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Am nächsten Tag versammelte sich die Familie wieder um den Gartentisch unter der Linde. Der Wind vom Meer her wehte etwas kräftiger, so daß die Zweige des Baums auf und ab schaukelten. Peter und Ursula hatten sich, bevor der Vater erschien, damit vergnügt, die über die Tischplatte huschenden Sonnenkringel mit den Händen zu greifen. Große Möwenvölker flatterten über der Wasserfläche. Prächtig leuchteten die schneeweißen Flügel, wenn sie von der Sonne getroffen wurden. Schneeflocken gleich sah man ganze Schwärme der Vögel plötzlich auf das Wasser hinabschießen, um vorwitzige Fischlein mit den Schnäbeln rasch im Flug zu erhaschen.
Mit heiterem Blick umfaßte der Vater, nachdem er wie am Tag vorher in seinem Stuhl Platz genommen hatte, dieses Bild, und dann war alles zur Fortsetzung der Erzählung bereit.
Vater: Wir haben Robinson gestern verlassen, als er gerade auf das Deck hinaufkam und zu seinem Erstaunen nichts weiter erblickte als schweren, grauen, nach Rauch riechenden Nebel ringsum. Erschreckt blieb er stehen und wagte zuerst nicht, einen Schritt vorwärts zu tun, da überall unbekannte Welt zu liegen schien. Dann fuhr er plötzlich zusammen. An der Spitze des Schiffs, nicht weit von seinem Standplatz wurde die große Schiffsglocke mächtig angeschlagen. In gewissen Zwischenräumen wiederholte sich dieses Läuten immerfort. Und von draußen her vernahm Robinson seltsame Töne, die seine Angst noch erhöhten. Es war, als sei die ganze unsichtbare Meeresfläche von seltsamen Geschöpfen bevölkert. Bald hörte Robinson helle Töne wie von kreischenden 39 Wassernymphen, bald tiefes, markerschütterndes Brüllen, wie es wohl die vorweltlichen Riesentiere ausgestoßen haben mochten. Auch Glockentöne klangen von fernher heran. Aber all das zusammen ergab eine Musik, die von weit, weit her, wie aus einer anderen Welt zu kommen schien. Und dennoch fühlte man, daß die Wesen, von denen die Töne ausgingen, nicht fern sein konnten.
Ursula: Ich fürchte mich, Vater! Nun werden die Ungeheuer sicherlich Robinson auffressen!
Dietrich: Davor brauchst du dich nicht zu fürchten, Schwesterchen. Ich weiß schon, woher die schrecklichen Töne kamen. Es waren die Nebelhörner der anderen Schiffe.
Vater: Freilich. Dieser Spuk hatte wie jeder andere, der Wirklichkeit ist, seine natürlichen Ursachen. Wenn Nebel auf der See fällt, befinden sich alle Schiffe in nicht geringer Bedrängnis. Am gefährlichsten ist solch ein Ereignis gerade in dem Meeresteil, in welchem sich Robinsons Schiff jetzt aufhielt, nämlich in der verhältnismäßig schmalen Fahrstraße zwischen England und dem europäischen Festland. Es ist das diejenige Stelle, die von allen Meeren der Erde am lebhaftesten befahren wird. Kaum jemals kommt es vor, daß man vom Deck eines Schiffs aus nicht fünf oder sechs andere Fahrzeuge erblickt. Für alle ist Platz genug auf der ja immer noch außerordentlich geräumigen Wasserfläche vorhanden. Sie können einander unter gewöhnlichen Umständen ohne jede Schwierigkeit ausweichen. Wenn aber Nebel herrscht, verlieren die Schiffe einander aus dem Gesicht. Jetzt ist jedes von ihnen durch jedes andere schwer bedroht. Es gibt kein anderes Mittel, seinen Standort den anderen kundzutun, als möglichst großen Lärm zu machen. Die Augen, das wichtigste Werkzeug für den Menschen im allgemeinen und für den Schiffskapitän im besonderen, um sich über seine Umgebung klar zu werden, versagen. Nur das Ohr bleibt noch aufnahmefähig, wenn freilich Nebelschwaden auch den Ton stark dämpfen. Die großen Dampfer lassen bei solchem Wetter in bestimmten Abständen ihre riesenhaften Dampfpfeifen erschallen, die so fürchterliche Töne ausstoßen, daß man es in ihrer Nähe gar nicht auszuhalten vermag. Die kleineren schrillen mit ihren höher gestimmten Pfeifen, die 40 Segelschiffe läuten mit den Glocken, welche zu diesem Zweck stets auf dem Deck angebracht sind. Zugleich setzen alle Schiffe ihre Fahrgeschwindigkeit sehr stark hinab, die meisten bleiben ganz stehen. Wer es aber eilig hat, versucht wohl doch, einigermaßen rasch vorwärtszukommen, und das kann dann leicht genug Unheil herbeiführen.
Robinson hatte sich an das Geländer auf dem Deck seines Schiffs gestellt und starrte mit bleichem Gesicht hinaus. Er sah keinen Menschen und fühlte sich schrecklich vereinsamt. Viel würde er darum gegeben haben, jetzt wieder am sicheren Tisch im Elternhaus sitzen zu können, das er so leichtsinnig verlassen hatte. Mehr als einmal sah er düstere Schatten in nächster Nähe auftauchen, die Umrisse von Schiffen, deren Art genauer zu erkennen unmöglich war.
Immer weiter ertönte das markerschütternde Brüllen und Kreischen, immer neue Stimmen mischten sich ein; ein besonders tiefes Brummen, das wie der Ton einer ungeheuren Orgel klang, verlor sich langsam in der Ferne. Die Augen tränten Robinson von der Anstrengung, mit der er sich bemühte, die Nebelwand zu durchdringen, weil er glaubte, daß dies helfen müsse, das stilliegende Schiff zu beschützen.
Plötzlich stieß er einen Schrei aus und fiel rücklings nieder. Ein furchtbarer Stoß hatte das Schiff getroffen.
Peter: War das eine hohe Welle?
Vater: Nein, bei schwerem Nebel pflegt das Meer stets ganz ruhig zu sein. Es war etwas weit Gefährlicheres, mit dem das Schiff in Berührung gekommen war. Nur ein paar Meter von seinem Platz entfernt, hatte Robinson erst einen Schatten näher und näher kommen gesehen. Dann war die schwarze Spitze eines Schiffs deutlich aus dem Grau aufgetaucht, und gleich darauf krachten schon die Bretter und Balken. Der Segler, auf dem sich Robinson befand, machte einen Sprung wie ein scheuendes Pferd, und dann trat für einige Augenblicke furchtbare Stille ein.
Als Robinson sich entsetzt aufrichtete, sah er, wie die Matrosen und auch der Kapitän herbeistürzten. Alles schrie entsetzt durcheinander. Das fremde Schiff war in den kleinen Segler hineingefahren und hatte ihm die ganze Seite aufgerissen.
41 Sofort gellte die Mundpfeife des Steuermanns, der alle Mann zu Hilfe rief. Der Kapitän beugte sich über das Geländer, und Robinson sah, wie er wankte. »Wir sind verloren! Wir sinken!« riefen einzelne Stimmen. »Die Schwimmgürtel nehmen!« befahl der Kapitän. Robinson wußte nicht, wohin er sich zu wenden hatte, um solch einen rettenden Gegenstand zu fassen. Wie angewurzelt blieb er stehen.
»Zu Hilfe, zu Hilfe, wir sind in Not!« schrien die Matrosen zu dem fremden Schiff hinüber, dessen Spitze das Deck zur Hälfte durchschnitten hatte. Aber zu ihrem furchtbaren Schreck sahen die Leute, daß die schwarze Spitze, die allein man von dem fremden Fahrzeug wahrnehmen konnte, sich zurückzog und das Schiff im Nebel verschwand. Der gewissenlose Führer wollte sich offenbar den schweren Unannehmlichkeiten entziehen, wegen Herbeiführung eines Zusammenstoßes vor das Seegericht gestellt zu werden. Er fuhr unerkannt davon und überließ die Menschen auf dem schwer getroffenen Segler ihrem Schicksal.
Johannes: Das ist aber ein ganz abscheulicher Mensch. Er hatte doch schuld daran, wenn das Schiff jetzt unterging. Da hätte er doch dableiben und helfen müssen.
Vater: Ja, das hätte er gemußt, sogar wenn er nicht selbst schuld an dem Unglück gewesen wäre. Denn alle Seeleute sind verpflichtet, einander Hilfe zu bringen. Außer dem Gesetz gebietet dies schon die Menschenpflicht. Es wird auch selten einen Kapitän geben, der sich einer solchen Verpflichtung entzieht. Dieser hier war eine häßliche Ausnahme.
Schon begannen sich auch die Folgen des Zusammenstoßes zu zeigen. Des Steuermanns Pfeife rief die Matrosen unter Deck an die Pumpen. Mit aller Kraft versuchte man, das durch den Riß eindringende Wasser auszuwerfen. Aber das Leck war zu groß; es lief mehr Wasser hinein, als man hinauszuschaffen vermochte. Langsam aber deutlich fühlbar begann das Schiff zu sinken. Die große Glocke läutete wie toll, um Hilfe herbeizuschaffen. Jetzt stand das Deck nur noch ein Meter über dem Wasser. Robinson zitterte am ganzen Körper. Schon sah er sich für die häßliche Tat, die er an seinen Eltern begangen hatte, schwer bestraft. Das Grab im Meer 42 schien ihm sicher. Und niemand kümmerte sich um ihn. Alle hatten zu arbeiten, um zu retten, was noch zu retten war; er, der auf einem Schiff nicht Bescheid wußte, stand ganz verlassen da. »Ach, lieber Vater, liebe Mutter, helft mir doch!« schrie er und rang die Hände. Fast von Sinnen lief er auf dem leeren Deck hin und her, aber keine Menschenstimme antwortete ihm.
Schon begann das Schiff sich nach der Seite zu senken, auf der das Wasser eindrang. Da zerriß plötzlich wie durch einen Zauberschlag der Nebel, der inzwischen schon leichter geworden war, ohne daß dies jemand bemerkt hatte, und auf einmal lag das weite Meer in grüner, schimmernder Ruhe vor Robinsons Blicken. In geringen Entfernungen sah man andere Schiffe teils stilliegen, teils sich langsam bewegen und nun gerade wieder zu voller Fahrt übergehen.
Der Kapitän hatte die Änderung des Wetters natürlich auch sofort bemerkt. Mit mehreren Matrosen, die er von den Pumpen fortgeholt hatte, stürzte er aufs Deck. Einige von der Mannschaft eilten zum Heck, dem Hinterteil des Schiffs, um das dort hängende Rettungsboot fertig zum Hinunterlassen zu machen. Oh, wie klein war dieses Rettungsschifflein! Kaum die Hälfte der Mannschaft konnte darin Platz finden. Zwei Matrosen aber knüpften unter dem Befehl des Kapitäns mit größter Geschwindigkeit bunte Flaggen an einen Strick und zogen sie am Mast empor.
Ursula: Nanu, jetzt hängen die auf einmal Flaggen raus? Das tut man doch bloß, wenn etwas Lustiges los ist.
Dietrich: Für so dumm brauchst du den Kapitän aber wirklich nicht zu halten, daß er in solcher Not das Schiff bloß zum Vergnügen flaggen läßt. Das sollte natürlich ein Notzeichen für die anderen Schiffe sein.
Vater: So war es wirklich. Der Kapitän hatte am Mast weithin sichtbar das Zeichen setzen lassen: »Wir sind in Not! Sofortige Hilfe erforderlich!« Solche Flaggen reden eine Sprache, die jeder Seemann versteht, mag er nun Deutscher, Engländer, Spanier oder Grieche sein. Mittels zwei, drei oder vier Flaggen von allgemein festgesetzter Art können viele Tausende verschiedener Signale gegeben werden. Da von der 43 Kommandobrücke jedes Schiffs aus, das sich in See befindet, stets scharf Ausguck gehalten wird, so kann man sicher sein, daß solch ein Flaggensignal von einem in Sicht befindlichen Fahrzeug wahrgenommen wird. Und so geschah es auch hier. Nur etwa fünfhundert Meter von ihnen entfernt lag ein großes Segelschiff hochragend auf dem Wasser. Sogleich stieg an dessen Mast gleichfalls ein Flaggensignal empor, das meldete: »Verstanden! Ich schicke Hilfe hinüber!«
Peter: Es ist aber wirklich wunderschön, daß man sich so verständigen kann. Wie klug das ausgedacht ist!
Vater: Es war aber auch dringend notwendig, daß die Schiffbrüchigen jetzt Hilfe bekamen. Mit dem Pumpen hatte man schon aufgehört, denn die unteren Räume des Schiffs waren bereits voller Wasser. Die ganze Mannschaft befand sich jetzt an Deck, und wer konnte, sprang in das einzige Rettungsboot. Es vermochte nur wenige Mann aufzunehmen. Dann stieß es rasch ab.
Als Robinson das sah, fiel er ohnmächtig nieder. Die Bedeutung der Signalisierung durch die Flaggen war ihm natürlich unbekannt geblieben. Er hatte sie, wie unsere Ursula, mit aufgerissenem Mund wohl auch für einen höchst unangebrachten Spaß gehalten. Da er das Rettungsboot davonfahren sah, glaubte er sich endgültig verloren. Die hilfreichen Leute drüben aber hatten gleichfalls geschwind zwei Boote zu Wasser gebracht, und mit kräftigen Ruderschlägen kamen diese näher.
Jauchzender Zuruf empfing sie, als sie längsseits des sinkenden Schiffs angekommen waren. Im letzten Augenblick, als schon fast das Wasser über das Deck zu laufen begann, sprangen alle hinüber. Beinahe hätte man den ohnmächtigen Robinson liegengelassen, nicht etwa absichtlich, sondern weil er dicht neben einem Haufen Tauwerk hingefallen war, der ihn halb verdeckte, und in der begreiflichen Aufregung niemand an ihn dachte. Im letzten Augenblick warf man ihn noch in das Boot.
Ursula: Gott sei Dank, ich hatte schon gefürchtet, daß sie ihn allein würden ertrinken lassen!
Peter: Ich habe das nicht gedacht, denn der Vater harte ja gesagt, daß seine Erzählung von Robinson sehr lang sein 44 würde, und dann hätte sie ja jetzt schon nicht mehr weitem gehen können.
Vater: Als Robinson zu erwachen begann, fühlte er sich, während seine Augen noch geschlossen waren, weich gebettet und ein Glas heißen Tees an seinen Lippen. Er trank, streckte sich müde aus und sprach leise: »Danke schön, Mutter!« Mit seligem Lächeln schlief er wieder ein und sah sich im Schutz des Elternhauses geborgen.
Als er aber einige Stunden später recht gestärkt die Augen aufschlug, nahm er wahr, daß das weiche Lager nicht ein Bett, sondern ein Haufen zusammengefalteter Segeltücher und der hilfreiche Mensch, der ihm den stärkenden Tee gereicht, nicht seine Mutter, sondern ein Matrose war, der schon gleich von Hamburg aus besonders freundlich zu ihm gewesen und sich jetzt um ihn bemühte. Er richtete sich auf und blickte umher. Zunächst vermochte er gar nicht, sich zurechtzufinden. Das Schiffsdeck, das ihm doch nun schon seit zwei Tagen recht vertraut gewesen, hatte sich völlig verändert. Die Masten waren viel dicker, es standen auch drei da an Stelle von zweien wie bisher. Das Schiff war länger und breiter und fuhr mit mächtigen Segeln sehr rasch durch das Wasser. Robinson konnte sich diese Verwandlung zuerst gar nicht erklären. Dann fiel ihm ein, daß er ja nahe am Ertrinken sei, und voll Schreck sprang er auf. Doch der hilfreiche Matrose beruhigte ihn. Er erzählte, daß während Robinsons Ohnmacht die Rettung vollzogen, das eigene Schiff allerdings untergegangen sei, sie aber nun auf dem großen Segler wohl geborgen wären. Sogleich hatte Robinsons kräftiges, jugendliches Gemüt die ganze Furcht vergessen, und er begann alsbald, sich auf dem neuen Fahrzeug umzuschauen. Hier war alles größer und schöner als auf dem ersten. Jeder konnte sehen, daß man sich auf einem mächtigen Fahrzeug befand, das, wenn nicht gerade ein großes Unglück geschah, wohl imstande sein mußte, auch den schwersten Angriffen der See standzuhalten.
Robinson wurde zu dem Kapitän geführt, und dieser fand bald Gefallen an den klugen Augen und munteren Antworten unseres Freundes. Schließlich sagte er, Robinson solle einmal raten, wohin das Schiff fahre. »Nach England,« 45 antwortete dieser. Der Kapitän lachte. »Das ist falsch. Wir fahren weiter!« »Nach Neuyork.« »Noch weiter.« »Vielleicht gar nach Südamerika?« fragte Robinson, »oder zu den Negern nach Afrika?« »Auch das ist noch nicht weit genug,« erwiderte lachend der Kapitän. Robinson dachte nach, aber es fiel ihm kein Land ein, das noch weiter entfernt wäre als die genannten Teile der Erde.
Johannes: Da kann man sehen, daß Robinson in der Schule nichts Ordentliches gelernt hatte. Ich hätte gleich »China« gesagt.
Vater: Damit hättest du zwar richtig ein Land bezeichnet, das über See in noch weiterer Entfernung von uns liegt, aber doch nicht das Richtige getroffen.
Dietrich: Dann muß es wohl Australien gewesen sein, wohin der Kapitän wollte.
Vater: Ja, dies war das Reiseziel. Und der Kapitän fragte im Scherz, ob Robinson nicht bis dahin mitkommen wolle. Sogleich fügte er aber hinzu, daß an der englischen Küste noch einmal Gelegenheit sein würde, an Land zu gehen, da die Matrosen des untergegangenen Seglers dort ausgeschifft werden sollten.
Ursula: Ach, wie schrecklich, nach Australien! Robinson bangte sich ja so nach seinen Eltern, da wird er doch sicher nicht mitfahren wollen!
Vater: Er schüttelte in der Tat zunächst den Kopf, als der Kapitän ihn fragte. Aber sein Gesicht glühte feuerrot, und er lief aufs Deck, wo er lange auf und ab ging und nachdachte. Australien! Das war etwas für Robinsons Wanderlust! Wenn er dorthin mitführe, würde er sicher Gelegenheit haben, in den vielen zwischenliegenden Häfen, die das Schiff doch wohl anlaufen mußte, fremde Länder in schönster Weise zu sehen. Beinahe die ganze Erde konnte er kennenlernen. Aber nein, das war doch wohl nicht möglich! So lange durfte er nicht von Hause fortbleiben; diesen Schmerz konnte er seinen Eltern doch nicht zufügen.
Aber ach! Jetzt schon nach ein paar Stunden wieder von diesem herrlichen Schiff hinunterzugehen, dazu konnte er sich auch nicht entschließen. Und so kämpfte in ihm die Liebe zu 46 seinen Eltern mit dem Trieb herumzuschweifen. Aber die Reiselust siegte schließlich doch. Auch von Australien würde man ja wieder nach Hause kommen, und was konnte er dann alles erzählen! Was würde er erschaut und erlebt haben! Rasch lief er zum Kapitän und sagte forsch: »Ich komme mit.« »Topp!« rief der Schiffsführer und schüttelte ihm die Hand. »Ich freue mich, einen so tapferen jungen Fahrtgenossen zu haben!« Nach Bezahlung fragte er gar nicht. Aber er machte Robinson darauf aufmerksam, daß die Hin- und Rückreise mit den Aufenthalten wahrscheinlich eindreiviertel Jahr in Anspruch nehmen würde. Das war unserem Freund aber gerade recht.
Dietrich: Gibt es denn wirklich heute noch Segelschiffe, die bis nach Australien fahren? Ich dachte, für so weite Reisen werden nur Dampfer verwendet.
Vater: Diese Frage stellst du sehr mit Recht. Die meisten glauben in der Tat, daß die Segelschiffahrt heute ihre Bedeutung vollständig verloren habe. Aber das ist in Wirklichkeit nicht der Fall. Schon die Tatsache, daß von den etwa fünftausend Seeschiffen für Handelsverkehr, die Deutschland besitzt, weit mehr als die Hälfte Segelschiffe sind, wenn ihr Raumgehalt auch geringer ist, wird euch in Erstaunen setzen. Natürlich ist der Dampfer dem Segler in vielen Beziehungen außerordentlich überlegen und hat ihn denn auch an den wichtigsten Stellen verdrängt.
Ein Dampfschiff mit großen Maschinen vermag meistens sehr viel geschwinder zu fahren. Es ist verhältnismäßig wenig abhängig von Wind und Wetter und kann, wenn man will, so große Abmessungen erhalten, wie sie beim Segelschiff nicht möglich sind. Überall dort, wo es darauf ankommt, Menschen oder kostbare Güter möglichst rasch und unter Einhaltung einer vorher bestimmten Fahrzeit zu befördern, hat der Dampfer den unbestrittenen Vorrang. Aber gerade wie beim Verkehr der Eisenbahnen herrscht auch auf der See die Beförderung von Lasten vor, die Personenbeförderung spielt dagegen nur eine kleine Rolle, wenn sie uns auch naturgemäß am meisten auffällt; und unter den Lasten überwiegen wieder die Massengüter.
Es sind dies im Gegensatz etwa zu einzelnen Kisten, Maschinenteilen, Kraftwagen, Möbeln, Tieren, von denen jede einzelne Gattung immer nur in verhältnismäßig geringer Zahl 47 auftritt, solche Güter, die stets in großen Mengen von ganz gleicher Beschaffenheit zur Verfrachtung gelangen. Wir wollen hier zum Beispiel an die ungeheuren Getreidemengen denken, die aus Amerika und Australien ständig nach Europa kommen, an den Salpeter, den wir aus Chile zum Düngen unserer Äcker holen, an den Reis aus China, edle Hölzer, Erden, die der Chemiker gebraucht, und manches andere. Bei diesen in ihren einzelnen Teilen weniger kostbaren Gütern kommt es nicht so sehr darauf an, sie möglichst rasch, wie möglichst billig nach Europa zu bringen. Das Segelschiff fährt zwar langsamer, aber es verbraucht keinen Betriebsstoff. Im Dampfer wird die Antriebskraft – nun wodurch erzeugt?
Peter: Durch Dampf.
Vater: Das ist richtig, aber womit wird der Dampf gemacht?
Peter: Das weiß ich nicht.
Johannes: Aber ich! Mit Kohle.
Vater: Gut. Der Dampfer verbraucht also Kohle, wenn er fährt, und die kostet viel Geld. Der Antriebsstoff für das Segelschiff aber ist –?
Johannes: Der Wind. O fein, der kostet nichts!
Vater: Daher kommt es also, daß Segelschiffe, auch wenn sie sehr viel länger reisen, die Massengüter bedeutend billiger nach Europa bringen, und deshalb sind ihrer immer noch so viele auch bei großen Fahrten tätig. Die Reisedauer bei Segelschiff- oder Dampferfahrt ist freilich sehr verschieden. Das Dampfschiff kommt zum Beispiel aus Valparaiso in Chile in sechs Wochen nach Hamburg, während das Segelschiff mehr als elf Wochen gebraucht.
Das Fahrzeug, auf dem Robinson sich befand, hatte Eisendraht und Eisenbleche geladen, um sie nach Australien zu bringen. Für die Rückfahrt wollte es alsdann Getreide und Rinderhäute nehmen.
Kaum zwei Stunden nachdem Robinson sich zu der großen Reise entschlossen hatte, steuerte das Schiff auf die englische Küste zu. Der hohe Felsen von Dover mit der schmalen Einfahrt in den Hafen wurde sichtbar. Der Kapitän ließ die Segel zusammenfalten, reffen, wie der Seemann sagt, und den 48 Anker fallen. Zwei Boote wurden niedergelassen, und die schiffbrüchige Mannschaft stieg hinein. Alle Matrosen kamen noch einmal zu Robinson und schüttelten ihm die Hand. Zuletzt trat der Kapitän des untergegangenen Schiffs zu ihm und fragte, ob er nicht doch lieber mit ihm an Land gehen wolle. Er kehre schleunigst nach Hamburg zurück, um dort dem Besitzer des untergegangenen Schiffs, dem Reeder, Bericht zu erstatten. Wenn Robinson wolle, könne er sich ihm anschließen.
Dieser wurde noch einmal schwankend. Denn wie eine Klammer legte sich von neuem der Gedanke um sein Herz, daß er sich nun so schrecklich weit von seinen Eltern entfernen solle. Auf einmal, wo die Küste so unmittelbar vor ihm lag, erschien es ihm ganz unmöglich, ein Wagnis wie die Fahrt nach Australien zu unternehmen.
Ursula: O weh, nun wird er doch noch aussteigen, und dann kann die Geschichte sicher nicht so schön fortgehen!
Vater: Schon wollte Robinson den Mund öffnen, um zu sagen, daß er mit nach England käme, da schaute er um sich und sah die Augen der Matrosen des neuen Schiffs spöttisch auf sich gerichtet, weil sie offenbar nicht glaubten, daß ein so junger Mensch eine solche Fahrt wagen würde. Schnell richtete er sich da empor und rief: »Nein, ich fahre mit nach Australien!« In diesem Augenblick war es weit mehr der Hochmut als die Wißbegierde, was Robinson hinaustrieb. Später, als er die Folgen dieses Entschlusses übersehen konnte, dachte er oft mit Schmerz daran, daß er sich in der entscheidenden Stunde von einem häßlichen Gefühl hatte übermannen lassen. Wir sollen unsere Handlungen nur danach einrichten, ob sie gut oder schlecht sind, nicht aber, ob sie uns vorübergehenden Ruhm bei Menschen eintragen, denen unser Ergehen im Grunde doch gleichgültig ist.
Die Boote stießen also ab, fuhren in den Hafen von Dover hinein und kamen nach einiger Zeit leer zurück. Sie wurden hinaufgezogen, der Anker stieg, und bald füllte ein kräftiger Wind die weit ausgedehnten, mächtigen Segel des Schiffs.
Robinson befand sich auf der Ausreise in den fernsten Erdteil. 49