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Peter: Lieber Vater, sage uns geschwind, was es nun wieder mit Robinson gibt. Es ist ja wirklich schrecklich, daß er uns auch ganz zuletzt noch wieder Angst machen muß.
Johannes: Wenn er bloß nicht wieder einen Schiffbruch erlebt und schließlich doch noch ertrinkt, bevor er seine Eltern wiedergesehen hat.
Vater: Nein, es war bei weitem nicht etwas so Schlimmes, überhaupt nichts Gefährliches für Robinson, was sich jetzt ereignete. Nur eine Verzögerung der Heimkunft trat ein, weil mehrere Kessel des »Helmholtz« infolge der allzu scharfen Beanspruchung bei der Fahrt zu der brennenden »Lisboa« schadhaft geworden waren. Der Forschungsdampfer war ja Jahre hindurch von der Heimat entfernt gewesen, und die lange nicht ausgebesserte Kesselanlage hatte jener übertriebenen Beanspruchung nicht Widerstand zu leisten vermocht. Der Kapitän mußte unserem Freund erklären, daß er gezwungen wäre, Southampton an der Südküste von England als Nothafen anzulaufen. Zwei bis drei Wochen würde der »Helmholtz« dort liegen bleiben müssen.
Das war nun keine geringe Enttäuschung für Robinson, der der Abenteuer nun wahrlich schon genug hatte und nach neuen Wechselfällen nicht gierig war. Er klagte Freitag sein Leid; aber dieser hatte auch keinen Trost bereit, da es ihm natürlich ganz unmöglich war, England und Deutschland, Southampton und Hamburg auseinander zu halten. Doch von anderer Seite kam unserem Robinson Hilfe. Der Forscher, der die ganze Zeit über lebhaftes Gefallen an Robinsons ernstem Wesen und eindringlichem Lerneifer gefunden hatte, versprach ihm, daß er alles tun wolle, um ihm möglichst 332 rasche Überfahrt von Southampton aus zu sichern. Und er hielt sein Wort. Kaum waren sie in dem englischen Hafen zu Anker gegangen, da begab sich der Forscher in die Stadt und suchte die Vertreter der beiden großen deutschen Schiffsgesellschaften »Norddeutscher Lloyd« und »Hamburg-Amerika-Linie« auf, deren Schiffe ja so häufig auf der Rückkehr von Amerika zwischen Southampton und Hamburg laufen. Er schilderte die seltsame Lage unseres Freundes, den eigenartigen Zustand, in dem er ihn auf seiner Insel gefunden, und daß er von dort wohl viele Erfahrungen und Kenntnisse, aber kein Geld heimgebracht habe. Es fiel ihm nicht schwer, für Robinson als einen Schiffbrüchigen, der ein Jahrzehnt auf die Heimkunft hatte warten müssen, und für seinen Freitag freie Überfahrt auf dem nächsten fälligen Schiff zu erwirken. Es gehörte der Hamburg-Amerika-Linie, und die Bekanntschaft mit diesem Fahrzeug sollte für Robinson das letzte Abenteuer auf dieser Reise sein, aber gewiß nicht das eindruckloseste, das er erlebte.
Schon am folgenden Tag stand er mit Freitag auf dem Deck des kleinen Dampfers, der das Anbooten zu dem Ozeanfahrer nach dessen Ankunft besorgen sollte. Die funkentelegraphische Meldung, daß das Schiff die Needles oder Nadeln, eine Reihe spitzer Felsklippen vor der Insel Wight, passiert hatte, lag bereits vor, jeden Augenblick konnte es im Hafenbezirk sichtbar werden. Ungeduldig gingen Robinson und Freitag auf dem schmalen Deck hin und her. Sollte doch nun bald der hoffentlich letzte Abschnitt ihrer großen Reise beginnen. Jetzt sah man Masten und dicke Schornsteine sich über die Horizontlinie erheben. Der Ozeanfahrer kam heran. Es war der »Imperator«, das größte Schiff der Welt.
Peter: Donnerwetter, hat der ein Glück, daß er mit dem »Imperator« nach Hause fahren kann!
Vater: Als der Koloß näher herangekommen und von der höchsten Mastspitze bis zur Wasserlinie sichtbar war, konnte Robinson einen Schrei der Überraschung nicht unterdrücken. Er preßte Freitags Arm und sprach zu diesem: »Sieh, sieh, was in zehn Jahren vollbracht worden ist. Als ich ausfuhr, gab es auch bereits große Schiffe in Hamburg. Aber was bedeuten sie alle gegen diesen hochgetürmten Riesen, diesen 333 schwimmenden Prachtbau. Gewiß könnte man in dem Bauch dieses Ungeheuers viele Dutzend solcher Segelschiffe unterbringen, wie das eins gewesen, auf dem ich bei unserer Insel Schiffbruch erlitt.« Freitag aber teilte Robinsons Begeisterung nicht. Für ihn war schon jeder bescheidene Frachtdampfer eine so erstaunliche Erscheinung, daß er keinen Unterschied zu machen vermochte. Wie man ja denn auf Bewunderung für besonders großartige Leistungen immer mehr bei den Verständigen und Sachkennern rechnen kann als bei Menschen mit engem Gesichtskreis, die stets fürchten, durch den Ausdruck des Erstaunens ihre Dummheit und Unerfahrenheit allzu deutlich zu zeigen.
Als sie nun an den »Imperator« herangefahren waren und mit ihrem kleinen Dampfer im Schatten des Riesen lagen, da erkannte Robinson, daß er dessen wirkliche Größe immer noch unterschätzt hatte. Ein Tor hatte sich inmitten des Rumpfs geöffnet, dessen Flügel zunächst nicht größer aussahen als die Fenster einer Hütte. Erst als sie hindurchschritten, wurden die wirklichen Abmessungen dieses Eingangs deutlich, die denen eines Kirchentors keineswegs nachstehen. Die neuen Fahrgäste befanden sich jetzt im Haupttreppenhaus. Die Schiffskapelle spielte zur Begrüßung freundliche Weisen, eine sehr große Zahl der schon seit der Abfahrt von New York an Bord Befindlichen hatte sich eingefunden, um die neu Ankommenden zu beschauen. Es herrschte ein Getümmel wie auf dem Marktplatz einer Stadt bei der Sonntagsmusik.
Robinson war jetzt nicht weniger verwirrt als Freitag. Auch er glaubte sich in ein Märchenreich versetzt. Mit grenzenlosem Staunen sah er die breiten Treppen sich durch sechs Stockwerke nach oben winden. Er bemerkte, wie zwei Fahrstühle unaufhörlich hinauffuhren und wieder herabkamen, um neue Gäste aufzunehmen. Der Obersteward stand wie ein König hinter der Schranke seines großen Büros, um das man sich drängte. Das Heer der Schiffskellner führte einen Trupp der Gäste nach dem anderen in zahllose Gänge davon. Robinson wußte nicht, wohin er sich wenden sollte, bis man ihn und Freitag zu der ihnen zugewiesenen Kabine führte.
Neues, grenzenloses Erstaunen! Die beiden standen, als die Tür sich geschlossen hatte und sie allein waren, stumm und 334 still. Ein so prächtiges Zimmer hatte Robinson in seinem ganzen Leben noch nicht geschaut. Er erinnerte sich der Hängematte, in der er während all der Wochen seiner Ausreise nach Australien geschlafen hatte. Hier standen zwei herrliche, breite Betten, ein Sofa, Tische und Stühle aus echten Hölzern. Die Wände waren mit anmutigen Stofftapeten bekleidet. Ein mächtiger Waschtisch aus weißem Marmor leuchtete in der Ecke. Eine schmale Tür führte zu einem Nebenraum, der eine Badewanne und allerhand blankes, schimmerndes Gerät barg. Überall sah man blinkende Hähne, Knöpfe und Hebelchen, deren Bedeutung unserem Robinson erst später klar wurde. Wie es möglich war, daß in den Waschtisch und die Wanne sofort kaltes und sogar auch heißes Wasser floß, wenn man die Hähne drehte, das konnte Freitag durchaus nicht begreifen. Hätte sein Herr nicht immer wieder darauf hingewiesen, daß es wirklich keine Zauberei gäbe, der Malaie hätte geglaubt, daß nur derartige Kräfte solches zu schaffen vermöchten.
Der Kapitän, auf den besonderen Gast aufmerksam gemacht, schickte einen Führer, der Robinson nun durch alle Schiffsräume geleitete. Vermögen die Einrichtungen des »Imperators« bereits jeden in Erstaunen zu versetzen, der im Kreis der Kultur aufgewachsen ist und die Entwicklung des Schiffbaus allmählich sich vollziehen gesehen hat, so mußte das, was er jetzt sah, auf unseren Freund geradezu betäubend wirken. Da waren die Luxuszimmer, welche die Pracht der eigenen Kabine noch bei weitem übertrafen, mit ihren seidenbezogenen Möbeln, den herrlich ausgestatteten Salons und der Veranda, die sich frei auf das Meer hinauf öffnet. Sie kamen in das Gesellschaftszimmer, wo prächtige Gemälde von den Wänden grüßten, Dutzende hoher Sessel vor marmornen Tischen zum Ausruhen einluden. Sie sahen den Speisesaal mit der rund umlaufenden Galerie, den Wintergarten, in dem Pflanzen aller Art grünten und blühten, das Hauptrestaurant mit der gläsernen Kuppel, durch welche das Sonnenlicht blendend auf die schimmernden Tischausstattungen fiel.
Und dann, als sie mit einem der Fahrstühle vier Stockwerke tief hinabgefahren waren, enthüllte sich vor Robinsons Augen das Wunder der Wunder. Er sah das Meer im Schiff, 335 ein weit sich dehnendes Becken angefüllt mit grünlich leuchtendem Seewasser, in dem sich eine Schar von Schwimmenden lustig tummelte. Und dann wieder droben: das Wandeldeck! Diese wunderbare, breite Promenade, die am Rand des ganzen Schiffs hinführt und Gelegenheit zum Spazierengehen gibt gleich einer Landstraße! Robinson beugte sich über das Geländer und schaute hinab. Da sah er alle anderen Schiffe tief unter dem »Imperator« liegen. Sie erschienen nicht anders als Wagen auf der Straße, wenn man aus dem vierten Stockwerk eines Hauses hinunterblickt. Gewaltig auf dem Wasser thronend zog das erhabene Schiff jetzt dahin, der Nordsee zu, gewaltige Rauchwolken aus seinen Schornsteinen stoßend.
Der Kapitän ließ Robinson zu sich auf die Kommandobrücke bitten und gab ihm Gelegenheit, auch hier alle Einrichtungen zu betrachten. Da standen in langen Reihen die Befehlstelegraphen, durch deren Betätigung der Führer des Schiffs mit leichtem Griff alle Anordnungen zu dessen Lenkung und Versorgung zu geben vermag. Eine Unzahl von Meldeapparaten zeigt an, wenn irgendwo auf dem Schiff Feuer ausbricht, wieviel Umdrehungen die Schraubenwellen machen, ob Schottentüren geschlossen oder offen sind und vieles, vieles andere.
Was aber Robinsons Verwunderung am meisten erregte, war die Beobachtung der Arbeit des Steuermatrosen. Er hatte den Kapitän gefragt, wie denn dieses ungeheure Schiff gelenkt würde, und war hierauf von diesem in ein mit großen Glasscheiben umgebenes Abteil auf der Kommandobrücke geführt worden. Dort drinnen stand ein Mann der Besatzung und drehte wie spielend hin und wieder an einem kleinen Handrad. Der Kapitän wies auf dieses. Robinson sah ihn fragend an. »Das kann doch nicht das Steuer sein?« sagte er. »Doch,« erwiderte der Kapitän. »Aber wie ist es möglich,« fragte Robinson weiter, »daß ein so ungeheures Fahrzeug wie der ›Imperator‹ der schwachen Kraft eines einzigen Menschen gehorcht? Das Steuerrad auf dem kleinen Segelschiff, auf dem ich einst gereist bin, war ja größer.« »Ja freilich,« erklärte ihm der Kapitän, »wenn wir hier, so wie es auf kleinen Schiffen geschieht, unser Fahrzeug wirklich mit den Händen lenken wollten, dann müßte ich ein paar Dutzend meiner Leute ans Steuerrad 336 stellen. Wiegt doch beim ›Imperator‹ das Steuerruder selbst nicht weniger als achtzehnhundert Zentner. Es gehören also schon sehr bedeutende Kräfte dazu, um nur dieses Lenkwerkzeug selbst zu drehen. Nun soll aber durch das Ruder das ganze Schiff gewendet werden, welches fünfzig Millionen Zentner Wasser verdrängt. Das geht nicht ohne weiteres an. Wir haben deshalb zwischen Rad und Ruder eine Maschine eingeschaltet. Wenn Sie den Matrosen hier das Steuerrad nach meinen Befehlen bewegen sehen, so schaltet er nur den Lauf der Steuermaschine ein, die sich ganz hinten im Schiff befindet. Sie dreht sich bald rechts herum, bald links herum und wendet das Ruder entsprechend. So können wir den Kurs viel leichter und genauer innehalten, als kleine Schiffe mit unmittelbarer Steuerung es vermögen.«
Robinson bat um die Erlaubnis, auch in den Maschinenraum hinabsteigen zu dürfen. Mit fast ungläubiger Verwunderung ging er an den sechsundvierzig Kesseln entlang, die den zum Vortrieb des Schiffs nötigen Dampf erzeugen und bei einer einzigen Reise über den Ozean so viel Kohle verzehren, wie in sechs lange Güterzüge geladen werden kann. Gleich den Sauriern der Vorzeit wölbten die vier Turbinen, welche die gleiche Zahl von Schrauben antreiben, ihre gewaltigen Leiber empor, deren stählerne Muskeln zweiundsechzigtausend Pferdestärken zu entwickeln vermögen. Jeder der Schornsteine hat, wie man dem staunenden Besucher berichtete, einen solchen Umfang, daß einer unserer Alsterdampfer bequem hindurchfahren könnte.
Während der anderthalb Tage, die Robinson und Freitag auf dem herrlichen Schiff zubrachten, kamen sie keinen Augenblick zur Ruhe, kaum zur Besinnung. Sie stiegen hinauf und hinab, aus der ersten Klasse, in der sie selbst wohnten, durch die zweite und dritte nieder zum Zwischendeck, wo für geringes Geld, aber in immer noch sehr bequemen Räumen die Scharen der Auswanderer befördert werden, die aus armen Bezirken Europas nach Amerika hinübergehen, um dort ein aussichtsreicheres Feld für ihre Tätigkeit zu suchen. Bei seiner Wanderung durch das Schiff traf Robinson überall Menschen und Menschen, obgleich bei der nach Europa gerichteten Fahrt die Massen 337 fehlten. Wie stark muß das Gewimmel sein, dachte er, wenn das Schiff bei der umgekehrten Reise mit dreitausend Gästen voll besetzt ist! Ganz unfaßlich und die wirkliche Größe des schwimmenden Palasts erst richtig offenbarend, erschien ihm die Mitteilung, daß nicht weniger als zweitausend Mann Besatzung notwendig sind, um das Fahrzeug zu bedienen und zu lenken.
Unter all diesen gewaltigen Eindrücken hatte unser Freund beinahe vergessen, daß er dem Ziel seiner sehnsüchtigen Wünsche allmählich näher und ganz nahe gekommen war. Erst als er den Leuchtturm von Neuwerk wieder erblickte, und das Schiff in die Elbe hineinfuhr, erwachte er zur Wirklichkeit. Nun verlor der »Imperator« sogleich alles Interesse für ihn. Jetzt waren seine Sinne nur noch auf eins gerichtet: auf den Gedanken, daß er noch heute zu Hause sein, noch am selben Tag seine Eltern in die Arme schließen könne.
Johannes: Da ist er nun wohl bald hier bei uns unten auf der Elbe vorbeigefahren?
Vater: Nein, der »Imperator« läuft mit Gästen an Bord nicht nach Hamburg hinein, da er das für ihn fast zu flache Fahrwasser nur ganz langsam, unter besonderen Vorsichtsmaßregeln zu passieren vermag. An dem mächtigen Bollwerk in Cuxhaven legten sie an, und Robinson ging mit Freitag an Land. Ein Sturm der Gefühle durchtobte seine Brust, als sein Fuß wieder den heimatlichen Boden berührte. Er tat, als wenn er strauchelte, fiel nieder und küßte die heilige Erde des Vaterlands. Dann saßen sie im Zug, fuhren, ohne anzuhalten, am jenseitigen Ufer entlang und hielten endlich in der Halle des Hamburger Hauptbahnhofs.
Peter: Nun war also Robinson zu Hause!
Vater: Er war daheim, aber doch nicht zu Hause. Kaum weniger fremd als Freitag, der alles, was er sah, nicht anders an sich vorüberziehen ließ wie ein kleines Kind, dem man eine Zauberoper vorspielt, stand er in der Straße, als er den Bahnhof verlassen hatte. Er erkannte Hamburg nicht wieder und wußte nicht, wohin er sich wenden mußte. Denn vor seiner Ausfahrt gab es dort noch die alten, kümmerlichen Bahnhöfe, die aus der ersten Zeit des Eisenbahnwesens in Deutschland stammten. Der Prachtbau des Hauptbahnhofs, über den sich die weitest 338 gespannte Halle in ganz Deutschland wölbt, war erst in der Zwischenzeit errichtet worden. Robinson mußte sich durchfragen und fand sich erst wieder zurecht, als er am Ufer der Alster stand, deren weites Gewässer in all seiner Schönheit glücklicherweise unverändert geblieben war.
Nun rannte er mehr durch die Straßen als er ging, Freitag hinter sich her ziehend, und sah sich endlich atemlos vor dem Haus, in dem seine Eltern wohnten. Drei enge Treppen mußte er hinaufsteigen. Oh, wie schlug sein Herz, als seine Füße die Stufen berührten, die er in leichtsinnigem Übermut so oft hinabgesprungen war, um irgendeinen Streich auszuführen. Er mußte sich am Geländer festhalten. Mit der Schnelligkeit, der unsere Gedanken nur in Augenblicken höchster Erregung fähig sind, ging noch einmal alles an ihm vorüber, was er seit jenem Tag erlebt hatte, als er, mit seinen bescheidenen Ersparnissen in der Tasche, hier hinabgerannt war, um heimlich das Schiff zu besteigen. Vierzehn Tage wollte er fortbleiben – die Reise hatte ein Jahrzehnt gedauert.
Mühsam erklomm Robinson die letzten Stufen. Ein Alp lastete auf seiner Brust. Wie würde er die Eltern wiederfinden? Waren sie gesund, noch am Leben? Würden sie ihn wiedererkennen, ihn aufnehmen oder von sich stoßen?
Er raffte sich zusammen und zog die Klingel. Eine alte Frau öffnete ihm. »Mutter!« wollte Robinson rufen, aber er nahm sich zusammen, um den teuren Menschen, den er vor sich sah, nicht zu sehr zu erschrecken. Er sagte vielmehr nur, daß er käme, um eine vielleicht erfreuliche Nachricht zu überbringen. Die Mutter ließ den Fremden und seinen Begleiter eintreten. Am Tisch saß der Vater. Auch er war älter geworden, das braune Haar, von dem Robinson sein Haupt in der Erinnerung stets umgeben gesehen hatte, hatte sich weiß gefärbt. Die Besucher wurden aufgefordert, Platz zu nehmen, und die alten Leutchen sahen sie fragend an.
»Wenn ich nicht irre, haben Sie einen Sohn,« begann unser Freund. Die Alten seufzten. »Wir hatten drei Söhne; sie sind alle tot. Von zweien wissen wir, wo sie begraben liegen. Der dritte ging vor zehn Jahren auf ein Schiff und ist nicht wiedergekommen. Es kann nicht anders sein, als daß auch er 339 umgekommen ist.« »Aber mit Sicherheit wissen Sie das doch nicht?« fragte der Ankömmling mit zitternder Stimme. Der Vater wurde aufmerksam. »Nein, er hat nie das geringste von sich hören lassen, obgleich er unser liebstes Kind war und unser ganzes Lebensglück bildete.« Tränen erstickten seine Stimme. »Bringen Sie uns etwa Nachricht von ihm?« fragte die Mutter und legte erregt ihre Hand auf den Arm des Fremden. »Ich weiß nicht . . . ich glaube . . . vielleicht kann ich etwas mitteilen!« »Wie! Was! Oh, sprechen Sie schnell!« rief der Vater. Doch die Mutter sprang jetzt auf, stürzte auf den Fremden zu und rief, zwar noch zweifelnd, aber doch schon mit einem Ausdruck höchster Freude: »Was sehe ich? Wie ist mir? Dieses Gesicht . . . wenn der Bart nicht darum wäre . . . wahrhaftig, ich glaube . . . Du bist es! Vater, er ist es selbst! Unser Sohn!« Das Auge der Mutter hatte trotz aller Veränderungen, welche die Zeit und das große Erlebnis in Robinsons Antlitz hervorgebracht hatten, das Kind erkannt, das einst an ihrer Brust gelegen.
Ich will nicht weiter ausmalen, was sich nun ferner in dem bescheidenen Stübchen zutrug. Ich will nicht in aller Ausführlichkeit berichten, wie Vater und Mutter den totgeglaubten Sohn in die Arme schlossen, wie sie vor Freude sich nicht zu lassen wußten, ihn wiederzuhaben, und in einem Augenblick alle Schmerzen vergessen hatten, die der leichtsinnige Streich ihres Kindes ihnen zehn Jahre lang verursacht hatte. Der Sohn, der ihnen wie von den Toten auferstanden erschien, mußte erzählen und immer wieder erzählen, was ihm geschehen, wo er gewesen und wie er heimgekommen war. Die Alten gerieten ein Mal über das andere in freudigstes Erstaunen über die Veränderungen, die in Robinson vor sich gegangen waren, wie er stark und gescheit geworden und so ganz andere Sinnesart an den Tag legte, als er früher gehabt hatte. Ihr könnt euch denken, daß sie auch zu Freitag freundlich und liebevoll waren, ihn als den Freund ihres Sohns begrüßten und dafür sorgten, daß er sich so weit zu Hause fühlte, wie es ihm in der zauberhaften Fremde nur irgend möglich war.
Das erste, was Robinson schon in den nächsten Tagen ausführte, war eine Benachrichtigung der Angehörigen aller jener, die bei dem Untergang des Dampfers »Rangoon« 340 umgekommen waren. Alle Adressen, die auf dem Zettel der Flaschenpost angegeben waren, benutzte er, und es war ihm schmerzlich genug, daß er den Angehörigen nichts anderes mitteilen konnte als den Tod aller Menschen auf jenem Schiff.
Nachdem dies geschehen, versanken die Reise und alle seine Abenteuer hinter Robinson; sie waren für ihn Vergangenheit geworden, nur Freitag sowie die erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen blieben als lebendige Zeugen der großen Geschehnisse übrig.
Der Vater schwieg. Auch die Kinder saßen stumm um den Tisch. Ursula wischte sich mit ihrem Tüchlein Tränen aus den Augen, die sie bei dem Bericht über das Wiedersehen zwischen Robinson und seinen Eltern vergossen hatte. Auch Peters Augen waren feucht geworden, aber er schluckte die aufsteigenden Tränen tapfer hinunter, weil ihm eine solche Regung nicht männlich erschien.
Nach einer Weile fragte Dietrich: »Was ist denn nun weiter aus Robinson geworden, Vater?«
»Oh, darüber ist nicht viel zu sagen,« antwortete dieser. »Wenn er selbst auch nur an Wissen und gefesteten guten Vorsätzen reich, aber ohne Geldmittel zurückgekehrt war, so hatten seine Eltern sich doch in den zehn Jahren, die sie ganz still dahingelebt hatten, ein genügendes Sümmchen erspart, um ihm seinen Wunsch zu erfüllen, die Navigationsschule im Seemannshaus zu Hamburg zu besuchen. Vermöge seiner raschen Fassungsgabe legte unser Freund dort schon nach zwei Jahren die Prüfung mit vorzüglichem Ergebnis ab. Er fand Anstellung bei der Hamburg-Amerika-Linie und rückte bald zum Obersteuermann auf einem Südamerikafahrer auf.«
»Und Freitag?« fragte Johannes.
»Dieser erhielt gleichfalls Unterricht, wurde dann Matrose und hat es bis zum Maat gebracht. Er und sein früherer Herr blieben immer zusammen auf dem gleichen Schiff. Robinson ist übrigens längst verheiratet und besitzt einen Sohn von acht Jahren, der Peter heißt.«
»Ach, der hat's gut!« rief Peter, »jedesmal, wenn sein Vater von einer neuen, weiten Reise nach Hause kommt, kann er von ihm die schönsten Reisegeschichten hören!«
341 »Das wird wohl so sein,« sprach der Vater. »Übrigens kann ich euch zu demselben Genuß verhelfen. Ihr wißt doch, daß ich mit einem der Direktoren der Hamburg-Amerika-Linie befreundet bin. Neulich, als ich bei diesem war, weilte auch Robinson dort, weil der Direktor etwas von dessen wunderbaren Erlebnissen aus seinem eigenen Mund hören wollte.«
Johannes und Peter sprangen von ihren Stühlen. »Und da hast du ihn gesehen, ihn selbst kennengelernt, Vater? Das sagst du uns erst jetzt? Wie gefällt er dir? Wie sieht er denn aus?«
Der Vater wehrte ab. »Ruhig, ruhig, Kinder! Darüber brauche ich euch nichts zu sagen, ihr sollt ihn selbst kennenlernen. Robinson hat sich von seinen Ersparnissen gar nicht weit von uns, gleichfalls an der Elbe, ein kleines Häuschen gekauft und mich damals gebeten, ihn doch einmal mit meinen Kindern zu besuchen. Wir wollen an einem der wenigen Tage, die noch von den großen Ferien übriggeblieben sind, zu ihm gehen.«
»Ist denn das wirklich wahr?« riefen die Kinder in höchster Freude. »Wir sollen den leibhaftigen Robinson kennenlernen?«
»Ja, und von ihm selbst hören,« entgegnete der Vater, »was in meiner Erzählung etwa noch vergessen worden ist.«
»Und dürfen wir auch Fragen an ihn richten?« fügte Peter hinzu, dessen Wangen vor Erregung glühten.
»Ich denke schon, er wird nichts dagegen haben,« sagte der Vater. »Aber haltet euch ein wenig zurück! Denn ich weiß nicht, ob er einen ebensolchen Ansturm wird aushalten können wie ich. Seid bei dem Besuch mit der Zahl eurer Fragen vorsichtig, damit Robinson sich nicht etwa wieder auf eine einsame Insel zurückwünscht, nur um euch zu entgehen!«