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War es Vision? Allegorie? Lebewesen? Das möge sich jeder ausmalen, wie's ihm beliebt. Genug, er saß mir gegenüber, ich konnte mit ihm Rede und Gegenrede wechseln. Er machte einen äußerst robusten Eindruck, schien indes merklich verstimmt. »Worüber klagst du eigentlich?« fragte ich ihn.
»Nicht über meine Gesundheit, selbstverständlich,« entgegnete er. »Die ist seit Jahrtausenden eisenfest und kann überhaupt niemals erschüttert werden. Aber ich habe Aerger. Mir ist ein Feind aufgetreten, der mich bedrängt und mir die Alleinherrschaft bestreitet. Die neueste Wissenschaft hat mir Krieg angesagt! Man sollte es nicht für möglich halten, und doch ist es so: diese Wissenschaft stellt Lehrsätze auf, verkündet angebliche Wahrheiten, die mir gerade ins Gesicht schlagen. Ich, der gesunde Menschenverstand, werde rebellisch und versetze mich in Boxerpositur. Aber meine gesunden Faustschläge treffen ins Leere, und ich verliere zusehends an Terrain.«
»Damit wirst du dich eben abfinden müssen. Du hältst es noch, wie Schiller sagt, mit dem ewig Gestrigen, während der Sieg dem Unbegriffenen von Morgen zufällt. Radikal umlernen! heißt die Parole. In der Wissenschaft setzt sich nicht das einfach Glaubhafte durch, sondern das Unwahrscheinliche.«
»Aber von mir soll man nicht verlangen, daß ich das mitmache. Ich lasse mich nicht vergewaltigen, besonders nicht von der Relativitätstheorie. Ist es erhört? Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sollen »relative« Begriffe sein, Früher und Später vertauschbar? Weißt du, was das bedeutet? Laß dir's auf meine Art erklären: du ißt zum Frühstück ein Ei: morgen gehst du auf den Markt und kaufst das Huhn, welches dir das Ei legen wird, das du heute ausgelöffelt hast. Oder du schießt 'nen Hasen; mit einer Flinte, die den Hasen tötet, ehe sie losgeht, die losgeht, ehe sie geladen wird, und die du laden kannst, bevor noch der Büchsenmacher existierte, der diese Flinte gemacht hat. Da hast du die Relativität der Zeit! Rede mir doch nicht von Unwahrscheinlichkeit in Dingen, wo ich, der gesunde Menschenverstand, die blanke Unmöglichkeit erkenne!«
»Und wie hast du dich verhalten, mein lieber Menschenverstand, als andere Lehren, Entdeckungen und Erfindungen, sich durchzusetzen begannen? Als zum Beispiel die Wissenschaft unsere flächenhaft aussehende Erde für eine Kugel erklärte? Blättre in den Chroniken, und du wirst die Rolle finden, die du andauernd gespielt hast. Deine gesunde Denkweise verwarf die Möglichkeit der Antipoden; sie verwarf das Kreisen der Erde im Universum; sie überlieferte den Galilei der Inquisition und spedierte seine Gesinnungsbrüder auf die Scheiterhaufen; sie erklärte die Erfinder des Dampfschiffs, des Telegraphenkabels, der Steilbahn für Tollhäusler. Sagen wir es rundweg heraus: du hast dich durch die Jahrhunderte unausgesetzt blamiert!«
»Der Ausdruck muß als viel zu schroff abgelehnt werden. Ich gebe zu, daß ich mich wiederholt geirrt habe, weil ich eben menschlich bin und der Irrtum zum Wesen der Menschheit gehört . . .«
»Aber du pochst nach wie vor auf deine unverbrüchliche Gesundheit, und du gelangst niemals zu der einen Haupt- und Grundwahrheit, daß du nämlich nicht in einem einzigen Falle eine wirkliche Erkenntnis der Dinge zu erreichen imstande bist.«
»Oho! Die Philosophie, die Logik und die Mathematik sind doch mein Werk!«
»Vielmehr das Werk bevorzugter Geister, die sich, wie Kant, meist sehr abfällig über den ›gesunden Menschenverstand‹ geäußert haben. Ehedem ist gesagt worden: ›Die Mathematik ist die Wissenschaft von dem, was sich von selbst versteht‹. Das Wort hat sich gründlich überlebt. Heute sind wir nahe daran, etwas ganz anderes zu erklären: die gesamte Wissenschaft ist die Kenntnis von dem, was sich nicht von selbst versteht; die Kenntnis von dem, was gegen die Selbstverständlichkeiten des gesunden Menschenverstandes erkämpft werden mußte.«
»Ja, zum Teufel, wieso beglaubigt und rühmt man denn seit Urzeit meine Gesundheit?«
»Wer rühmt und beglaubigt? Die Welt? Hast du je den Sinn der Weltgeistrede begriffen? Nein, mein Lieber, du selbst und nur du hast dir dein Gesundheitsattest ausgestellt, es trägt kein anderes Siegel außer dem deinigen. Und daß solch selbstgefertigtes Zeugnis ohne Kontrolle anderer Denk-Instanz wertlos ist, um das einzusehen, genügt ja wohl ein Fünkchen gesunden Menschenverstandes!«