Alexander Moszkowski
Von Genies und Kamelen
Alexander Moszkowski

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Die Krone der Meisterwerke

Nenne mir, Muse, das Werk und tränke mich mit Begeisterung, auf daß ich würdig seine Schönheiten herausstelle, wie es sich zu seinem Jubiläum gebührt. Feiern wir doch in ihm ein Fest der Literatur, das durch eine Jubelausgabe gekennzeichnet wird. Vor mir liegen die Gedenkblätter, die an seine Geburtsstunde vor nunmehr fünfundsiebzig Jahren erinnern.

Wie, Muse, du willst Einwendungen erheben? Du meinst, drei Vierteljahrhunderte reichen noch nicht aus zur Probe auf die Unsterblichkeit? Ja freilich, die klassischen Meisterwerke der Literatur können sich einer höheren Betagtheit rühmen. Die Homerische Ilias zum Beispiel, die Dramen des Sophokles haben ihren Bewährungsnachweis durch die Jahrtausende erbracht. Ja, Muse, nach dem Kalender mag das schon stimmen, nicht aber in Anbetracht des inneren künstlerischen Wertes. In dieser Hinsicht steht das Werk, das ich preisen will, höher auf dem Parnaß.

Verständigen wir uns über die Grundlage: ich rede von der Jubiläumsausgabe des Deutschen »Reichskursbuches«. Und ich werde dir beweisen, daß dieses eigentlich recht internationale Werk von keinem andern an Gediegenheit und poetischem Gehalt übertroffen wird.

Prüfen wir also nach den Aristotelischen Gesichtspunkten, die, wie dir bekannt, für jedes erhabene Kunstwerk drei Einheiten voraussetzen: zuerst die Einheit des Ortes. Da könnte nun allerdings ein oberflächlicher Beurteiler erklären, daß in diesem Reichskursbuch von Einheitlichkeit der Lokalität nicht viel zu spüren ist. Im Gegenteil prahle es als universales Eisenbahn- und Schiffsregister geradezu mit einer Vielfalt des szenischen Aufbaues. Zugestanden! Auf unzähligen Fahrplänen wechselt es den Schauplatz der rastlos dahinstürmenden Begebnisse mit so radikaler Konsequenz, daß kein bewohnter Ort der Erde, alphabetisch von Aachen bis Zwolle, darin ausgelassen wird. Aber gerade darin liegt der Triumph des Einheitsprinzips: das Kursbuch atomisiert die Welt, um alle geographischen Atome zur höheren Einheit zusammenzufassen. Sämtliche Schauspiele der Weltliteratur können mit ihren Schauplätzen in einem einzigen Exemplar dieses Wunderwerkes untergebracht werden. Niemand wird im Aeschylos, im Shakespeare, im Schiller, im Bernard Shaw eine Landschaft nachweisen können, die hier fehlt, und um all diese Landschaften schlingt sich die Girlande des Verkehrs, der Reise, der Fahrtenlust. Und man braucht sich keineswegs auf die Dramen zu beschränken, alle klassischen Epen finden in diesem Werk ihre touristische Spiegelung, das Ganze wird zu einer restlos erschöpfenden Odyssee, sein Feld ist die Welt!

Noch glänzender strahlen seine Vorzüge, wenn man die anderen Kunstbedingungen des Aristoteles als Maßstäbe anlegt: die Einheit der Zeit und der Handlung. In einem einzigen Sonnentage überwiegend mitteleuropäischer Normalzeit rollt sich die ganze, ungeheure Handlung ab, zu deren Bewältigung Millionen von Pferdekräften auf Schienen und Wasserwegen aufgeboten werden. Das imponierende Werk so vieler völkerverbindenden Blitzzüge, das zarte Idyll beschaulicher Bummelzüge, alles erscheint eingebettet in die 24 Stunden eines Tages, dessen Nachtzeit durch Unterstreichung der Minutenziffern sanft abgeschattet wird. Und durch das verwickelte Getriebe der weltumspannenden Begebenheit schreitet aufrecht und machtvoll ein einziger Held, der die Einheit der Handlung verkörpert: dieser Heros des Buches, zugleich der Zeit und der Menschheit, ist der Kilometer, wie schwächlich, wie zufällig nehmen sich, an ihm gemessen, alle Figuren aus, alle Personen, die uns die sonstige Kunst als wichtig und interessant aufreden will, was bedeuten Achill, Borgia, Napoleon gegen diesen Helden, der auf dem ganzen Planeten das Maß des Geschehens liefert? Seht ihn euch an auf den Tabellen, wie er sich an einer Stelle zu Null-Komma-Null verjüngt, um in überraschendem Krescendo bis zu dreistelliger Gewalt anzuschwellen und wie ein Titan durch die Kolumnen zu brausen! Welch ärmliche Rolle spielt sogar ein Faust gegen den dramatischen Kilometer! Um die lumpige Strecke von Wittenberg nach Leipzig zu bewältigen, braucht er die Hilfe eines Teufels, die Umständlichkeit eines mit Feuerluft geheizten Zaubermantels, und um den Hexensabbat auf dem Brocken dicht nebenan zu erreichen, muß er sich zuvor der Hölle verkaufen. Damit vergleiche man die Strecken, die der Kilometer vor unseren Augen abwickelt, quer durch Europa und Asien, wie angeborne Selbstverständlichkeiten, wie Emanationen seiner selbst, ohne aufgedunsenen Effekt und zeiteinheitlich bis auf die Minute! Nein, dagegen kommt keine Figur klassischer Herkunft auf, da sie allesamt in Raum und Zeit nur stümperhaft andeuten, was der Kilometer auf allen Zeiten in vollendeter Meisterschaft verwirklicht.

Und wie erst löst dieses Buch alle Probleme der Psychologie, der soziologischen Zusammenhänge, der Charakterzeichnung in weitestem Ausmaß! Um es mit einem Wort zu sagen: das Kursbuch tritt durchweg als der Herold der Wahrheit auf, deren Kennzeichen die Einfachheit ist – simplex sigillum veri! Auf die bekannten Kunstgriffe der Dichter, die mit heißem Bemühen charakterisieren und nuancieren wollen und mit allem Wortgedeutel doch niemals die Deutlichkeit erreichen, läßt sich das Kursbuch gar nicht ein. Statt sich in Knifflichkeiten zu verlieren, arbeitet es mit der Methode mathematischer Genauigkeit, welche den Charakter der Sache evident bis zur Sonnenklarheit herausstellt: Eine feine, kaum merkliche Doppellinie, ein fetter, ein punktierter Strich verraten uns ohne Winkelzüge Vornehmheit und Plebejertum, aristokratische, bürgerliche und proletarische Veranlagung sämtlicher Züge. Kein einziger Charakter ist da falsch gesehen, schief aufgefaßt oder mit unzureichenden Mitteln erläutert. Der dünne Doppelstrich führt uns wie mit einem Zauberschlag die üppige, elegant gepolsterte, mit Spiegeln verzierte erste Wagenklasse auf die Szene, zugleich das Abbild der verwöhnten Welt, die alle Steigerungen der Tarife und die teuersten Paßvisa bequem erschwingt. Der Lebenskünstler auf Rädern erscheint hier, eilfertig, genußsüchtig, nicht gewohnt, sich bei Kleinigkeiten aufzuhalten. Und mit der nämlichen Stilmeisterschaft malt uns der Autor durch eine einzige beredte Seitenlinie den schlendernden Vagabunden, den Bummler, der an keinem Dorfkrug vorbei kann, ohne mit 15 Minuten Aufenthalt zu rasten, eine beschauliche Natur, in der die Charaktere dritter bis vierter Klasse vorherrschen.

Hier bemerkst du eine sinnige Hieroglyphe, die den träumerischen Reiz des Schlafcoupés ahnen läßt, dort ein fast mikroskopisches Runenzeichen, das vom Speisewagen erzählt und aus dem es magisch nach Omelette mit Tomaten und Bratensauce duftet. Wie prägnante Leitmotive treten diese Signale auf, nur daß kein Wagnersches Leitmotiv so treffsicher die Stimmung erfaßt, wie die winzigen typographischen Zeichen im Kursbuch.

In der Behandlung der Landschaft erhebt sich das Werk zu ehrfurchtgebietender Höhe. Freilich muß man sich erst tief hineinlesen, ehe man spürt, wie sich hier zahllose künstlerische Feinheiten zur großen Dominante einer wahrhaften Malerei zusammenschließen. Beim ersten Blick könnte es scheinen, als ob der Autor die Landschaften allzu objektiv behandelt und in der Gründlichkeit der Beschreibung keinen Unterschied macht, gleichgültig, ob er uns eine Fahrt über den Gardasee, durch die Pußta, über den Semmering oder durch das ostpreußische Flachland schildert. O wie billig sind da die Notbehelfe, mit denen sich die zünftigen Poeten durch die ganze Stufenleiter von grauer Melancholie bis zur lodernden Begeisterung tragen lassen! Der echte Künstler steht auf höherer Warte: mit der Hülle generalstäblerischer Gleichgültigkeit verkleidet er seine verhaltenen Emotionen, unter der sichtbaren Schwelle seiner Skizzen klingt es, zwischen den Zeilen der Fahrpläne brodelt die Stimmung, und sein leisester Anruf genügt, um vor dem inneren Auge des Lesers eine Reihe kosmischer Bilder aufleuchten zu lassen. Wessen Phantasie wäre träge genug, um sich nicht zu beflügeln, wer könnte ungerührt bleiben bei der Botschaft: »Ab Interlaken 9 Uhr 35 Minuten – in Lauterbrunnen 10 Uhr 2 Minuten – Wengernalp 11 Uhr 17 Minuten – Eigergletscher 1 Uhr 25 Minuten – Jungfraustation Eismeer 2 Uhr 7 Minuten«? Wo fänden sich in aller Literatur drei Zeilen, deren sachliche Form soviel entzückende Verheißung umschlösse? Wie weitschweifig muß Lord Byron zu Werke gehen, um uns von der Wengernalp unter Anrufung der Alpenfee in die Geheimnisse der Gletscherwelt blicken zu lassen, und wie wenig erreicht er auf allen verkünstelten Umwegen! Hier im Kursbuch wird der Leser direkt angerufen, aus der Tiefe seines Bewußtseins erheben sich augenblicklich die Phantome des gepackten Koffers, des gelösten Fahrbilletts, er braucht nur zu wollen, und am nächsten Tage um 2 Uhr 7 Minuten steht er auf einem Punkte, der sogar dem Dichter der Wengernalp trotz aller Evokationen verschlossen blieb.

Gewiß, man kann im Reichskursbuch auch an die Kehrseite der Freude geraten, an Stationen mit den Namen: »Einöd, Höllsteig, Elend, Sorge, Herbesleben, Caputh und Großwanzleben.« Aber ebenso leicht läßt sich darin eine besonnte Strecke kombinieren mit allen Seelenschwüngen rosiger Laune, mit Verliebtheit, süßem Getändel und fröhlichen Eheresultaten, entsprechend den Haltepunkten: »Liebenwerda, Frauenhain, Hof, Galantha, Herzfeld, Hochzeit (Ortschaft in Brandenburg), Küßnacht, Bubenheim, Elterlein.« Stelle das Problem wie du willst, und du wirst Erfüllung finden in diesem einzigen Makrokosmos aller erdenklichen Zustände und Begebenheiten.

Und nun erzähle mir einer, daß er irgendwo im Schrifttum ein bedeutenderes Werk wüßte, als dieses Hohelied des Weltverkehrs, dessen Jubelausgabe wir erwarten! Horaz redet verzückt von einem Buch, in dem man unablässig bei Tag und Nacht blättern müsse: »nocturna versate manu versate diurna!« Wie würde er erst geschwärmt haben, wenn er dieses Juwel der Literatur gekannt hätte!

 


 


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