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Eigentlich hätte ich es mir selbst sagen müssen, daß ich in meinem etwas verstrolchten Aufzuge als bescheidener Ferienbummler da nicht recht hineinpaßte. Allein von der prachtvollen Front des Alpenhotels am smaragdgrünen See ging ein magnetisches Fluidum aus, und ich unterlag der Verlockung, mich den Reizen des »Grand Hotel Charmant« anzuvertrauen. Trat ein und wandte mich an den Portier mit dem Ersuchen, mir ein ganz einfaches Zimmer anzuweisen. Mir schwebte dabei eine Preislage von 3 Francs vor, das konnte ich noch erschwingen; und das Bewußtsein, einmal in einem so herrlich gelegenen, luxuriösen Gasthof zu wohnen, war sogar 3 Francs und 50 Centimes wert.
Da ergab sich zunächst ein Instanzenzug. Denn der Mann, an den ich geraten war, bekannte sich nur zur Stellung eines Unterportiers. Dieser überlieferte mich dem Vizeportier, und so gelangte ich im Zuge der Verhandlungen an den Oberportier, an den Haupt-Concierge, und schließlich an den Maître d'Hôtel, der mich in ein respektgebietendes Bureau leitete. Hier thronten drei vornehme Beamte, die eigentlichen Minister der gasthöflichen Angelegenheiten, und sie gaben mir zu verstehen, daß der Eröffnung der Audienz nichts im Wege stünde.
– »Wollen Sie die Freundlichkeit haben, mein Herr, uns Ihre Empfehlungen vorzulegen!«
»Wieso Empfehlungen?«
– »Wir nehmen in der Regel nur solche Gäste auf, die persönlich durch direkte Referenzen an uns adressiert sind. Wir wollen indes im vorliegenden Fall eine Ausnahme machen. Beabsichtigen Sie, die ganze Saison hierzubleiben, oder nur einige Wochen?«
»Ach nur auf ein paar Tage, drei allerhöchstens.«
– »Sie verkennen den Charakter dieses Hauses. Sie befinden sich hier nicht in einer Unterkunftshütte oder in einer Herberge für Wandervögel. Zwei Wochen wären das mindeste. Unter dieser Voraussetzung wollen wir Ihr großes Gepäck von der Station der Drahtseilbahn herbefördern lassen.«
»Ich habe nur diese Handtasche und bin zu Fuß heraufgekommen.«
Der Fall schien ebenso neu als schwierig, und die drei gestrengen Herren wußten offenbar nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Noch war es Zeit für mich, durch einen raschen Verzicht die Situation zu klären. Mit einer kurzen Kehrtwendung wäre ich frei gewesen und brauchte kein weiteres Examen über mich ergehen zu lassen. Allein ich unterlag bereits jener nervösen Lähmung, die als »Hotelosis« die Aufmerksamkeit der Pathologen verdient. Die Symptome dieser Hotelosis treten nur in Gastpalästen allerersten Ranges auf, hervorgerufen durch den Druck imponierender Gewalten, die den Passanten dämonisch ergreifen. Ich wollte erklären, daß ich mich in der Adresse geirrt hätte, und dies Bekenntnis blieb mir im Halse stecken. Ich wollte fort, und ich blieb, um erst auf einem Zimmer, das ich unter schleierhaften Bedingungen bezogen hatte, zum dämmernden Bewußtsein meiner Lage zu gelangen.
Ein Wandanschlag verkündete: Preis des Zimmers pro Woche 50 Francs. Service, Beleuchtung, Heizung extra.
Bei Abreise sind die Zimmer bis 11 Uhr vormittags zu räumen, da sonst die Miete noch für die folgende Woche berechnet wird.
Werden die Mahlzeiten nicht im Hotel eingenommen, so erhöht sich der Zimmerpreis um 30 Prozent.
Diner und Souper ohne Wein 2 Francs Aufschlag.
Während der Nachtstunden sowie nachmittags von 2 bis 4 Uhr darf in den Zimmern weder gesungen noch laut gesprochen werden. Türen und Fenster sind leise zu schließen.
Das Rauchen in den Korridoren wie überhaupt in sämtlichen Gasträumen mit Ausnahme des Fumoirs ist untersagt.
Im übrigen sind die geehrten Herrschaften gehalten, die im Vestibül angeschlagene Hausordnung unweigerlich zu befolgen.
So viel Zeilen, so viel Drohungen! Das Ganze las sich wie ein Anhang zum Strafgesetzbuch. Hatte ich in jenen Jahren auf langen Bergwanderungen über Matten, Fels und Gletscher die Freiheit nach allen Dimensionen durchgekostet, so fühlte ich mich jetzt unter dem Zwange einer drakonischen Verfassung, die meinen Willen und mein Portemonnaie gleichmäßig belastete. Hier wurde offenbar mit höherer Algebra gearbeitet. Bis zu welcher Höhe würde wohl mein Defizit gedeihen? Die Kopfrechnung reicht hierfür nicht aus, also machen wir einen schriftlichen Ueberschlag. Das zum Stubeninventar gehörende Tintenfaß besitzt eine besondere, sicherlich in mehreren Kulturstaaten patentierte Konstruktion, die es ihm ermöglicht, sofort umzufallen und die reizende Tischdecke radikal zu verschmieren. Ein derartiges Ereignis war voraussichtlich in den Hausgesetzen als ein Kapitalverbrechen mit wenigstens 100 Francs Buße verzeichnet. Und dazu scheint die Sonne noch so impertinent, hohnlachend und verräterisch auf die frischen Tinteflecken! Ich versuchte deshalb, den in schweren Stoffwolken gewellten Fenstervorhang herunterzulassen.
»Der Versuch ist strafbar,« heißt eine oft wiederkehrende Zeile im Kriminalregister; und die Richtigkeit dieser Floskel trat auch hier evident zutage, indem sich die ganze Rollmaschinerie am Fenster beim ersten Versuch aus dem Gestänge löste und mit betäubendem Geräusch herabpolterte. Und mit solchen herostratischen Freveln wagte ich hier in der ersten Minute zu debütieren, ich, der Tourist ohne Gepäck, von dem das Hotel fortgesetzte Proben der Demut und Bescheidenheit erwartete!
Es erschien mir geraten, mit einem Akt der Selbstanzeige hervorzutreten und mich offen zu meinem Vandalentum zu bekennen, um mir dadurch wenigstens die Möglichkeit mildernder Umstände offen zu halten. Ich klingelte also.
Das heißt: ich wollte klingeln. Aber aus Versehen erwischte ich statt des läutenden Druckknopfes das kleine an der Wand befindliche Knipsinstrument, das die elektrische Beleuchtung reguliert. Im Nu erstrahlen sechs Glühbirnen im Zimmer. Da dieses Phänomen durchaus nicht in meiner Absicht liegt, so schraube ich wieder zurück, ohne den gewünschten Effekt zu erzielen. Ich bearbeite nunmehr den Knipser nach allen Richtungen, zehnmal zurück, zwanzigmal vorwärts, allein die fatale Glüherscheinung blieb in bösartiger Beharrlichkeit bestehen. Endlich entdeckte ich den Druckknopf, der die Bedienung ruft; alsbald erschien an der Schwelle ein eleganter Kellner in der Haltung eines Grandseigneurs von Geblüt.
»Ach bitte, ich habe aus Versehen das elektrische Licht angezündet, Sie können das wohl wieder ausmachen.«
Der Kellner begann an der Wand zu operieren, stutzte und erklärte mit amtlicher Betonung: »Hier ist etwas kaputtgemacht, das muß ich melden.«
Die Meldung hatte das Auftreten eines neuen Offizianten zur Folge, der anscheinend mit den Vollmachten eines Untersuchungsrichters ausgestattet war. Der übersah das Feld meiner Tätigkeit und äußerte mit den Akzenten eines Staatsanwalts: »Sie haben die Gardine herabgerissen, mein Herr! Wir werden wegen des Tapeziers einen Eilboten nach der nächsten Ortschaft expedieren. Was die elektrische Leitung betrifft, die Sie überdreht haben, so liegt die Sache leider nicht so einfach: der Elektrotechniker wohnt in der Stadt, er ist zurzeit unabkömmlich und kann vor Ablauf der Woche nicht hier sein. Bis dahin wird das Licht auf Ihre Kosten brennen müssen. Eine neue Tischdecke wird unverzüglich auf Ihr Zimmer befördert werden. Diese hier, die Sie ruiniert haben, kommt auf Ihre Nota.«
»Wird das sehr teuer sein?« fragte ich kleinlaut.
»Teuer ist ein relativer Begriff. Unsere Gäste gehören in der Regel zur Oberschicht der europäischen Gesellschaft und pflegen im allgemeinen hier nichts teuer zu finden. Freilich, wenn man mit einem Ränzchen über die Berge zieht, sollte man nicht den Ehrgeiz haben, im ›Grand Hotel Charmant‹ zu wohnen!« Mit dieser von Weltweisheit triefenden Sentenz empfahl er sich.
Ich faßte den Gedanken an Flucht. Mochte man mich auch für einen Vagabunden halten, – nur hinaus! Ich öffnete die Tür – niemand auf dem Korridor. Aber als ich bis in die Nähe des Treppenabsatzes gelangt war, hörte ich Tritte. Mir war es, als riefen mir Geisterstimmen die Verdammungsworte: »Hotelpreller! Gauner!« entgegen. Ein Schwindelanfall kam über mich, ich verlor den Halt, stürzte etliche Stufen hinab, fiel auf einen Menschen, der ein riesiges Tablett balancierte, riß ihn in die Tiefe, während ringsum Teller und Flaschen aufkrachend zersplitterten. In einer Sekunde erfaßte die menschliche Lawine noch eine dritte Person, und so zum Klumpen verknäult, wälzten wir uns talwärts bis zum Ende des Treppenabsatzes.
Das ganze Haus geriet in Aufruhr. Man schrie, sprang bei, richtete die Niedergebrochenen auf. Nein, es war nicht ans Leben gegangen, wir konnten uns ohne Gliederbruch erheben.
Aus der hinabgedonnerten Gruppe löste sich das dritte Mitglied der Lawine mit dem höchst rätselhaften Anruf: – »Mein Herr, ich danke Ihnen!«
Ich starrte fassungslos. Meine Blicke glitten von der Verwüstung, die ich angerichtet hatte, zu dem Menschen mit der merkwürdigen Orakelstimme, der sogleich fortfuhr:
»Ich bin der Besitzer dieses Hotels, und es drängt mich, Ihnen zu sagen, daß ich Sie als meinen Wohltäter betrachte. Lassen Sie sich erzählen: Vor zwei Monaten etwa verlor ich infolge eines plötzlichen Schrecks die Sprache. Alle Anstrengungen der Aerzte sind bis heute fruchtlos geblieben. Ein Professor aus Zürich hat von Anfang an behauptet, daß nur ein neuer Schreck mich kurieren könnte, und nun ist es wirklich so gekommen. Sie, mein Herr, hatten den vorzüglichen Einfall, hier die Marmortreppe hinunterzukugeln und mich in Ihren Sturz zu verwickeln, mitten in dieser dröhnenden Katastrophe entrang sich ein Schrei meiner Kehle, die Stimmbänder wurden locker, und wie Sie hören, die Sprache ist wieder da. Ich hoffe, Sie werden mir das Vergnügen machen, mir zu sagen, womit ich mich erkenntlich zeigen kann.«
Durch den Kopf zog mir das Register meiner Hotelfrevel, für die mir solche Botschaft Freispruch verhieß. Ich erbat daher freien Abzug aus dem Luxushaus, in dem ich kein Bett berührt und keinen Bissen gegessen hatte.
»Gewiß,« erklärte der Chef, »ich werde Ihnen entgegenkommen, soweit es sich nach den Geschäftsprinzipien meines Etablissements ermöglichen läßt. Sie haben im Bureau lediglich Zimmer nebst Pension für einen einzigen Tag zu begleichen, und was den Materialschaden anlangt, so soll Ihnen alles in allem nur die Kleinigkeit von 10 Francs auf Nota gesetzt werden!«