David Christie Murray
Die Jagd nach Millionen
David Christie Murray

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Dreizehntes Kapitel.

Eine Stunde verstrich, ehe sie dazu kam, sich die tolle Unbesonnenheit ihrer Handlungsweise in ihrem ganzen Umfang klar zu machen. Eine Reise von fünf Tagen und Nächten ohne das geringste Gepäck, ohne Kamm und Zahnbürste! Völlig abgeschnitten von allen, die sie kannten! In ein und demselben Zuge mit einem Trio von Gaunern, die jedes Verbrechens fähig waren, wenn es ihrem Zweck diente!

Jetzt erschrak sie vor ihrer Ueberstürzung, und an der ersten Haltestelle dachte sie schon daran, das mit solcher Gefahr verknüpfte Unternehmen aufzugeben. Doch ein harmloses, unscheinbares weibliches Wesen gab sich alle Mühe, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sie mußte durchfahren nach San Francisco, wo ihr Mann sie erwartete, und war voll Angst, Unruhe und Aufregung über dieses Wagnis. Diese kindische Aengstlichkeit zu beschwichtigen, that Marie wohl und sie wagte auch, eine harmlose kleine Täuschung auszuspielen. Sie erzählte der Gefährtin, daß sie all ihr Gepäck verloren habe, und die gute Seele war mit Freuden bereit, ihr mit dem Nötigsten auszuhelfen. Die beiden schlossen eine Art von Pakt: die junge Frau war arm, Marie dagegen wenigstens für den Augenblick wohl mit Geld versehen.

Engel und Genossen hielten sich hauptsächlich im Rauchwagen auf, was die Gefahr einer Begegnung verringerte, nur vor den gemeinsamen Mahlzeiten im Speisewagen hatte Marie Todesangst, denn es war ja kaum denkbar, daß sie die ganze Reise über unbemerkt bleiben konnte. Dafür aber mochte die Zukunft sorgen, jetzt galt es, sich einen Plan auszudenken. Gleich zu Anfang der Reise hatte sie sich von dem Mulatten, der die Reisenden bediente, einen Briefumschlag geben lassen und ein paar Zeilen an ihren Vater geschrieben, die der Mann auf der nächsten Station in den Postkasten werfen wollte. Sie gab ihm ein reichliches Trinkgeld und stellte sich dann schlafend, um dem Geschwätz der Gefährtin entgehen und weitere Pläne entwerfen zu können. Sobald sich die Möglichkeit dazu bot, gab sie ein Telegramm auf, das lautete:

»Inspektor Prickett, englische Geheimpolizei, Fahrgast der kanadischen Pacificlinie nach Vancouver.

Engel, Vogel und Anise unterwegs nach San Francisco. Ich fahre im selben Zuge.

Marie Harcourt.«

Nachdem dies erledigt war, fühlte sie sich etwas erleichtert, aber der Schlaf dieser Nacht war durch schwere Träume gestört, und am nächsten Morgen kam sie Aug' in Auge mit Engel zu stehen! Sie mußte, um rasch ins Damenzimmer zu gelangen, durch einen Schlafwagen gehen, als zwischen den herabgelassenen Vorhängen plötzlich sein zerzauster Kopf herausfuhr. Er starrte sie an, als ob er einen Geist gesehen hätte, und ihr versagten die Füße den Dienst; es war, als ob ihr Herz stillstände. Mühsam schleppte sie sich unter seinem forschenden Blick weiter, und zehn Minuten später stand das Freundestrio in eifriger Beratung beisammen. Sie konnte von ihrem Ende des Wagens aus die drei auf der Plattform stehen sehen und bekam vor Angst einen richtigen Schüttelfrost. Ihrer Meinung nach mußten sie sich sofort zusammenreimen können, weshalb sie hier war, und sie ahnte nicht, daß diese Begegnung ihnen noch viel größeren Schrecken einjagte als ihr.

Den ganzen Tag über schwebte sie in Todesangst und hielt sich krampfhaft in der Nähe von Mitreisenden, um nur keinen Augenblick allein zu sein. Weder beim ersten noch zweiten Frühstück ließen sich indes die Feinde blicken, auch bei der Hauptmahlzeit blieben sie unsichtbar. Statt beruhigend, wirkte dieses Verschwinden beängstigend unheimlich auf Marie. Immer dachte sie daran, das Zugpersonal ins Vertrauen zu ziehen, aber es ließ sich schwer voraussehen, wie weit man ihr Glauben schenken und ihr Beistand leisten würde.

Wenn diese Herren ihr aus dem Weg gingen, so lag ihr mindestens ebensoviel daran, sie zu vermeiden, und sie verbrachte den ganzen Tag in unbeschreiblicher Angst. Stunde um Stunde verging, kein Lebenszeichen von ihnen. Wieder kam die Nacht mit ihrem spukhaften Grauen, aber sie verstrich ereignislos. Erst in der zweiten Hälfte des folgenden Tages kam ihr jählings der Gedanke, die drei könnten den Zug verlassen haben, und sie allein fahre zweck- und ziellos weiter. Der Gedanke erschütterte sie derart, daß sie jetzt plötzlich den Mut fand, Erkundigungen einzuziehen, wodurch sie erfuhr, die Herren seien durch ein Telegramm nach New York zurückberufen worden. Dieses angebliche Telegramm war an der ersten Haltestelle nach ihrer Begegnung mit Engel eingetroffen! Kaum hatte sie diese Aufklärung erhalten, als Prickett vor ihr stand.

Er begrüßte sie so kühl und ruhig, als ob sie in seiner Londoner Wohnung wäre, und schien ihre Reise und diese Begegnung ganz selbstverständlich und alltäglich zu finden.

»Das war ein Mißgriff!« belehrte er sie mit ernster Höflichkeit. »Sie haben wertvolle Zeit verschwendet und die Burschen wachsam gemacht. Wenn Sie in New York geblieben wären und mir von dort telegraphiert hätten, säßen sie jetzt in der Falle. Sie haben's gut gemeint, schade, daß Sie's unrichtig angegriffen haben!«

Er machte sich unverzüglich ans Werk, den Schaden wieder gut zu machen, und ließ den Telegraphen nach allen Himmelsrichtungen spielen, doch die drei waren vorderhand spurlos verschwunden.

»Einen Trost haben wir!« bemerkte Prickett. »Ich kenne ihr Ziel und habe einen Vorsprung.«

Auf allen drei Linien nach Vancouver waren bereits Vorsichtsmaßregeln getroffen, und Prickett konnte voll Zuversicht sein.

»Und was soll ich jetzt thun?« fragte Marie.

»Nach New York fahren und Ihrem Vater Gesellschaft leisten,« entschied Prickett. »Dann verbrauchen Sie kein unnützes Geld und erschrecken Engel nicht zur unrechten Zeit.«

»Hoffentlich können Sie mir meine Unbesonnenheit verzeihen?« sagte sie zaghaft.

»Was ist da zu verzeihen? Sie haben's gut gemeint, nur hätten Sie jemand haben sollen, der praktischen Rat gibt. Ein Wort an die Polizei und Engel hätte nach fünf Minuten hinter Schloß und Riegel gesessen.«

»Ich dachte eben, einen davon zu fangen, hieße die andern warnen,« versetzte sie, sich verteidigend. »Für mich handelt's sich ja nur um meinen Vater, Herr Prickett. Ob, mit oder ohne Grund, er glaubt ans Vorhandensein dieses Schatzes. Engel glaubt gleichfalls daran, und Anise, Vogel und ich auch. Wenn er vorhanden ist, so hat mein Vater das erste und einzige Recht darauf.«

»Jawohl – wenn er vorhanden ist!«

»Er hat Furchtbares durchgemacht, alles verloren. So lang ich's hindern kann, soll er nicht auch noch um diese Hoffnung kommen.«

»Ich sage ja, daß Sie's gut gemeint hätten! Jetzt aber überlassen Sie diesen Fall Leuten, die das Handwerk kennen.«

»Herr Prickett!« erklärte sie plötzlich. »Ich will ihn nicht andern überlassen!«

Dieses Gespräch fand unterm Schutzdach eines kleinen Bahnhofgebäudes statt. Der Regen trommelte darauf, ein kalter Wind fuhr schneidend herein und die beiden gingen eifrig auf und ab, um nicht zu erstarren. Ihre letzten Worte veranlaßten Prickett, still zu stehen.

»Sie wollen ihn nicht andern überlassen?« fragte er.

»Nein, ich will Ihnen helfen, ich will das Gefühl haben, etwas zu leisten. Weil ich einmal eine Dummheit gemacht habe, steht noch lange nicht fest, daß ich nicht zu brauchen bin.«

»So? – – In erster Linie sagten Sie mir doch, daß Sie beinah der Schlag gerührt hätte beim Anblick der Halunken?«

»Jetzt fürchte ich mich nicht mehr,« versicherte sie eifrig, »Sie werden sehen, daß ich Mut habe.«

»So und weshalb? Was nimmt Ihnen die Angst?«

»Ich würde mich nie und nirgends fürchten, wenn ich wüßte ...«

Die Stimme versagte ihr.

»O bitte – was soll das heißen?«

»Herr Prickett,« hub sie entschlossen an, »ich habe das unbedingteste Vertrauen in Ihren Mut und Ihre Umsicht, und wenn ich unter Ihrem Befehl stände, würde ich vor nichts zurückscheuen. Sie könnten mich sicherlich brauchen! An Ausdauer und Wachsamkeit wird mir's niemand zuvorthun.«

»Nein, mein liebes Fräulein,« entgegnete er, »ich kann Sie gar nicht brauchen! Alle drei kennen Sie, und Ihr Anblick wäre geradezu ein Warnungssignal für die Herren.«

»Wenn das alles ist, was Sie einzuwenden haben – ich will schon sorgen, daß mich keiner erkennt.«

»Aha! Romantische Ideen! Eine Verkleidungskomödie, Fräulein Harcourt? Glauben Sie nur nicht daran! Auf der Bühne geht's ja ganz nett mit Schminke und Perücke, aber in der Nähe gelingt's nie. Es gibt ja einzelne gewitzte Leute, die es darin zur Meisterschaft bringen, aber sie sind dünn gesät. Mir ist im ganzen Leben nur ein wirklicher Künstler in diesem Fach vorgekommen, und auch den habe ich zweimal an den Augen erkannt. Nein, nein, Sie befolgen jetzt meinen Rat! Eine Verkleidung wäre noch gefährlicher als Ihr alltägliches Aussehen, womit ich nicht gesagt haben will, daß Sie alltäglich seien! Gott bewahre! Ich meine nur, wenn ein geriebener Mensch wie Engel Sie in einer Verkleidung entdeckt, so weiß er gleich, was die Uhr geschlagen hat, und die Möglichkeit eines Zufalls ist ausgeschlossen. Nein, nein, lassen Sie mich nur machen, Fräulein Harcourt!«

»Gut, Herr Prickett. Es liegt mir alles daran, Ihre gute Meinung wieder zu gewinnen.«

»So ist's recht und verständig,« sagte er mit Wärme. »Wir trennen uns also hier. Mein Zug geht in einer halben Stunde, der Ihrige nicht vor Abend – da thäten Sie besser, in einen Gasthof zu gehen. Es ist schneidend kalt.«

»Sie haben meines Vaters New Yorker Adresse?«

Prickett nickte.

»Und Sie werden uns Nachricht geben?«

»Gewiß. Sobald ich den Mann habe, telegraphiere ich. Jetzt könnten wir noch miteinander frühstücken, aber auf diesem elenden Bahnhof ist nichts zu haben – machen Sie, daß Sie unter Dach kommen.«

Sie gab ihm die Hand zum Abschied. Prickett fuhr in westlicher Richtung weiter, mehrmals unterwegs von militärisch aussehenden Herren begrüßt, die an den Zug kamen, Telegramme ablieferten oder in Empfang nahmen. Von den seltsamen Vorgängen, die sich in der ersten Nacht zu früher Morgenstunde im Damenwaschzimmer des Zuges ereignet hatten, ließ er sich nichts träumen. Eine Dame war mit einer billigen Handtasche hineingegangen und eine halbe Stunde darauf war ein schmächtiger Mulattenjunge in plumpen Stiefeln und ärmlichem Anzug, in einem grauen, billigen Ueberzieher und einem wollenen Shawl um den Hals herausgekommen. In entgegengesetzter Richtung vom Zuge trieben in einem rauschenden Bach weibliche Kleidungsstücke. Die billige Handtasche enthielt lange, dichte Strähnen schimmernden Frauenhaars. Ohne irgend jemand zu begegnen, schlüpfte der Mulattenjunge die Gänge der Schlafwagen entlang und übersprang leichtfüßig den kleinen hüpfenden Abgrund, der diese von der dritten Klasse trennte, wo er sich geräuschlos auf einer harten Rohrbank niederließ. Da und dort lehnten Schwarze in gesundem Schlaf; der Boden war schmutzig, die Luft widerlich heiß.

»Ich will alles dran setzen, Ihre gute Meinung wieder zu gewinnen, Herr Prickett,« dachte der Mulattenjunge, während der Zug pustend und rasselnd weiter dampfte.


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