David Christie Murray
Die Jagd nach Millionen
David Christie Murray

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.

Der Mann, der gefesselt in der Giebelstube der Gowerstraße lag, hatte ein bewegtes, an Abenteuern reiches Leben hinter sich, aber die Abenteuer von zwanzig abenteuerlichen Jahren reichten nicht heran an das, was er in der Dunkelheit dieser engen Stube in einer einzigen Stunde durchlebte. Durst, Hunger, Einsamkeit und der Schlag auf den Kopf verursachten ein heftiges Delirium. Einen märchenhaften vergrabenen Schatz suchend, durchzog er unermeßliche Steppen und wurde fast rasend über den Führer, der darauf beharrte, eine Brille zu tragen, die an Stelle der Gläser undurchsichtige runde Silberscheiben hatte, weshalb er natürlich nichts sehen konnte und immerzu den Weg verlor. Und während er durch wüste Steppen wanderte, kam er zeitweise immer wieder nach London, was doch entschieden abgeschmackt war. Ein berüchtigter Falschmünzer, den er jahrelang verfolgt hatte, saß auf der Richterbank, verhörte Prickett, wollte ihn aber nie ausreden lassen, und während der Verhandlung drangen Dutzende von Gaunern in den Saal und stahlen zwei runde Silbermünzen, die als schweigender Beweis für irgend eine unerklärliche Thatsache auf dem Tisch vor den Richtern lagen. Das Sonderbarste aber war, daß diese Münzen gestohlen und wieder gestohlen wurden und doch immer noch dalagen. Ein wahrer Hexensabbat von Verhaftungen und Fluchtversuchen spielte sich vor ihm ab, Streifzüge auf Leute, die unerlaubte Freuden suchten und sich scheu und unterwürfig fangen ließen, Fahndung auf verzweifelte Verbrecher, die sich für ihr Leben und ihre Freiheit zur Wehr setzten, verrückte Reisen, wo er bald in der Einöde, bald in einer wohlbekannten Stadt des Auslands stand, sämtliche Vergehen wider das Strafgesetzbuch, die sich zu gleicher Zeit abspielten und deren Ziel und Zweck unabänderlich zwei runde Silberstücke waren. Dann – und das war gerade so unerklärlich wie das Uebrige – erkannte er wieder das Zimmer, worin er lag, und sah einen Mann eintreten. Er war ihm gänzlich fremd und sprach auch kein Wort, aber er beugte sich über den Fiebernden, hob mit lächerlicher Leichtigkeit ein schweres Gewicht von dessen Brust, rollte ihn aufs Gesicht und nahm irgend etwas mit den starren krampfigen Händen auf seinem Rücken vor. Der Fremde gab ihm auch etwas zu trinken, nur ganz langsam, löffelweise. Dann war er verschwunden und Prickett brauchte jetzt weder durch die Wüste zu wandern, noch überhaupt zu träumen, es war, als ob er von einem hohen Turm in die Tiefe gestürzt wäre in ein Luftbett hinein, wo er alles vergaß.

In pechschwarzer Dunkelheit erwachte er, wie lang oder wie kurz nach diesem letzten Traumgesicht, das wußte er nicht, auch hatte er anfangs nicht die Kraft, sich darüber zu besinnen. Allmählich stellte sich die Erinnerung ein und die Frage, wo er eigentlich sei. Er stöhnte laut und fühlte sich seltsam schwach und leicht, bis er sich zu bewegen versuchte und wieder sein Bleigewicht empfand.

Eine Uhr schlug die Viertel, alle nacheinander, und dann die Stunde – drei Uhr. Es war dieselbe Uhr, deren schleppenden Gang er in letzter Nacht verfolgt hatte. Jetzt fing sein Gehirn wieder zu arbeiten an, und zwar energisch. Er befand sich noch in seinem Gefängnis, aber seine Glieder waren nicht mehr gefesselt, und er konnte sich frei bewegen, wenn auch mit Schwierigkeit. Mühsam arbeitete er sich in sitzende Stellung und griff unwillkürlich nach der Westentasche, wo er gewöhnlich sein Feuerzeug trug – es war da. Jetzt ließ er die Beine vom Bett herabhängen, da erfaßte ihn ein Schwindel, daß er sich mit beiden Händen an die Betttücher anklammern mußte und sich vorkam, als ob er im kleinen Boot auf hoher See geschaukelt würde. Nun war's, als ob ihn eine Strömung ergriffen hätte, die ihn rasch dahintrieb, hob und senkte. Der Anfall ging vorüber und er tastete auf dem Bett umher nach der Streichholzbüchse, die ihm entfallen war.

Schließlich fand er sie auch und es gelang ihm mühsam, ein Streichholz anzuzünden. Das flackernde Lichtchen zeigte ihm den wohlbekannten Raum, enthüllte ihm aber auch den merkwürdigen Umstand, daß dessen Thür offen stand.

Pricketts geschwächtes und erregtes Gehirn spiegelte ihm darin eine neue Gefahr vor. All sein Mut war dahin – hinter der offenen Thüre lauerte ein Feind mit Dolch oder Knüttel, der auf ihn losfahren würde, sobald er sich hinauswagte. Die Treppen waren abgebrochen worden, er mußte beim ersten Schritt unfehlbar in bodenlose Tiefen stürzen – wessen man sich auch von einem heimtückischen Feind versehen kann, stand leibhaftig vor ihm.

Das Zündholz verbrannte ihm die Finger und er warf es weg. Jetzt drang die Dunkelheit mit neuem Grausen auf ihn ein, aber angeborener und anerzogener Mut rührte sich und verscheuchte die Gespenster. Eine Vorstellung drängte sich ihm auf – nach der geöffneten Thür hinstarrend, hatte sein Auge unbewußt das Bild eines Leuchters mit Kerze in sich aufgenommen, der auf einem Tischchen neben dem Bett stand. Fast eine Minute verstrich, bis er sich aufraffen konnte, die Hand danach auszustrecken – es war kein Trugbild gewesen. Jetzt steckte er die Kerze an: jede Bewegung kostete Schmerzen und die Hand zu heben einen Kraftaufwand, als ob er zentnerschwere Hanteln gehoben hätte. Er sah sich um und entdeckte auf einem Tisch am Fenster seinen Hut, er griff in seine Taschen und fand Uhr, Börse, Brieftasche. Das war im Grunde selbstverständlich, denn um einen Raubmord hatte sich's ja nicht gehandelt.

Mit übermenschlicher Anstrengung schwankte Prickett auf den Tisch zu und faßte seinen Hut. Er war auf der Rückseite nahe am Rand scharf eingeknickt, und Prickett begrüßte ihn als Lebensretter, denn der ganzen Wucht des Schlages hätte sein Schädel sicher nicht standgehalten. Er stülpte ihn auf, so gut es eben mit der Geschwulst am Hinterkopf gehen wollte, und schleppte sich, den Leuchter in der einen, mit der andern Hand an jedem Möbelstück Halt suchend, zur Thüre hinaus. Jetzt stand er lauschend still – nichts rührte sich. Ein inneres Gefühl sagte ihm, das Haus müsse leer sein, aber seine Phantasie gaukelte ihm immer wieder im Hinterhalt liegende Feinde vor. Unter großen Schmerzen stieg er langsam Treppe um Treppe herab und erreichte endlich die Diele. Alle Zimmerthüren im ganzen Haus standen offen, die Hausthüre war nur ins Schloß gedrückt.

Im nächsten Augenblick stand Prickett, immer noch die Kerze in der Hand, auf der Straße; ein Windstoß hatte die Thüre in seinem Rücken krachend zugeworfen. Trotzdem es noch früh im Jahr war, lag ein leichter Schnee, der, dem Schmelzen nahe, graue Flecken bildete. Prickett hielt sich an dem Gitterwerk der Hausthüre fest und starrte vor sich hin; die flackernde Kerze übergoß ihn und die Treppenstufen mit Stearintropfen.

»Hallo!« rief eine befehlende Stimme. »Was ist denn los?«

Ein Schutzmann stand wie aus der Erde gewachsen neben ihm.

»Großer Gott! Herr Prickett!« rief der Mann.

Der Porzellanleuchter zerschellte klirrend auf dem Fußsteig und Prickett sank dem Polizisten geradeswegs in die Arme. Das Nächste, was ihm zum Bewußtsein kam, war, daß er in einer Droschke saß und dann in ein Zimmer getragen wurde, das ihm bekannt war – es entpuppte sich allmählich als das des Polizeiinspektors in der Bogenstraße. Er lag in einem Lehnstuhl und wurde von jemand gestützt, während ein andrer jemand die Geschwulst an seinem Kopf mit einem warmen Schwamm behandelte.

»Er kommt zu sich,« bemerkte jemand, und der hinter ihm Stehende trat vor.

Es war der Stationswundarzt. Prickett ward eines Branntweingeschmacks auf seiner Zunge inne und sah einen dritten Mann mit einem Glas in der Hand stehen, das sofort an seinen Mund gehalten wurde, und das er austrank.

»Das thut wohl?« fragte der, der zuerst gesprochen hatte.

Prickett wollte nicken, that aber zu seinem eigenen Erstaunen nichts dergleichen, sondern schloß die Augen.

»Weißt du denn auch, Alter, wie lange du fort warst?« fragte der Kamerad herzlich.

»Nein,« erwiderte Prickett und wunderte sich, die eigene Stimme zu hören.

»Lassen Sie ihn jetzt in Ruhe mit Fragen,« befahl der Wundarzt. »Der Mann soll sich nicht besinnen.«

Der Branntwein stieg Prickett wohlthuend zu Kopf und ein paar Thränen rollten über seine Wangen. Irgend jemand oder irgend etwas that ihm furchtbar leid, aber ehe er sich darauf besinnen konnte, wer oder was es war, schlief er ein.

Als er dann wieder erwacht war und so viel Nahrung zu sich genommen hatte, als der Arzt für gut hielt, war er wieder so ziemlich er selbst. Es war die Rede davon, ihn ins Spital zu bringen, aber Prickett bestand darauf, daß man ihn in seine Wohnung bringe, und nach einer zweiten Portion Kraftbrühe, dieses Mal mit Ei, willfahrte man ihm. Die getreue Frau Perks empfing ihn mit Thränen und Ausrufungen und Marie Harcourt war auch da. Sie zog ihm sogar die Stiefel aus und streifte Pantoffeln an seine Füße, sobald er auf dem Sofa in seiner Stube lag. Merkwürdig oder verwunderlich fand Prickett vorderhand nichts, dazu reichte die Kraft nicht aus.

Der treue alte Kollege kam mehrmals am Tage, um nach ihm zu fragen, aber erst am dritten Tage wurde ihm gestattet, länger als ein bis zwei Minuten bei dem Kranken zu bleiben, und auch dann hatte er noch strengen Befehl, aufregende Gespräche zu vermeiden. Schließlich aber durfte er reden.

»Du bist jetzt doch wieder auf dem Damm, Joe, nicht?« begann er, um auf Pricketts kräftige Bejahung fortzufahren: »Was ich dir nämlich zu sagen habe, wird dir schon einen Puff geben. Meinst du, daß du einen aushalten kannst?«

»Ich bin so gesund wie der Fisch im Wasser,« versicherte Prickett, obwohl es nicht ganz überzeugend klang, »schieß' nur los! Ich kann schon einen Puff vertragen.«

»Allerdings! Das hast du bewiesen!« meinte der Freund, indem er eine Brieftasche herauszog und ihm ein Blatt Papier hinhielt. »Ist das deine Handschrift?«

Prickett nahm das Briefblatt gelassen zur Hand, kaum aber hatte er die ersten Worte gelesen, als er zusammenschreckte und, hastig den Bogen wendend, nach der Unterschrift sah. Dann drehte er das Blatt wieder und las die Worte von A bis Z.

»Du hast das nicht geschrieben?« fragte der andre.

»Natürlich nicht,« versetzte Prickett. »Du wirst mir doch nicht sagen wollen, daß du danach gehandelt hast?«

»Doch. Bis du vermißt wurdest, hatte ich nicht den geringsten Zweifel an der Echtheit.«

Der Brief lautete:

»Lieber Sam!

Ich sagte Dir, daß mir der arme Teufel, der Harcourt, der sich gestern gestellt hat, leid thue. Sei so gut und schicke mir die zwei Münzen, die ich Dir gab – ich hoffe, ihm nützlich sein zu können. Bist Du am Freitag in F. und E.?

Dein

Joseph Prickett.«

»Du siehst ja selbst, daß es genau aussieht wie deine Schrift,« bemerkte der Kollege. »Als du mir die Dinger übergabst, sagtest du, daß du sie vielleicht bald wieder brauchen werdest, und ich konnte doch nicht ahnen, daß irgend eine Menschenseele außer du darum wüßte.«

»Das habe ich auch nicht geahnt!« bemerkte Prickett.

»Erst als du als vermißt gemeldet wurdest, und Frau Harcourt angab, es könne ein Verbrechen vorliegen, wurde ich bedenklich.«

»Frau Harcourt gab das an?«

»Ja, sie sagte uns, du seiest seit drei Tagen von Hause weg und sie fürchte, daß diese Münzengeschichte dahinter stecke. Gerade am Tag zuvor hatte ich die Dinger aus der Hand gegeben! Daß mir's furchtbar leid thut, brauche ich ja kaum zu sagen! Einen Vorwurf aber wirst du mir angesichts dieses Zettels nicht daraus machen können, Prickett, oder?«

»Nein,« versetzte Prickett, »dich trifft kein Vorwurf, Alter. Ich weiß so ziemlich, welchen Weg diese beiden Münzen eingeschlagen haben, und werde ihnen nachsetzen – und wenn's bis ans Ende der Welt geht, ich werde sie einholen.«


 << zurück weiter >>