David Christie Murray
Die Jagd nach Millionen
David Christie Murray

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Zwölftes Kapitel.

Prickett bekam in der That während der Ueberfahrt wenig von Marie Harcourt zu sehen. Nur zweimal traf er mit ihr zusammen, aber trotzdem beschäftigte er sich in Gedanken viel mit ihr. Sie hatte die Verkleidung der Witwentrauer abgelegt und trug einen dunklen, reisemäßigen Lodenanzug, in dem ihre schlanke, anmutige Gestalt manchen Blick fesselte. Das Zwischendeck hatte sie aufgegeben, weil trotz seiner Vorzüge für die Kasse die Einrichtungen für eine Dame gar zu ungemütlich waren. Sie reiste also zweiter Klasse, und Prickett würde den Glanz der ersten gern für ihre Gesellschaft drangegeben haben, denn das Mädchen hatte es ihm angethan.

»Das junge Ding ist waschecht,« bemerkte er im stillen. »Wenn sie mir auch ein X für ein U machen wollte, so geschah's nur dem Vater zuliebe, und so herzlich ungeschickt obendrein! Als sie mit meiner Kasse davonlief, riskierte sie das Zuchthaus, und die Menschen sind ja solche Dickköpfe, daß neunzig unter hundert sie des Diebstahls bezichtigt hätten. Die und stehlen! Dann bin ich auch ein Dieb!«

»Merkwürdig, wie zäh solch ein Frauenzimmerchen seine Ansichten festhält,« überlegte er weiter. »›Mein Vater ist der ehrenhafteste Mann unter Gottes Sonne,‹ sagte sie. Da macht er Bankerott und statt die eingebrockte Suppe auszulöffeln, geht er seinen Gläubigern durch. Aber das ist ehrenhaft, er ist ja ihr Vater! Er verkriecht sich unter falschem Namen und duldet die Herrschaft eines Gauners wie Engel. Aber das ist ehrenhaft, er ist ja ihr Vater! Er ist ein Lügner und ein Feigling – aber ehrenhaft!«

»Man sieht wohl, daß sie fein erzogen ist. Man sieht's an der ganzen Haltung, und doch ist sie gar nicht geziert. Man hört's am Sprechen, aber von überspannten Redensarten nicht die Spur! Ganz natürlich und einfach ist sie, nur gewöhnt, mit feinen Leuten umzugehen. Diese Reise nach New York, dazu gehört auch Mut! Vor Leute hinzutreten, die den Vater und sie als wohlhabend gekannt haben! Einen Bürgen suchen! O Gott, o Gott! Das Leben ist manchmal recht hart, besonders für Frauen!«

»Das arme Ding! Wenn ihre fünfhundert Pfund aufgezehrt sind, was dann?«

In dieser Weise beschäftigte sich Prickett mit ihr. Sein Beruf hatte ihn die Nachtseiten menschlicher Natur genauer kennen gelehrt als andre, aber sein gutes Herz war ebenso willig, die Lichtseiten zu begreifen.

Bei der Ankunft in New York konnte er sich ihr ein wenig nützlich machen. Ihr Gepäck bestand nur in einem kleinen, schmalen Koffer und einer Reisetasche; dafür trug er Sorge, und dann empfahl er ihr ein anständiges, billiges Haus, wo sie wohnen konnte, denn er kannte New York genau. Damit trennten sich vorläufig ihre Wege.

Der seinige führte aufs Polizeiamt, wo er Erkundigungen für seinen eigenen Zweck einziehen wollte, aber gar nichts erfuhr, doch konnte er für Harcourt bedeutend mehr thun, als er versprochen hatte.

»Ich habe den Fall nicht,« sagte Prickett, »aber falls der arme Teufel einen Bürgen findet, so bin ich nicht beauftragt, Einsprache zu erheben. Meiner Ansicht nach kann und wird der Mann sich rechtfertigen, dem wirklich Schuldigen aber bin ich auf den Fersen.«

Die Spitzen der Londoner und New Yorker Polizei haben starke Fühlung miteinander, kennen sich häufig persönlich, jedenfalls dem Namen nach. Und so war Inspektor Prickett eine wohl eingeführte Persönlichkeit, deren Wort schwer ins Gewicht fiel. Seine Papiere wurden ihm ohne Zeitverlust ausgefertigt, darunter vom Chef der Geheimpolizei ein Geleitbrief, der alle Behörden Amerikas zu seiner Verfügung stellte. Er konnte noch mit dem Nachtzug nach Montreal weiterfahren, wo bereits alles telegraphisch für ihn geebnet war.

Marie Harcourt blieb in New York und verfolgte ihr Ziel mit ernstem Bedacht. Sie fand die Bekannten des Vaters indes äußerst zugeknöpft. Sein Name war in der Presse an den Pranger gestellt worden, alle Welt wußte, daß er die Flucht ergriffen hatte. Einzelne waren zu »beschäftigt«, um ihren Besuch überhaupt anzunehmen, andre empfingen sie kalt und vorsichtig, wieder andre sagten ihr mit roher Offenheit die Meinung. Acht Tage nach ihr traf der Vater in New York ein, als Gefangener eingeliefert, und sie begab sich auf die Polizei. Ein vorläufiges Verhör wurde angestellt und die Untersuchung eingeleitet. Da erhob sich das junge Mädchen im Gerichtssaal, eine Fremde unter Fremden, mit einem Gefühl namenloser Verlassenheit.

»Darf ich Bürgschaft leisten?« fragte sie, die eigene Stimme kaum wieder erkennend.

»Es liegt kein Grund dagegen vor,« erklärte ein Polizeibeamter.

»Bürgschaft ist zulässig,« sagte der Polizeiamtmann. »Wenn eine Sicherheit von fünfhundert Dollars hinterlegt wird, kann der Angeklagte auf freien Fuß gesetzt werden.«

Die Worte fielen erquickend auf ihr Herz wie Regentropfen auf verdorrtes Erdreich! Fünfhundert Dollars! Nie hatte sie mit leichterem Herzen Geld ausgegeben. Eine Viertelstunde darauf ging sie am Arm des Vaters unter der häßlich polternden Hochbahn die Kolumbusstraße entlang und beider Herzen strömten nicht nur von Zärtlichkeit über, sondern waren sogar von einem gewissen Glücksgefühl erfüllt. Marie erzählte dem Vater gerade in erregtem Flüsterton, daß Prickett Engels Spuren verfolge, als Harcourt plötzlich stehen blieb und sie, seinem Blick folgend, auf der andern Seite der Straße den Genannten leibhaftig vor sich sah. Er ging auf der weniger verkehrsreichen Seite der unteren Stadt zu. Sein Anzug und sein Aeußeres waren wieder einmal wesentlich anders geworden, aber Vater und Tochter erkannten ihn doch auf der Stelle wie durch eine Eingebung.

»Du weißt, wo ich wohne, Vater,« sagte Marie rasch. »Geh' nach Hause – ich muß wissen, wohin er geht.«

Sie zog die Börse heraus und schob dem Vater eine Fünfzigpfundnote in die zitternde Hand.

»Geh du nur nach Hause,« wiederholte sie, einen dichten Schleier vors Gesicht ziehend, den sie gegen neugierige Blicke auf dem Polizeiamt angelegt hatte. »Ich folge ihm – mich erkennt er nicht.«

Ehe Harcourt sich von seiner Bestürzung erholt hatte, war sie davon. In dumpfem Staunen starrte er ihr nach, sah Engels Gestalt mit dem sehr bezeichnenden Gang zwischen den Pfeilern der Hochbahn bald auftauchen, bald verschwinden und dann die Straße kreuzen. Mit leichtem, raschem Schritt kam Marie schnell in seine Nähe. Die beiden Gestalten waren jetzt leicht im Auge zu behalten, denn zur Mittagszeit ebbt der Verkehr in dieser Gegend. Harcourt sah Engel in einen Laden treten und Marie vor dessen Schaufenster stehen bleiben. Die eigene Feigheit und Unentschlossenheit kam ihm derart zum Bewußtsein, daß er laut stöhnte und gute Vorsätze faßte, aber ehe er sich zu irgend einem Entschluß aufgerafft hatte, trat Engel aus dem Laden und ging mit raschem Schritt weiter, Marie hinter ihm her. Bald waren sie dem Zauderer entschwunden und er konnte sich den billigen Trost gönnen, daß es nun zu spät sei zu handeln. So ging er denn in Maries Wohnung, stellte sich der Wirtin vor, erhielt ein Zimmer angewiesen und wartete auf seine Tochter.

Sie kam lange nicht und er hatte reichlich Muße, sich in Selbstanklagen zu ergehen und seine Feigheit zu verwünschen. Als der Abend hereinbrach, stellte sich die Angst ein. Doch wurde es Mitternacht und von Marie war immer noch nichts zu sehen. Wie ein Verrückter ging er vor dem Haus auf und ab und sagte sich manch bittere Wahrheit, denn er war ja einer von den Unglücklichen, die Herz und Gewissen haben, nur keinen Mut. Sein Leben lang hatte er deshalb dumme Streiche gemacht und nun mußte sein Kind nicht nur leiden durch seine Schuld, sondern war in unmittelbarer Lebensgefahr – kannte er doch Engel hinreichend, um das Aeußerste für sie zu fürchten.

Von der Straßenecke kehrte er jetzt ins Haus zurück, wo wirklich eine Botschaft für ihn abgegeben worden war. Es war ein Stück Zeitungspapier in einem groben Briefumschlag mit dem Stempel »Gepäcklagerung« und enthielt nur die mit Bleistift hingekritzelten Worte: »Sorge dich nicht. Ich verfolge ihn. Werde morgen telegraphieren.«

Wie Harcourt nun einmal war, ließ er sich auch wirklich dadurch beruhigen. Nachdem er noch ein Gläschen Whisky zu sich genommen hatte, schlief er über dem Grübeln, was sich wohl ereignet haben könne, friedlich ein.

Was sich ereignet hatte, war eigentümlich genug, wenn auch für einen beliebigen Zuschauer scheinbar ganz harmlos. An der nächsten Ecke war Engel in einen Straßenbahnwagen gestiegen, der ihn an das entlegenste Ende des Broadway beförderte und Marie Harcourt, die dicht verschleiert mit gesenktem Haupt unbeachtet unter den zahlreichen Fahrgästen saß, desgleichen.

Engel stieg aus, sie ebenfalls! er trat in ein Speisehaus, sie auch. Engel bestellte sich ein erlesenes Gabelfrühstück, das mit Austern und Sekt begann, sie eine bescheidene Erfrischung, die sie unberührt ließ. In der Nähe der Thüre war der Schenktisch, wo hastige Männer stehend ein Glas tranken und ein belegtes Brot hinunterschlangen. Sie strömten aus und ein, Engel schien der einzige Gast zu sein, der keine Eile hatte. Endlich aber hatte er seinen Kaffee geschlürft, seine Cigarre angesteckt und die Rechnung bezahlt. Marie bezahlte auch, was sie nicht gegessen hatte, und kaum war er auf die Straße getreten, als sie schon hinter ihm stand. Er ging in zwei oder drei Läden, indes sie wartete, dann verließ er die Straße, indem er die Treppe zu einem Reisebureau hinaufstieg. Eine volle halbe Stunde hatte sie jetzt auszuharren, bis Engel wieder sichtbar wurde und in lässigem Schlenderschritt auf einen Gasthof zusteuerte. Jetzt galt es sogar, stundenlang auszuharren. Immer wieder suchte sie sich einzureden, daß sie ruhig nach Haus gehen könne, da sie ja seine Wohnung nun kenne; sie überlegte auch, ob sie den Schutzmann, der feierlich an ihr vorüberpendelte, nicht aufmerksam machen oder aufs Polizeiamt gehen und Anzeige erstatten solle. Aber so oft sie den Schutzmann anreden wollte, versagte ihr der Mut, und sich auch nur für eine kurze Weile entfernen, hieß alles aufs Spiel setzen. Der ernsthafte behelmte Diener des Gesetzes in seinem langen Rock schien sie mehrmals anreden zu wollen; halb wäre es ihr erwünscht gewesen, halb fürchtete sie sich davor. Sie begegneten einander so häufig, daß er ihr allmählich wie ein Bekannter vorkam und sie vielleicht Mut gefaßt hätte mit ihm zu sprechen, aber jetzt wurde er abgelöst und der neue war ihr fremd.

Endlich erschien Engel mit einem Neger, der sein Gepäck trug und es auf eine Droschke lud. Es war jetzt so dunkel, daß sie ohne Scheu eine zweite herbeiwinkte und dem Kutscher befahl, der seinigen zu folgen.

Beide Wagen gelangten zum Hauptbahnhof mit seinem Höllenlärm und seiner hastenden Menschenflut. In der Vorhalle traf Engel zwei Herren, die ihr wohl bekannt waren – Anise und Vogel. Sie trieb sich mit wild pochendem Herzen am Billetschalter herum, denn sie fürchtete, die verschleierte Gestalt, die ihn so unablässig verfolgte, müsse Engel endlich auffallen. Die beiden Spießgesellen traten heran und lösten Fahrkarten nach San Francisco. Engel mußte die seinige in dem Reisebureau besorgt haben, falls er überhaupt ging. Sie kannte ihn durch ihren Vater als den Mann, der sich immer eine Hinterthür offen hält und aus fünfzig Gründen scheinbar reisen will, aus fünfzig andern bleibt.

Erst im allerletzten Augenblick, als er sich schon häuslich im Wagen eingerichtet, sein Gepäck untergebracht und den Hut mit einer Reisemütze vertauscht hatte, flog sie mit dem abgezählten Geld in der Hand an den Schalter zurück.

»Nach San Francisco – ein ...«

»Höchste Zeit ... der Zug fährt eben ab.«

Er fuhr ab, doch nicht ohne Marie Harcourt, die sich eben noch hineinschwingen konnte.


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