David Christie Murray
Die Jagd nach Millionen
David Christie Murray

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Fünfzehntes Kapitel.

Wieder rollte Marie Harcourt im Auswandererwagen westwärts. Als der Zug das ebene Land verlassen hatte und sich auf die Paßhöhe von Selkirks hinaufarbeitete, kam man mitten in den Winter. Berge und Hügel waren vom Scheitel bis zum Fuß mit Schnee bedeckt, nur die mächtigen Bäume bildeten tiefgrüne Punkte in dem eintönigen Weiß, und die Bergströme führten ihre rauschenden Wasser noch ungehemmt zu Thal. Marie war weit gereist, aber sie hatte nie etwas Großartigeres gesehen als dieses gewaltige Felsengebirge, dessen schroffe Bergmassen bedrückend, beängstigend wirkten. Ruhig und unbeachtet saß sie in ihrem Eckchen und der Zug rollte weiter und weiter, als ob es in alle Ewigkeit so fortgehen sollte.

Die zwei Goldsucher von San Francisco waren wieder im selben Wagen und einer davon erkannte auch den Mulattenjungen wieder und redete ihn in seiner Weise freundlich an, erhielt aber nur ein zaghaftes Lächeln als Antwort, womit er sich gern zufrieden gab. Der Rotbärtige reiste im Salonwagen, kam aber von Zeit zu Zeit zu seinen Untergebenen herüber, um die bevorstehenden Wagnisse zu besprechen. Keinem fiel es ein, den Zweck der Reise geheimzuhalten, und mitunter beteiligten sich Mitreisende, die nur kurze Strecken zu fahren hatten, am Gespräch, und dann entstanden lange, eifrig geführte Erörterungen über die Ausführbarkeit des Unternehmens zu dieser Jahreszeit. Einer war dann immer überzeugt, daß es rein unmöglich, ein andrer, daß es Kinderspiel sei, und Marie hörte diese Streitfrage wohl ein dutzendmal abwägen. Die Belehrungen, die sie aus diesen Gesprächen zog, und die schweigende Weisheit, die ihr die schneebedeckten Bergriesen predigten, ließen ihr das Unternehmen immer abenteuerlicher, immer grauenvoller erscheinen. Alle Welt schien ja den Gedanken toll zu finden oder schüttelte wenigstens bedenklich den Kopf dazu, nur der Goldsucher, der Klondyke kannte, ließ sich in seiner Zuversicht nicht irre machen.

»Warum gehst du denn überhaupt mit,« fragte er den Genossen, »wenn du nicht glaubst, daß wir's zu stande bringen?«

»Weil der Lohn gut ist,« gab dieser zur Antwort. »Wenn's nicht geht, wird man's schon merken und umkehren.«

»So, wenn wir aber stecken bleiben im Eis?« fragte der andre, um ihn zu verhöhnen.

»Nun, dann bleiben wir halt stecken!«

So redete man hin und her, und dabei wurde der schweigsame Zuhörer immer ausschließlicher von einem Gedanken beherrscht. Angenommen, sie war auf der richtigen Fährte, und angenommen, sie fand die Vermuteten und Gesuchten – wie war's nun, wenn diese, sobald die Hilfskräfte zu ihnen gestoßen waren, unverzüglich von der Bahnlinie ab und in die Wildnis hinein ziehen sollten? Was dann beginnen? Prickett konnte, selbst wenn er ihrem Ruf sofort folgen würde, nicht vor einigen Tagen zur Stelle sein, und wie sollte sie im pfadlosen Eis ihre Spuren weiter verfolgen? Und selbst, wenn er da wäre, wenn er sie einholte, was würde er ausrichten auf einem Gebiet, wo Gewalt die einzige Obrigkeit ist?

Marie war sehr heruntergekommen durch das ewige Fahren auf hartem Sitz, die ruhelosen Nächte in unbequemer, verkrampfter Stellung, die schlechte, ungewohnte Kost, die sie sich nicht besser zu verschaffen wagte, aus Furcht vor Entdeckung, so daß sie allmählich aus Mangel an Nahrung ganz elend wurde. Aber trotzdem wuchs zu ihrer eigenen Ueberraschung die zähe Entschlossenheit, womit sie ihr Ziel verfolgte. Sie wollte ausharren bis zum Ende, mochte dies Ende beschaffen sein, wie es wollte; ihr Leben wollte sie aufs Spiel setzen und eher drangeben, als daß Engel abermals über den Vater triumphieren sollte. Das Maß des Unrechts, das sein Gegner verübt hatte, war übervoll.

Endlich, endlich war die Reise beendigt, und mit wild pochendem Herzen sah sie Engel, Anise und Vogel, alle drei, auf dem Bahnsteig stehen. Soweit waren ihre Kühnheit und ihre Ausdauer also belohnt.

Der Ankömmlinge auf diesem weltentlegenen Bahnhof waren es nicht allzu viele, und Engel ging sofort auf den Anführer der kleinen Schar zu.

»Ich habe wohl das Vergnügen, Kapitän Jones zu begrüßen?«

»Jones ist mein Name,« erwiderte der Angeredete unumwunden. »Mit dem Titel können Sie's nach Belieben halten; ich nehme ihn nicht in Anspruch.«

»Ich bin Baron Goldstein,« sagte Engel, ihm die Hand schüttelnd. »Sie haben Telegramme von mir erhalten und beantwortet.«

»Gewiß, Herr Baron. Ihre Anweisungen sind pünktlich ausgeführt worden – ich hoffe, Sie werden zufrieden sein.«

»Darf ich Sie mit den Herren bekannt machen, die an unserm Ausflug teilnehmen?« Anise wurde als Major Jackson, Vogel als Herr Spofforth vorgestellt.

Noch wußte der Mulattenjunge nicht genug. Die Gefahr einer Entdeckung war übrigens sehr gering, denn Marie hatte der Kälte wegen den wollenen Shawl bis über die Nase hinaufgezogen, und der sackartige Ueberzieher ließ keine weibliche Gestalt darunter vermuten. So blieb sie dicht bei der Gruppe stehen.

»Und wann werden wir aufbrechen können, Kapitän?« fragte Engel jetzt.

»Das läßt sich nicht augenblicklich bestimmen, Herr Baron,« erwiderte Jones. »Jedenfalls nicht vor morgen oder übermorgen, vielleicht auch erst später, denn sehen Sie ...«

Er fing jetzt an, die einzelnen Maßregeln aufzuzählen, die man noch zu treffen hatte, und die drei Herren hörten ihm mit gespannter Aufmerksamkeit und mit Verständnis zu.

Marie wußte jetzt, was sie zu wissen brauchte, nahm ihre Reisetasche auf und verließ das Bahnhofgebäude, um sich nach einem Obdach umzusehen. Sie fand auch bald ein entsprechendes Wirtshaus, dessen Schenkstube mit ländlicher Bevölkerung angefüllt war und wo ein gutmütig aussehendes Dienstmädchen angewiesen wurde, ihr das verlangte Zimmer zu zeigen, freilich nicht, ehe sie sich über ihre Zahlungsfähigkeit ausgewiesen hatte. Es war in der Stadt nicht ganz so kalt wie zwischen den Bergen, doch war die Luft feucht und winterlich und die Kälte doppelt empfindlich nach dem überheizten Eisenbahnwagen. Marie war zu Tode erschöpft und schwindelig, so daß sie nur mit Mühe die Treppe hinaufkam.

»Das wird's wohl thun,« sagte die Magd, die Thür eines ärmlichen Giebelstübchens aufreißend. »So einer wie Sie kann sich's nicht leisten, heikel zu sein.«

»Jawohl, es thut's,« erwiderte Marie, tief aufatmend vor Erschöpfung. »Es ist ganz einerlei – kann ich eine Tasse Thee haben?«

»Thä?« versetzte das Mädchen. »Thä – sagen Sie?«

Die Bestellung kam ihr offenbar höchst befremdlich vor, aber Marie war für den Augenblick unfähig, sich in acht zu nehmen. »Thä ist schon da, wenn Sie zahlen können.«

»Dann bringen Sie mir ihn schnell,« sagte Marie, auf einen Stuhl sinkend. »Mir ist nicht wohl – wegen des Geldes brauchen Sie keine Angst zu haben.«

Das Mädchen sah den wunderlichen Mulattenjungen, der »Thä« haben wollte, neugierig an, ging aber dann schweigend hinaus. Nach etwa fünf Minuten kam sie mit einer dampfenden Schale ohne Untertasse.

»Zucker und Milch habe ich selbst hineingethan,« sagte sie, indem sie die Schale auf ein wackeliges Tischchen stellte. »Macht zehn Cent, wenn ich bitten darf.«

Marie richtete sich mit Anstrengung auf und legte einen Dollarschein auf das Tischchen.

»Hm ...« machte das Mädchen und bemerkte dann: »Winzige Hände für so einen Buben! Viel geschafft haben die nicht.«

Marie sah unsicher, geistesabwesend auf, ihr tanzte alles vor den Augen, ihr Kopf sank zurück und sie verlor das Bewußtsein. Es dauerte nur eine Minute, und als sie wieder zu sich kam, saß sie noch auf ihrem Stuhl, aber der wollene Shawl und der steife Hemdkragen waren ihr vom Hals gerissen worden und die Magd hielt sie im Arm und drückte ihr Gesicht dicht an das ihrige. Sie sah dabei so verdutzt und so neugierig drein, daß Marie unter andern Umständen hätte lachen müssen. Sobald sie sah, daß die Ohnmachtsanwandlung vorüber war, richtete sie sich auf und stand nun, Mund und Nase aufsperrend, vor dem Gast.

»Sie ... Sie sind ja gar kein Mannsbild nicht ... Sie... Sie sind ja nicht einmal ein Nigger ... Sie sind ja ein Fräulein!« stieß sie in Absätzen heraus, um dann plötzlich in ganz anderm Ton fortzufahren: »Sie, zu was verkleiden Sie sich denn, Sie? Zu nichts Anständigem, will ich wetten! Wenn Sie mir's nicht gleich sagen, hol' ich die Polizei, daß Sie's wissen!«

»Still!« rief Marie, wieder im Vollbesitz ihrer Kraft. »Still! Halten Sie reinen Mund – es soll Sie nicht gereuen!«

»Papperlapapp! Wenn Sie eine anständige Person sind, lass ich Sie in Frieden, wenn's aber stinkt in der Fechtschule, so werf' ich Sie zum Haus hinaus, und wenn Sie mir alles Gold geben, das auf der Bank von Irland liegt!«

»Ich thue kein Unrecht,« versicherte Marie, »wahrhaftig nicht!«

»Das kann sein, wie's will. Wie heißen Sie? Was haben Sie hier zu schaffen?«

»Meinen Namen kann ich Ihnen wohl sagen, was ich hier zu schaffen habe, aber nicht. Ich heiße Harcourt und bin so weit entfernt, Unrecht zu thun, daß ich im Gegenteil Tausende und Tausende von Meilen hergereist bin, um ein furchtbares Unrecht, das andre thun wollen, zu verhindern.«

»Schnickschnack! Wenn man das will, holt man die Polizei!« erklärte die Irländerin.

»Und ich helfe ja der Polizei!« rief Marie ungestüm, erschrak aber, soviel verraten zu haben, und setzte hastig hinzu: »Sie scheinen ein braves, anständiges Mädchen zu sein, und wenn Sie mir heilig versprechen wollten, mich nicht zu verraten, würde ich Ihnen einen Auftrag geben, der Ihnen zum Teil zeigen wird, was ich vorhabe. – Darf ich Ihnen trauen?«

»Hm... ich mein', Sie sollten diesen Stiefel lieber am andern Fuß anprobieren! Es handelt sich drum, ob ich Ihnen trauen kann?«

»Ist hier ein Telegraphenamt?« fragte Marie.

»Versteht sich.«

»Ich hätte gleich bei meiner Ankunft telegraphieren sollen, aber ich war zu elend und müde und – ängstlich. Wollen Sie mir's besorgen?«

»Warum sollt' ich?«

»Es ist ein Telegramm an die Polizei in Vancouver, der ich anzeigen will, daß ich hier bin. Ich hab's versprochen.«

»Sie meinen wohl, die Polizei sei um Sie besorgt?« versetzte das Mädchen mit höhnischem Grinsen. »Das glaub' ich schier selber, meiner Seel!«

»Gut,« sagte Marie mit verzweifeltem Entschluß. »Schicken Sie nach der Polizei, aber ruhig, daß niemand davon erfährt! Vor der Polizei habe ich mich nicht zu fürchten, aber niemand außer ihr darf wissen, daß ich hier bin. Wollen Sie selbst hingehen und einen Brief von mir abgeben?«

»Und Sie da lassen? Ja, wenn ein Schloß an der Thür wäre und ich den Schlüssel im Sack haben könnte – anders nicht!«

»Was kann ich thun?« rief Marie außer sich. »Halt, ja – Sie können hingehen und mich ruhig hier lassen – wenn Sie meine Stiefel mitnehmen! Weit werde ich bei diesem Wetter in Strümpfen nicht kommen – ich wüßte auch gar nicht, wohin ich gehen sollte! Vor morgen geht ja gar kein Zug – überhaupt will ich nicht durchgehen, und wenn ich wollte, wie sollte ich's angreifen? Wollen Sie also einen Brief von mir auf die Polizei tragen und keinem Menschen etwas davon sagen?«

»Hm ... Ja, ich will den Brief hintragen, aber erst die Stiefel herunter, bitt' ich mir aus!«

Marie entledigte sich der blöckischen Schuhe, die das Mädchen gleich in die Hand nahm.

»Können Sie mir Schreibmaterialien verschaffen?«

»Kann ich!« brummte sie, mit den Stiefeln zur Thür hinausgehend.

In ihrer Abwesenheit trank Marie den Thee. Er war halb kalt geworden, aber stark und bitter und gewährte doch einige Belebung. Das Mädchen kam richtig mit einem beschmutzten, zerknillten Briefbogen und Feder und Tinte zurück.

»Ein Couvert find' ich nicht,« sagte sie, »da müßt' ich erst eins kaufen, aber da ist eine Oblate, die thut's wohl auch?«

»Gewiß!« sagte Marie, sich gleich ans Schreiben machend. Sie schrieb:

»Inspektor Prickett von der englischen Polizei ist in Vancouver, wo er drei Männer erwartet, für die er einen Haftbefehl in Händen hat. Diese Männer sind hier in Edmonton. Ich habe mit Inspektor Prickett verabredet, ihm deren Anwesenheit durch die Worte: ›Glücklich angekommen. Harcourt,‹ anzuzeigen. Ich übersende durch die Ueberbringerin zehn Dollars und bitte, das Telegramm sofort abgehen zu lassen. Der Behörde gegenüber bin ich zu jeder Auskunft bereit, von höchster Wichtigkeit aber ist, daß das Geheimnis meiner Anwesenheit hier streng gewahrt bleibt, bis die betreffende Verhaftung erfolgt sein wird.

Marie Harcourt.«

Während des Schreibens wäre sie beinahe wieder in eine Schwäche verfallen. Der Kampf mit der Widerborstigkeit des Dienstmädchens hatte sie erregt und über ihren Zustand getäuscht; jetzt ward sie sich der äußersten Erschöpfung wieder bewußt.

»Tragen Sie das auf die Polizei!« sagte sie mit schwacher Stimme. »Sie dürfen es lesen, Wort für Wort, aber – o, geloben Sie mir, es niemand sonst zu zeigen, mit niemand darüber zu reden! Ich habe so viel ausgestanden – alles wäre dann vergebens – o, schwören Sie mir!«

»Das kann ich! Bei der heiligen Mutter Gottes will ich schwören, daß niemand als die Polizei ein Sterbenswörtchen davon erfahren soll.«

»Danke, danke!« hauchte Marie und fiel in tiefer Ohnmacht von ihrem Stuhl herunter.


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