Alexander Moszkowski
Von Genies und Kamelen
Alexander Moszkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Symphonie auf dem Gorner Grat

Ich hatte am Abend vorher Veronal genommen, und das wirkte noch bis zum Nachmittag, wo mich eine lethargische Müdigkeit auf dem Sofa festhielt. Aber da bekam ich Besuch. Es war nämlich mein Geburtstag, und mein Freund, der ausgezeichnete Techniker Konrad Sturm, erschien bei mir, um zu gratulieren und ein Präsent in Gestalt eines hübschen Kästchens abzuladen. Schön' Dank, lieber Konrad, sagte ich, stell's nur da auf den Schreibtisch und sei nicht böse, wenn ich dich nicht ausführlicher bewillkommne, ich bin nämlich so furchtbar müde und wollte gern noch ein bißchen nicken.

Aber der Techniker wollte mir doch sein Geschenk erläutern und begann einen Vortrag, von dem mir nur verschwommene Laute ins Bewußtsein drangen. Im Dusel vernahm ich seine Erklärung: das Kästchen, seine neueste Konstruktion, von der ich das erste Exemplar haben sollte; ein Apparat mit dem Titel »Dionys-Radio«, in mythologischem Anklang an das Ohr des Dionys von Syrakus, an jene sagenhafte Grotte, in der man die verborgensten Geräusche der Außenwelt hören konnte. Ich vernahm noch etwas von Antennen, von Vakuum-Röhren, und von einem neuen System Sturmscher Erfindung, das er »Infinitesimal-Röllchen« nannte. Das Radiokästchen sollte Außerordentliches leisten, nicht nur als Schallempfänger, sondern auch als Sender nach beliebig zu bestimmenden Orten, und alles das mit den allereinfachsten Handgriffen.

Damit empfahl sich mein Freund und überließ mich meinen Träumen. Allein nach etlichen Minuten kam mir doch mein Benehmen allzu schlafmützig vor. Ich versuchte mich wachzurütteln, um das reizende Wunder in Gebrauch zu nehmen. Und das schien mir auch zu gelingen.

Ich war also wie gesagt in der Lage, den Apparat auf beliebige Distanzen einzustellen, und hatte es außerdem in der Gewalt, die Richtung zu bestimmen. Kurzum, ich konnte mir im ganzen Umkreis aller örtlichen Gegebenheiten den Punkt auswählen, mit dem ich empfangend und sendend klanglich zu korrespondieren wünschte, immer vorausgesetzt, daß sich in der Nähe dieses Punktes jemand befand, der mit einem brauchbaren Radioinstrument versehen, auf meinen Ruf und auf meine Intentionen einzugehen willens war. Da kam es also auf ein Probierverfahren an. In vielen Fällen konnte es mißglücken, aber das machte ja nichts, denn die Möglichkeiten an sich waren ja unbegrenzt, und selbst bei einem bescheidenen Prozentsatz an Treffern durfte ich auf eine stattliche Anzahl von Anschlüssen zählen. Es würden sich schon genug interessante Stationen finden, die auf meine Absicht reagierten.

Also machen wir den Anfang!

Mir war zumute wie einem, der von einer vagen Reiselust besessen ist, ohne recht zu wissen, wohin. Es gibt da eine ganz praktische Methode, deren ich mich selbst ehedem in ähnlicher Lage mit Erfolg bedient habe: man nimmt ein Kursbuch oder einen geographischen Handatlas und sticht von außen mit einer starken Nadel hinein. Alsdann klappt man den Band nach Zufall auf und ermittelt auf der betreffenden Seite den gestochenen Punkt. Dieser ist dann das Reiseziel, und in den meisten Fällen stellt es sich heraus, daß man wohl daran tat, sich auf den Wink des Schicksals zu verlassen. Man findet an dem Stichpunkt meistens gute Unterkunft, passable Gesellschaft und erschwingliche Preise. Nur ein einziges Mal hatte ich Ursache, diese Methode zu bedauern, als mir nämlich die Stechnadel als mein Wanderziel Monte-Carlo bezeichnet hatte. Denn ich ritt mich dort an der Roulette auf einer Unglücksnummer fest und fand mich nach wenigen Tagen im Zustand trostloser Auspowerung.

Da sich aber das Verfahren von diesem Ausnahmefall abgesehen gut bewährt hatte, so übte ich es jetzt von neuem. Und sogleich erkannte ich, daß mich die Nadel auf aussichtsreiche Fährte leitete: der Stichpunkt der aufgeklappten Seite lag in der Schweiz, im Kanton Wallis, an der Gorner Visp; –: es war Zermatt.

Da hatte ich einen prächtigen Fingerzeig des Fatums. Mit dem Radio das Zermatter Gelände abzuhorchen, das konnte sich schon verlohnen.

Wundervolle Erinnerungen stiegen in mir auf aus meinen touristischen Jugend- und Mannesjahren. Dort hatte ich ja selbst einstmals berauschende Aufstiege unternommen bis hinauf aufs Matterjoch und sogar aufs Walliser Breithorn, wo ich in dem Bewußtsein schwelgen durfte, vier Meter höher zu stehen als Jungfrau-Spitze. Und über die Gletscher war ich in auserlesener Gesellschaft gewandert, mit dem hochberühmten englischen Naturforscher John Tyndall, den mir ein merkwürdiger Zufall als touristischen Genossen angegliedert hatte. Diese Erinnerung ward mir im Moment besonders bedeutsam. Wir hatten nämlich im Gespräch auf der Riffel-Alp auch akustische Phänomene berührt, für die Tyndall ein feinhöriges Ohr und das profundeste wissenschaftliche Verständnis besaß. Ja, der Zufall gab mir noch einen auffälligen Hinweis, denn der Name des Forschers ist für mich mit einem Werke Tyndalls verknüpft, das von der Strahlung handelt und auch wirklich den Titel führt »On radiation«. Das galt mir als Omen in der Stunde, da ich selbst im Begriff stand, eine Radiation auf der Strecke Berlin-Riffelalp auszuprobieren.

Jetzt war alles in der Apparatur genau hergerichtet, nach Wellenlänge, Distanz und nach Richtung. Kleine Fehler in der Einstellung waren immerhin noch nicht ausgeschlossen. Aber die würden sich schon bei der wiederholten Erprobung und bei aufmerksamer Handhabung der Drehknöpfe mit der Zeit von selbst korrigieren, wenn nur die von meinem Freund Konrad Sturm hergestellte Dionys-Maschine exakt funktionierte, woran ich gar nicht zweifelte. Schließlich konnte sich doch der Zufall, der so oft als störender Wegelagerer auftritt, auch einmal als Helfer bewähren. Der Anlaß war doch wichtig genug.

In den ersten Minuten hörte ich nicht das geringste, und meine Anrufe verhallten im Leeren.

Da plötzlich meldete sich eine Stimme: »Halloh! ist dort jemand?« – »Wie Sie sehr richtig vermuten. Hier ist allerdings jemand, der das äußerste Interesse hat, eine Unterhaltung mit Zermatt zu effektuieren.« Ich nannte meinen Namen, entwickelte in aller Kürze meine Absicht und fügte hinzu: »Verständigen wir uns über die Vorbedingung. Mit welchem Erdenfleck stehe ich augenblicklich in akustischer Fühlung? Ist dort Zermatt?«

»Das stimmt so ziemlich. Genauer: Zwischen dieser Ortschaft und dem Riffelhaus. Ich spreche hier aus einem Wagen der Seilbahn, mit der ich soeben zum Gorner Grat emporfahre. Pardon, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt: Quintus Oktavieff, Ingenieur aus Saratow.«

»Ich dachte mir gleich, daß Sie Russe wären; Sie sprechen korrektes Deutsch, allein der sarmatische Akzent schlägt doch durch. Also Ingenieur sind Sie, sehr sympathisches Fach: ich danke einem meiner Freunde von der nämlichen Zunft den Radio-Apparat, der mir das Vergnügen dieser Unterhaltung verschafft. Und was beabsichtigen Sie auf der Höhe des Gorner Grats?«

»Ich will dort Musik hören und Musik produzieren.«

»Da habe ich wohl soeben falsch gehört. Ich verstand: Ingenieur.«

»Und Tonkünstler außerdem. Bei uns in Rußland ist man niemals Musiker schlechtweg, man ist im Hauptfach immer noch etwas anderes. Die großen Männer, deren Unterricht ich genossen habe, sind die bedeutendsten Belege hierfür: bei Rimsky-Korsakow habe ich Festungsbau und Kontrapunkt studiert, bei Borodin angewandte Naturwissenschaft und Instrumentation, bei Balakirew Mathematik und Pianoforte.«

– »Sehr vielseitig. Da komponieren Sie also auch sozusagen?«

– »Leidenschaftlich, besonders auf Reisen. Ich habe beobachtet, daß der Eisenbahnrhythmus die musikalische Fantasie enorm beflügelt und daß besonders der spezifische Rhythmus der Bergbahnen eine geradezu themenbildende Kraft besitzt. Deswegen habe ich gerade auf diese Steilbahn abonniert und darf es befriedigt aussprechen: mir sind hier wirklich schöne und charakteristische Themen eingefallen.«

– »Können Sie mir davon einige vorsingen?«

– »Natürlich: oder noch deutlicher: vorspielen. Gedulden Sie sich nur einige Minuten. Oben auf dem Kulm habe ich ein hübsches Logierzimmer und darin einen Stutzflügel. War gar nicht so einfach, den hinaufzuschaffen, ich habe deswegen bis nach Montreux telephonieren müssen. Ich werde zwischen meinem Klavier und Ihnen den radiophonischen Kontakt herstellen, und dann können Sie ja direkt urteilen. Wenn Sie auf diesem Gebiete bewandert sind, werden Sie nebenbei auch wahrnehmen, daß es mir gelungen ist, die elementaren Naturstimmen der Hochgebirgswelt kompositorisch einzufangen.«

– »Ich glaube Sie zu verstehen, Herr Oktavieff. Sie meinen jene Bergtöne, von denen die Poesie Victor Hugos eine die Sehnsucht so mächtig erregende Vorahnung gibt.« – »Sie sind im Bilde. Es handelt sich allerdings um jene Hochsphärenklänge, die der Dichter in seinem Werk »Ce qu'on entend sur la Montagne« angedeutet hat, mit dem Programm:

Die Welt, gehüllt in diese Sinfonie,
Schwamm wie in Luft so in der Harmonie.

Franz Liszt hat dies schon in seiner ersten sinfonischen Dichtung bearbeitet, aber ungenügend; weil er im Tiefland komponierte und nicht unmittelbar auf der eisigen Höhe. Ich dagegen! Von meinem Fenster auf dem Gorner Grat sehe ich den schrägen Theodul-Gletscher, und wenn dort der Föhn über den feinpulvrigen Schnee fegt, so nehme ich hellhörig wahr, wie die Natur selbst ihre Mysterien komponiert.«

– »Sehr schön gesagt, Herr Oktavieff, aber nicht ganz originell hinsichtlich der möglichen Auswirkung. Unser Großmeister Richard Strauß hat diese klangliche Gletschererscheinung in seiner »Alpen-Sinfonie« bereits unübertrefflich gestaltet.«

– »Sie werden anders taxieren, wenn Sie erst mein Tonstück per Radio erfassen. Was Sie unübertrefflich nennen, ist für mich nur eine Vorstufe zu meinem Non plus ultra. Und woran liegt das? weil Ihr Richard Strauß doch als absoluter Musiker einseitig organisiert ist, ohne die Mannigfaltigkeit des Russen. Der Komponist, wie ich ihn verstehe, muß imstande sein, die heterogensten Elemente zu verbinden, Sonaten und Algebra, Orchestersuiten und Elektrizität, dreistimmige Fugen und vierdimensionale Differentialgleichungen, Streichquartette und Dynamomaschinen, Symphonie und Polarisation. Beherrscht er alle diese Disziplinen, so wird er auch zu weit universaleren Programmen gelangen, als es der Gilde bis jetzt möglich gewesen ist . . .«

– »Ich muß Ihnen gestehen, werter Herr, daß mich das nicht recht überzeugt. Ich sehe vielmehr eine Zeit voraus, in der man die Musik ganz rein destillieren und sich von dem Phantom der Programme gänzlich lossagen wird.«

– »Neu-Berliner Aesthetik! die genau so falsch orientiert ist, wie alle früheren Schönheitslehren, mögen sie auf den Namen Gefühls- oder Formalästhetik getauft sein. Ich will Ihnen sagen, worauf es ankommt: Eine völlig neue Musiksubstanz muß erfunden werden, die imstande sein wird, das Unerhörte zu verkünden. Solange wir uns noch mit den Resten irgendwelcher Altvätermusik herumschleppen, bleiben alle Erörterungen über tonkünstlerische Schönheit Totgeburten. Ja, ich gehe noch weiter: im Umkreis der früheren und heutigen Klangmöglichkeiten sind alle Aesthetiker Idioten!«

In mir stieg Empörung auf, und ich war nahe daran, die ganze Radioverbindung abzubrechen. Allein ich bezwang mich, da mir doch der Russe ein Konzert vom Gorner Grat in Aussicht gestellt hatte, eine Darbietung, auf die ich begreiflicherweise neugierig war. Ich entgegnete daher mit erzwungener Ruhe:

– »Sie drückten das eben etwas schroff aus: ›Idioten‹! Ich glaube kaum, daß Ihnen solch vernichtendes Verdikt zusteht.«

– »Ich kann mich ja auch etwas milder ausdrücken: Ich nehme dazu ein Wort aus unserem Literatenjargon: was die Lehrmeister der Aesthetik vortragen, ist »fumy«.«

– »Das soll vermutlich soviel bedeuten als »Quatsch«.

– »So ungefähr. Alles schöngeistige Gerede fällt unter diesen Begriff, denn es will logisch operieren mit Tonfolgen, das heißt mit Dingen, die an sich absolut unlogisch sind.«

– »Sie übersehen, daß sämtliche große Tonsetzer seit Palestrina bis auf Busoni sich an diesem Gerede beteiligt haben. Ich greife nur einen heraus, den unsterblichen Gluck. Meinen Sie, daß sich auch der über die logischen Fähigkeiten der Musik getäuscht hat?«

– »Gluck? der ganz besonders. Er steckte im dicksten Aberglauben und Fetischismus, wenn er dafür eintrat, daß seine Musik auf seine Texte ausdrucksgerecht paßte.«

– »Welche Blasphemie!«

– »Ihnen erscheint es blasphemisch, weil Sie sich niemals die Mühe gegeben haben, die einzelnen Stellen auf ihre logische Richtigkeit zu prüfen. Ich will Ihnen dazu Beispiele bringen. Hören Sie mal zu, was ist das?«

Er begann eine Melodie zu pfeifen, und ich erkannte durchs Radio ganz genau, was er meinte: »Jawohl, das ist aus Glucks Orpheus, und zwar dessen Arie ›Ach, ich habe sie verloren‹.«

– »Mir sind die französischen Worte geläufiger:

»J'ai perdu mon Euridice,
Rien n'égale mon malheur
. . .«

Das hat Tausende von Menschen zu Tränen gerührt, unter ihnen Jean Jaques Rousseau, und ist trotzdem der pure Blödsinn, wie leicht zu erweisen. Ich verkehre den Text in sein diametrales Gegenteil:

»J'ai trouvé mon Euridice,
Rien n'égale mon bonheur!
«

und nun bitte, singen Sie sich dies nach genau der nämlichen Melodie von Gluck und sagen Sie aufrichtig: paßt sie nicht ebensogut? Paßt sie nicht vielleicht noch viel besser auf den konträren Text? Und ob Gluck, ob Händel, ob Beethoven, es bleibt immer dieselbe Vermischung von Mißverstand und Betrug. Die Musik zum Messias ist fromm, damit will der Aesthetiker doch wohl sagen, die Frömmigkeit steckt in den Noten. O, diese Borniertheit! Händel hat nämlich die allerfrömmsten Noten ganz einfach aus seinen früher komponierten höchst weltlichen, ja sinnlich erotischen Stücken Ton für Ton herübergenommen, abgeschrieben, und während sie zuerst die Ekstasen der Verliebtheit ausdrückten, wurden sie nachher weltentrückt und andächtig, ohne daß sich auch nur ein Notenkopf verschoben hätte. Beethovens Sonate opus 81 ist seinerzeit von allen deutschen Empfindern und Deutern als ein Liebesgedicht in Es-Dur erklärt worden; man ließ sich durch die Ueberschrift »Les adieux, l'absence, le retour« irreführen und zerbrach sich bloß den Kopf darüber, ob das Tonwerk von verheirateten oder nur von verlobten Liebesleuten handelte. Noch der neunmalweise Theoretiker Marx fand in der Komposition den haarscharfen Beweis dafür, daß dies Klangwerk Momente aus dem zwiegeschlechtlichen Liebesleben darstellte, und das Publikum war begeistert, als der spürnäsige Musikschwärmer Lenz im Schluß der Sonate die Lieblichkeit aufschnüffelte: »die Liebenden öffnen ihre Arme wie Zugvögel ihre Flügel«. Was diese ästhetisierenden Weisheitsgimpel nicht gewußt haben, ist die einfache Tatsache, daß der Tonmeister weltenweit davon entfernt war, irgendwelches weibliches Wesen in seiner Sonate zu illustrieren. Vielmehr bezogen sich les adieux und le retour nach Beethovens eigener Niederschrift auf die Abreise und die Ankunft »Sr. Kaiserlichen Hoheit des Erzherzogs Rudolf im Mai 1809 und Januar 1810.« Nicht viel anders ist es bei Richard Wagner. Man kann die Anfangstakte des Tristanvorspiels mit Innehaltung der musikalischen Logik in einer Banalphrase von Flotow fortsetzen, und ein unverbildeter Südländer würde Text und Musik ganz kongruent finden, wenn man ihm die Parsifalstelle »durch Mitleid wissend der reine Tor« nach der Carmen-Melodie »Auf, in den Kampf, Torero« vortrüge. Genug davon! Die Seilbahn stoppt soeben, ich befinde mich in Nähe meines Instrumentes auf dem Gorner Grat und werde Ihnen in wenigen Sekunden aus meinen neuesten Werken vorspielen.«

– »Ich bin aufs äußerste gespannt, möchte aber doch, ehe Sie beginnen, noch eine Auskunft erbitten: arbeiten Sie schon mit der neu zu erfindenden Musikmaterie?«

– »Selbstverständlich, und ich füge hinzu, daß man höher als 3000 Meter über dem Meeresspiegel komponieren muß, um sie zu gewinnen. Ich meine die Tonsubstanz jenseits der Logik, die sich von selbst den kläglichen irdischen Interpretationen entrückt. Oder noch präziser: das klingende Etwas, das sich in seiner immensen Entfernung von allem hergebrachten einem Transzendenzpunkte nähert, wo sich eine ganz neue Logik jenseits der intelligibeln Welt auftut.«

– »Aber Sie sprachen doch zuvor von Themen; verstehen Sie darunter sinfonische?«

– »Das sind belanglose Wortklaubereien. Was ich Ihnen bieten werde, ist gleichzeitig Sinfonie, Oper, Kammermusik, Sphärenkantate in Projektion aufs Klavier. Und wenn Sie absolut ein Programm beanspruchen, so will ich Ihrer verjährten Tradition aus reiner Gefälligkeit entgegenkommen. Sagen wir also meinetwegen, das begriffliche Thema wäre der Universalheros, eine klingende Synthese aller Titanen von Prometheus bis auf Faust.«

Ich lauschte angestrengt. Und wirklich, auf dem fernen Klavier in Walliser Wolkenhöhe begann es zu musizieren. Aber, zum Teufel, was war denn da eigentlich? Kam mir da eine Offenbarung entgegen, Mystisches, Ueberweltliches? Ich traute meinen Ohren nicht! Das war ja der ordinärste Operettenschund, in schmalzigen, knallerballernden, kankanierenden und jazzbandigen Rhythmen, in Schlagerfetzen, die noch dazu aus Offenbach, Suppé, Audran, Millöcker und Lehar zusammengestohlen waren! O, der Kerl hatte ein gutes Gedächtnis, verstand sich auf Kombinatorik und stibitzte nicht ohne Talentlosigkeit. Aber das ganze Sammelsurium, obendrein mit blöde paukender Technik vorgetragen, wirkte hundsgemein und berechtigte schon in den ersten Takten zu den scheußlichsten Hoffnungen. Nein, da wollte ich das Ende nicht erst abwarten nach so fürchterlicher Ueberraschung.

Ich riß die Schallklappe vom Kopfe, warf mich wütend herum, – – – jetzt war es mir, als stürzte ich aus dreitausend Metern Höhe in einen unvorstellbaren Orkus, – ich fiel, fiel – von meinem Kanapee herunter auf die harte Diele – – – und erwachte durch den kräftigen Aufprall.

Alles geträumt? Nein, doch wohl nicht alles. Aus dem Tohuwabohu wirrer Vorstellungen hob sich eine Wirklichkeit: mein Freund, der Ingenieur Konrad Sturm, hatte mich tatsächlich besucht, um mir ein Geburtstagsgeschenk zu stiften. Da stand ja das Kästchen noch auf dem Tische, das war Beweis genug. Aber das war kein Dionys-Radio, sondern, wie ich sogleich beim Aufklappen feststellte, ein Kästchen mit einer Einlage sehr guter Zigaretten. Es enthielt keine neuerfundenen Infinitesimalröhrchen, sondern ganz einfach Tabakröhrchen. Uebrigens auch eine ganz hübsche Erfindung!

 


 


 << zurück weiter >>