Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Neunzehnter Nachmittag

Vater: Robinson weilte jetzt schon ungefähr fünf Jahre auf der Insel, und er dachte, daß ihm nun bereits ihre sämtlichen Erzeugnisse bekannt wären. Aber das war doch nicht der Fall, wie ein ganz besonders seltsames Erlebnis ihm zeigte, das ich euch heute erzählen will. Unser Freund hatte beim Umherstreifen eine hanfartige Pflanze gefunden, die er sich zur späteren Untersuchung beiseitelegte. Durch Zufall war ein Bündel dieser Gewächse in seine Milch geraten und hatte darin einen Saft abgesondert. Da Robinson infolge der Tageshitze sehr durstig war, so trank er eine ganze Schale davon in wenigen Zügen aus, ohne sonderlich darauf zu achten, daß der Milchgeschmack eine kleine Veränderung aufwies.

Alsbald begannen grüne, gelbe und violette Flecken vor seinen Augen zu tanzen, und ihm ward dabei zumute, als ob er mehrere Flaschen starken Weins genossen hätte. Ein seltsames, gar nicht unangenehmes Gefühl kam über ihn, zugleich mit einer starken Müdigkeit, welche niederzukämpfen er indes fest entschlossen war. Denn er hatte für den Tag noch allerhand Verrichtungen in Aussicht, an deren Erledigung ihm viel gelegen war. Da plötzlich wirbelten die bunten Flecken, die ihm vor Augen flimmerten, zusammen, formten sich zu einer Figur, und ehe er noch recht begriff, was da eigentlich geschah, stand ein bärtiger Mann vor ihm, in blauem wallenden Gewand, wie eine Erscheinung aus der Vorzeit.

Ursula: Ach, das hat der Robinson doch nur geträumt.

Vater: Er selbst hielt es jedenfalls für wache Wirklichkeit, und so fragte er denn den sonderbaren Fremdling nach seinem Begehren.

207 »Ich bin gekommen,« sagte dieser, »um dir ein wenig Gesellschaft zu leisten. Meine Heimat liegt weit von hier, allein die Kunde von deiner Verlassenheit hat mich trotzdem erreicht, und so dachte ich, daß dir meine Anwesenheit willkommen sein wird. Mein Name ist Daedalus! Ich bin geboren in Griechenland, vor viertausend Jahren, stehe aber, wie du siehst, noch immer ganz rüstig auf meinen Beinen.«

»Daedalus?« sagte Robinson. »Ja, ich besinne mich ganz gut auf dich aus unserem Schulunterricht. Du warst der berühmteste Künstler deiner Zeit . . .«

»Ich bin es noch heute. Meine Kunstfertigkeit übertrifft die aller Menschen. Und wenn es dir recht ist, so will ich dir davon sogleich eine Probe geben.«

»Nur zu!« rief Robinson, »ich bin im höchsten Grad gespannt.«

»Da ich dir aus der Schule bekannt bin,« fuhr der Grieche fort, »so weißt du auch, daß ich fliegen kann. Wie hätte ich denn sonst auch nach deinem Eiland gelangen können? Also ich will dir zeigen, wie man das macht, und dich zu gleicher Zeit einladen, mit mir zu fliegen! Sieh her: ich habe zu diesem Zweck gleich zwei Paar Flügel mitgebracht. Eine Handbewegung genügt, um sie festzumachen. Da sitzen sie dir schon an den Schultern wie festgewachsen.«

Alsbald flogen beide davon, hoch hinauf. Daedalus hielt den Robinson an der Hand und veranlaßte ihn, die wechselnde Landschaft aufmerksam zu betrachten. Rasch versank die Insel unter ihrem Flug. Zahllose andere Inseln wurden sichtbar, tauchten auf und versanken in den großen Umrissen der Länder und Meere, die nun genau so erschienen wie auf einer bunten Landkarte, oder noch richtiger auf einem großen Globus. In unabsehbarer Tiefe malten sich riesige Wolkenschatten teils auf den grauen Kontinenten, teils auf dem grünlichen Ozean, sowie auf den weißglänzenden Eisflächen an den beiden Erdpolen. Die Sonne erstrahlte hoch oben und noch einmal, fast ebenso hell, im Gegenbild des Ozeans. Nunmehr aber richtete sich der Flug nach der abgewandten Seite des Himmels, der Mondscheibe entgegen, die sich schnell zu ungeheurer Größe entwickelte.

208 »Lege jetzt deine Flügel ab,« befahl Daedalus, »und ruhe dich aus.«

»Aber Herr Flugmeister!« rief Robinson, »was verlangst du da? Wenn ich zu fliegen aufhöre, muß ich ja hinunterfallen und elend zerschellen!«

Daedalus war anderer Meinung. »Wir befinden uns hier an einem Punkt,« sagte er, »wo die Anziehung der Erde geradeso stark wirkt wie die des Mondes. Da aber diese beiden Anziehungen in genau entgegengesetzter Richtung stattfinden, so heben sie einander auf; mit anderen Worten, wir haben hier überhaupt kein Gewicht, wir sind hier leichter als die leichteste Flaumfeder, leichter selbst als die Luft, wir können also nicht fallen, weder nach der Erde noch nach dem Mond. Begreifst du das, Robinson?«

»O ja,« entgegnete dieser. »Mir fällt sogar ein, daß ich von dieser Merkwürdigkeit in einem Buch gelesen habe. Wenn ich mich recht erinnere, sind wir nunmehr fünfundvierzigtausend Meilen von der Erde entfernt.«

»Ganz recht,« ergänzte der Grieche, »und fünftausend Meilen vom Mond.«

Sie legten nun wirklich die Flügel ab, ruhten sich mitten im leeren Raum aus, und die Flügel schwebten neben ihnen, unbeweglich, ohne Stütze und Halt, aber so sicher, als wenn sie an einem Wandhaken aufgehängt worden wären.

Bald wurde der Flug fortgesetzt, aber nicht in der Richtung zum Mond, sondern nach dem seltsamen Planeten Saturn.

Dietrich: Aha! Das ist doch der mit dem Ring.

Vater: Ja, und auf diesem sollte sich Robinson nun ein wenig tummeln! Welch ein Anblick! Der leuchtende Planet Saturn zu Häupten, über ihn hinweg der glänzende Ring in ganzer Ausdehnung des Himmels! Und dazu acht Monde, die dieses Gestirn umkreisen, wie der eine Mond unsere Mutter Erde. Freilich der Marsch auf der Innenseite des Rings war keine einfache Angelegenheit; denn der bot nicht etwa eine geebnete Bahn, sondern zeigte in sich wiederum ungeheure Wölbungen und Abgründe. Ja er bestand eigentlich aus einer Wolke zahlloser winziger Monde. Allein wenn man von einem 209 Meister wie Daedalus an der Hand geleitet wird, kann einem wohl nichts Ernstes zustoßen. So dachte Robinson. Zu seinem Unglück besann sich aber sein Gefährte anders, er ließ ihn plötzlich los und flog allein weiter in den leeren Weltenraum.

Peter: Pfui, der häßliche Daedalus! So den armen Menschen im Stich zu lassen!

Vater: Robinson wollte ihm nacheilen, spürte aber gleichzeitig, daß seine Flugkraft nachließ, und daß die Flügel, anstatt ihn zu beschwingen, wie Blei seinen Rücken beschwerten. Er flog nicht mehr, er fiel, er stürzte ins Bodenlose, ins Unabsehbare, bis er mit scharfem Anprall aufstieß und – aus seiner Betäubung erwachte. Er fand sich auf seinem Lager und rieb sich die Augen. Keine Flügel, kein Daedalus, nichts als die gewohnte Umgebung! Und neben ihm die leere Milchschale, auf deren Boden er erst jetzt die Spuren der Pflanze bemerkte, die er kurz zuvor gesammelt hatte.

Ursula: Die war gewiß giftig!

Vater: Es war eine Abart des indischen Hanfs, Churrus genannt, der einen betäubenden Stoff enthält, das Haschisch. Unserem Freund waren die Haschischdünste zu Kopf gestiegen und hatten ihm das Abenteuer vorgezaubert mit solcher Deutlichkeit, als wenn er es wirklich durchlebt hätte. Bei den Orientalen ist das Haschisch seit langer Zeit ein vielbegehrtes Berauschungsmittel, und in den dadurch erzeugten traumhaften Erlebnissen spielt das Fliegenkönnen eine große Rolle. Beachtet dabei, wie sich bei Robinson Erinnerung und Vergessenheit durcheinander webten. Er konnte sich aus seinen früheren Studien sehr wohl des Daedalus, der Anordnungen im Sternengewölbe, ja sogar der richtigen Anzahl der Saturnmonde entsinnen, dagegen hatte er vollständig vergessen, – – was wohl, Johannes?

Johannes: Daß ein Mensch zum Fliegen keine Flügel am Buckel brauchen kann, sondern ein Flugzeug mit Luftschraube haben muß!

Dietrich: Und daß man selbst mit einem Flugzeug nicht aus dem Bereich der atmosphärischen Luft hinaus kann, weil doch alles Fliegen immer nur darauf beruht, daß der Widerstand der Luft geweckt und überwunden wird.

210 Ursula: Hat denn nun der Robinson noch öfter solches Haschisch getrunken?

Vater: Nein, das ließ er hübsch bleiben. Und zwar aus einem sehr einleuchtenden Grund. Denn so angenehm ihm auch der Anfang der Betäubung gewesen war, so peinlich gestaltete sich der Schluß. Von dem herrlichen Flug durch die Sternwelt war ihm nichts zurückgeblieben als ein graues Elend in Form eines wütenden Kopfwehs, das ihm viele Stunden lang den Schädel zu sprengen drohte. Und da dies als die regelmäßige Folge aller derartiger Mittel auftritt, so wißt ihr ja, wie ihr euch zu verhalten habt, falls jemals die Versuchung des Haschisch, des Opiums, des Äthers oder anderer derartiger »Narkotika« genannter Stoffe an euch herantreten sollte. 211


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