.

»Wer sind denn Ihre Leute?«

Jones nannte die Namen und gab eine kurze Skizze ihres Wesens.

»Es sind brauchbare Leute,« schloß er. »Ich habe sie mir selbst ausgesucht und kann für jeden gut stehen.«

»Ausrüstung – wie steht's damit?«

»Sehr leicht und sehr vollständig, dauerhaft und gut, nichts Ueberflüssiges, aber alles Nötige, und zwar vom Besten.«

»Und Ihr Auftraggeber?«

»Lederzähe Gesellen, alle drei. Ich will sie Ihnen herbringen.«

Gesagt, gethan. Engel, Vogel und Anise wurden unter ihren jetzigen Namen und schönen Titeln vorgeführt und, da sie die ihnen gestellten Bedingungen willig annahmen, zum Anschluß an die große Expedition ermächtigt. Jetzt operierten sie in fieberhafter Thätigkeit, denn statt, wie sie geglaubt, zum Ein- und Umpacken mehrere Tage vor sich zu haben, mußten sie nun in wenigen Stunden marschbereit sein. Fleischextrakte und Essenzen aller Art, komprimierter Thee und getrocknete Gemüse wurden angeschafft, wie überhaupt jeder Kunstgriff, Nahrungsmittel oder Kleidung in engstem Raum und geringstem Gewicht mit sich zu führen, benutzt und angewendet wurde. Jeder Gebrauchsgegenstand mußte möglichst leicht und möglichst stark sein, und so wurden nur neueste Erfindungen in bester Ausführung erkoren. Jones lachte sein fachmännisches Herz im Leib über die Vortrefflichkeit und Vollständigkeit dieser Ausrüstung.

»Ich würde mich, so ausgerüstet, anheischig machen, an den Nordpol zu gehen,« erklärte er, als alles fix und fertig war, gönnte sich dann ein bescheidenes Maß kanadischen Klub-Whiskys und ein paar Stunden Schlaf.

In der kalten grauen Morgendämmerung wurde zum Aufbruch geblasen, gedämpfte Kommandorufe wurden laut, Maultiere bockten und wieherten, Hunde kläfften, und der Zug setzte sich bei Laternenschein in guter Ordnung in Bewegung. Als der trübe Wintertag anbrach, lag das Städtchen still und verödet da; der letzte Mann der Expedition hatte ihm längst den Rücken gekehrt.

Die drei Gauner waren mit den übrigen abgezogen. Maries Brief, ihr Telegramm an Prickett und die zehn Dollarscheine befanden sich dagegen noch in Fräulein Rosa Macnaltys Rocktasche, deren Pflichtgefühl nur so lange vorgehalten hatte, bis persönliche Interessen dazwischen kamen. Fräulein Rosa Macnalty hatte nämlich die Entdeckung machen müssen, daß ihr Joseph, mit dem sie seit sechs Monaten ernstlich verlobt war, entgegen ihren Wünschen und seinen Gelöbnissen mit der Expedition aufgebrochen war, um in Klondyke zu überwintern! Diese Entdeckung hatte sie gemacht, als sie auf dem Weg zum Polizeiamt war, und es ist vielleicht kaum verwunderlich und beinah verzeihlich, daß sie ihren Auftrag darüber vergaß und, als er ihr wieder in den Sinn kam, die Ausführung auf gelegenere Zeit verschob.

Marie war nach ihrer zweiten Ohnmacht in tiefen, traumlosen Schlaf versunken, wie ihn nur große Erschöpfung mit sich bringt, und als sie die Augen wieder aufschlug, war es heller Tag. Ihre Glieder waren zwar steif vor Kälte, aber doch fühlte sie sich sehr gekräftigt und hatte einen gesunden Hunger wie noch nie im Leben. Gern wäre sie, um ihn zu stillen, in die Wirtschaft hinuntergegangen, aber sie hatte ja keine Stiefel! Eine Klingel war natürlich nicht im Zimmer – ihr Vorhandensein wäre eigentlich verwunderlicher gewesen als ihr Fehlen, denn sie hätte gar nicht in den Stil des Hauses gepaßt. Zu rufen wagte sie nicht, und so blieb sie in den Bettteppich gewickelt sitzen und lauschte gespannt auf etwaiges Geräusch im Hause. Bis vor wenigen Stunden war es lebhaft genug hergegangen, aber davon hatte sie nichts gemerkt, jetzt kam ihr die Stille seltsam, ja unheimlich vor. Endlich trieb sie der Hunger und ein Gefühl der Angst und Verlassenheit doch aus ihrem Stübchen und sie stieg lautlos auf Strümpfen die Treppe hinunter. Diese führte geraden Weges zur Schankstube, in der das Unterste zu oberst gekehrt war – die Tische naß von Bier und Schnaps, die Luft erstickend von kaltem Tabaksrauch und Alkoholdunst. Die Thür nach der Straße war verschlossen und die andre hinter dem schmierigen Schanktisch und der kleinen Kasse ebenfalls. Marie starrte durch die unsauberen Fenster auf die vom Regen aufgeweichte Straße hinaus – keine Menschenseele weit und breit. Sehr entmutigt kletterte sie wieder in ihr Kämmerchen hinauf, wickelte sich abermals den Bettteppich um den Leib und wartete fröstelnd auf irgend ein Zeichen erwachender Thätigkeit im Hause, bis endlich ein Schritt hörbar wurde und sie, zaghaft durch den Thürspalt spähend, ihre Gegnerin und Verbündete von gestern abend erkannte. Sie war sehr notdürftig bekleidet, das blonde Haar hing ihr in wirren Strähnen um den Kopf und sie trug eine buckelige Blechkanne in der Hand. Marie wartete auf ihre Rückkehr, weil es schon zu spät war, sie anzurufen, hörte dann unten eine Thüre kreischen, mit Herdringen klappern und Wasser einfüllen, und trat der Zurückkehrenden entgegen. Das Mädchen erschrak bei ihrem Anblick, als ob sie kein gutes Gewissen hätte.

»Sie haben meinen Brief doch besorgt?« war auch richtig Maries erste Frage.

»I was werd' ich denn nicht?« gab Fräulein Rosa leise zurück. »Nur Antwort hab' ich noch keine, weil gerade niemand auf dem Amt war. Sobald ich angezogen bin, geh' ich hin.«

»Ich bin furchtbar hungrig,« sagte Marie. »Kann ich etwas zu essen kriegen?«

»In fünf Minuten bin ich fertig,« erklärte das Mädchen etwas höflicher und gefügiger durch ihr Schuldbewußtsein. »Ein Butterbrot, ein Ei und Thee kann ich Ihnen geben – das sollen Sie haben, sobald ich meine Kleider am Leibe habe, und dann hole ich die Antwort.«

Sie eilte in ihre Kammer und zog sich wirklich sehr rasch an.

»Könnte ich nicht meine Stiefel haben?« fragte Marie, als sie wieder sichtbar wurde. »Es friert mich sehr in den Strümpfen.«

»Kommen Sie nur mit,« befahl Rosa, eilig die Treppe hinunterklappernd.

Marie folgte ihr gehorsam zur Küche, wo Rosa nach einer Ecke deutete, in der die Stiefel standen, und dann mit großem Kraftaufwand das Herdfeuer anzündete. Als die Flamme hell aufflackerte, deckte sie geräuschvoll ein nichts weniger als reines Tuch über den Küchentisch, indes Marie ihre steifen Hände ans Feuer hielt. Rosas lärmende Geschäftigkeit sollte offenbar jedes Gespräch und damit auch alle unbequemen Fragen abschneiden. Nachdem sie Butterbrote geschmiert, Theewasser zugesetzt und ein Ei aufs Feuer gestellt hatte, stürmte sie wieder in ihre Kammer hinauf. Nach einer Weile streckte sie den Kopf zur Küchenthüre herein.

»Sie können sich Ihren Thee selbst aufgießen,« ordnete sie an, »und hier frühstücken. Vor einer Stunde rührt sich noch kein Mensch – ich lauf' jetzt auf die Polizei.«

Damit war sie wie ein Wirbelwind davon, und Marie machte sich an die Mahlzeit, die gerade nicht einladend, aber ihr so unentbehrlich war, daß der Hunger alle Vorurteile überwand. Das Feuer verbreitete allmählich eine wohlige Wärme, und, was für Marie ebenso nötig war, die sprühenden Funken und züngelnden Flammen leisteten ihr freundliche Gesellschaft und fachten mit der Lebenswärme auch den Lebensmut an. Ihre Gedanken wurden zuversichtlich und selbstbewußt; sie war auf eine wilde, gefahrvolle Jagd ausgezogen und der Erfolg war über alle Erwartung günstig. Höchstens noch ein paar Minuten, dann stand sie unterm Schutz der Behörde, und die Missethäter, die ihren armen Vater berauben wollten, würden mindestens bewacht werden bis zu Pricketts Ankunft. War Prickett einmal da, so war ja alles gut.

Wohl kam ihr der Gedanke, der polizeiliche Schutz könnte anfangs die Form polizeilicher Aufsicht annehmen und am Ende möchte sie gar verhaftet werden, aber diese Vorstellung flößte ihr kein sonderliches Unbehagen ein. Sie hatte jetzt schon so viel über sich ergehen lassen, daß es auf eine Unannehmlichkeit mehr nicht ankam. Ihre Verkleidung mußte ja der Polizei verdächtig erscheinen, aber Prickett war jetzt wohl schon unterwegs und sie konnte ihn mit Ruhe abwarten.

So verstrichen statt der paar Minuten etliche Viertelstunden, und dann sollte sie aufs neue aus allen Himmeln gestürzt werden! Fräulein Rosa Macnalty kam nicht allein zurück, sondern in persönlicher Begleitung der hohen Obrigkeit in Gestalt eines jungen Polizeikommissärs. Sie sah sehr niedergeschlagen und gedrückt aus, denn was ihre lange Abwesenheit veranlaßt hatte, war der vergebliche Versuch gewesen, den Gewalthaber zu einer Bestätigung ihrer Lüge zu bewegen.

»Eine wunderliche Geschichte,« begann der Mann, als Rosa ihm ihre Auftraggeberin gezeigt hatte. »Wer sind Sie, wenn ich bitten darf?«

Sie sah, daß er ihren Brief und die Banknote in der Hand hielt, und begriff sofort, wie die Sache stand.

»Sie haben meine Depesche nicht besorgt?« rief sie in verzweifeltem Ton.

»Weil ich sie in diesem Augenblick erst erhielt!« versetzte der Diener des Gesetzes. »Ich sehe durchaus nicht klar in der Sache und muß bitten, daß Sie mir wahrheitsgemäße Auskunft geben!«

»Ich kam hierher in Verfolgung von drei Männern, die meinen Vater bestohlen haben, Inspektor Prickett von der englischen Polizei fahndet auf sie und hat die Haftbefehle, ist aber in Vancouver, weil er sie dort zu treffen hoffte.«

»Und bitte, wer wären diese drei Männer?«

Marie nannte die Namen und er nickte.

»Das würde ja stimmen,« sagte er vor sich hin. »Von denen habe ich in Calgary gehört – aber wie kommen Sie auf die Vermutung, daß sie hier seien?«

»Weil ich sie mit eigenen Augen gesehen habe!« rief Marie lebhaft. »Sie standen gestern alle drei hier auf dem Bahnhof, freilich unter falschem Namen. Engel nannte sich Baron Goldstein.«

»Ach so, die saubere Gesellschaft ist's?«

»Wenn Sie an meinen Angaben zweifeln, so nehmen Sie mich in Gewahrsam,« sagte Marie. »Ich lehne mich gar nicht dagegen auf, Inspektor Prickett wird alles aufklären, sobald er kommt. Ich verlange nicht, daß Sie auf mein einfaches Wort hin irgend etwas thun sollen, als diese Männer bis zu Pricketts Ankunft beobachten.«

»Kann nicht geschehen,« versetzte der Polizist.

»Aber warum denn nicht?« rief Marie entrüstet, »Ich kann ja die Persönlichkeiten feststellen – nehmen Sie mich doch in Haft und bestrafen Sie mich, falls ich falsch ausgesagt habe!«

»O, was das betrifft, so würden wir diese Herren recht gern beobachten und ihnen noch lieber Handschellen anlegen, nur sind Sie leider um etliche Stunden zu spät daran.«

»Zu spät –.« Jähes Entsetzen, tiefe Bitternis versetzten ihr den Atem.

»Ich bin zufällig allein auf der Station und habe nur sehr beschränkte Vollmacht,« sagte der Mann, »Wenn Sie sich irren oder getäuscht worden sind, kann ich in große Widerwärtigkeiten geraten ...«

Marie war auf ihren Stuhl zurückgesunken, barg ihr Gesicht in den Händen und weinte bitterlich – alle Gefahren, alle Entbehrungen, alle Schmach und Schande umsonst – umsonst! Siegesgewiß hatte sie schon alles Peinliche hinter sich geworfen, jetzt schien sie kopfüber in den Abgrund der Verzweiflung zu stürzen. Aber nein, nein – wer das ertragen hatte, durfte sich nicht so leicht besiegt geben. Mit nassen Augen sprang sie wieder auf und sagte, die Hände flehend gefaltet, mit erstickter Stimme: »Es ist keine Täuschung, kein Irrtum möglich – glauben Sie mir um Himmels willen! Helfen Sie mir, stehen Sie mir bei – ich flehe Sie an! Ich habe auch Geld, ich kann Sie belohnen ...«

»O bitte,« rief der Polizeikommissär zurückweichend, »von Bezahlung oder Belohnung kann gar keine Rede sein. Hören Sie, was ich thun will – ich werde meine vorgesetzte Behörde telegraphisch um Befehle bitten und Ihre Botschaft nach Vancouver will ich besorgen. Etwas weiteres kann ich auf eigene Faust nicht unternehmen. Mir ist die hiesige Station zur Zeit anvertraut, ohne höheren Befehl kann ich gar nichts machen. Sehen Sie das ein?«

»Ja, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen,« schluchzte Marie.

»Wenn's Ihnen aber nicht an Geld fehlt,« sagte er, seine Rührung über ihren Jammer hinter einer bärbeißigen Miene verschanzend, »so mein' ich, daß Sie sich anständige Kleidung verschaffen und in ein reputierliches Wirtshaus gehen sollten. Eure Rechnung werde ich von dem mir übergebenen Betrage bezahlen,« rief er der neugierigen Magd zu, die mit großen Augen dabei stand, »kommen Sie jetzt nur mit mir, Fräulein. Wir wollen die Geschichte so gut als möglich ins Lot bringen.«


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