Alexander Moszkowski
Von Genies und Kamelen
Alexander Moszkowski

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Die verschlafenen Aktualitäten

Am Bette saßen zwei Kliniker, denen die Familie die Behandlung des eigentümlichen Falles übergeben hatte; sie waren nunmehr im Austausch ihrer Ansichten über das Phänomen begriffen.

»Ich muß gestehen,« sagte der Medizinalrat Professor Zumpe, »daß mir ein so hartnäckiger Fall von Schlafsucht in Berlin noch nicht vorgekommen ist. Dieser Herr Piepvogel schläft nunmehr schon in den vierten Monat hinein, und ist überhaupt nicht zu erwecken. Ich nehme an, daß er sich irgendwo Veronal verschafft und davon eine übermäßige Dosis geschluckt hat, vielleicht zehn Tabletten auf einmal. Das braucht nicht unbedingt tödlich zu wirken, allein ganz unbedenklich ist die Sache doch auch nicht.«

Doktor Schwanthaler ergänzte: »Mich erinnert dieses Krankheitsbild an die afrikanische Schlafkrankheit, die ich selbst vor Jahren im Süden beobachtet habe. Dort entsteht das Leiden, wie Ihnen wohl bekannt, durch den Stich der Tse-Tse-Fliege, und es wäre wohl möglich, daß so eine Tse-Tse sich vom oberen Kongo an die Spree verirrt hat, um hier Herrn Piepvogel zu stechen. Sollte sich diese Vermutung bestätigen, so würde ich die Einspritzung von Atoxyl vorschlagen.«

»Warten wir damit noch eine Woche,« erklärte der Professor, »ich bevorzuge stets den natürlichen Heilungsprozeß ohne künstliche Eingriffe. Ich denke dabei besonders an jenen Irländer, von dem uns die Medizinalgeschichte erzählt. Der Mann schlief vierzig Monate ohne Pause und befand sich nachher beim Erwachen ganz wohl. Freilich hatte er sein ganzes vergangenen Leben total vergessen, er benahm sich wie ein Säugling und rief nach der Amme, die ihm die Milchbrust reichen sollte.«

»O, was das betrifft,« meinte der Doktor, »so hat es noch weit erstaunlichere Fälle gegeben; so zum Beispiel den alten Griechen Epimenides von der Insel Kreta, der als Jüngling in einer Höhle einschlummerte und nach 57jährigem Schlaf als Greis erwachte. Diesen Fall hat ja sogar Goethe dramatisch bearbeitet.

– Und die Goethesche Dichtung hat außerdem zu einem allerliebsten Scherz Veranlassung gegeben; denn als sie hier bei uns aufgeführt wurde, – genau vor hundert Jahren –, tauften die Berliner den Titel um und nannten den Epimenides ulkig genug: »I, wie meenen Sie des?«

»Jedenfalls wollen wir uns an das Beispiel halten als an ein gutes Omen, da jener alte Grieche trotz seiner Schlaf-Episode das fabelhafte Alter von 299 Jahren erreicht haben soll.«

Damit war die klinische Beratung zu Ende, die Aerzte empfahlen sich mit allerlei Trostworten, und die Familie Piepvogel übernahm es sogleich, das Konsilium fortzusetzen. Die Führer des Gesprächs waren nunmehr die Gattin Emma, der Sohn, Studiosus Kunz, und die Tochter Hulda Piepvogel.

»Eben hat sich Papa ein bißchen bewegt,« sagte Hulda; »ihr sollt mal sehen, es wird noch alles gut, und er kommt bald wieder zu Bewußtsein.«

»Wahrhaftig, ich glaube, die Hulda hat recht; guckt nur, er regt sich wirklich – er dreht sich sogar auf die andere Seite.« So bemerkte Frau Emma.

»Herrgott, habt ihr nicht gehört? Jetzt fängt Vater sogar zu schnarchen an!«

»Das ist ganz gewiß ein sehr gutes Zeichen,« bekräftigte die Gattin; »wer schnarchen kann, der kann auch aufwachen – Kinder, welches Glück! Und was wir ihm alles zu erzählen haben werden!«

Der Studio nahm das Wort: »Ja, wir werden überhaupt gar nicht wissen, wo anfangen und wo aufhören. Seit Vater einschlief, hat sich die Welt sozusagen radikal verändert! Er weiß ja nicht das mindeste von den wichtigen Ereignissen der letzten Wochen und Monate. Na, da werd' ich schön vor ihm auspacken mit den Aktualitäten!«

»Kunz, du wirst gefälligst warten, bis deine Mutter mit Vatern gesprochen hat. Das ist mein gutes Recht. Ich zuerst werde ihn aufklären über alles, was inzwischen vorgegangen ist. Denkt doch bloß, Kinder, Vater hat doch sogar den Verkehrsturm verschlafen und die bunten Signallichter auf dem Potsdamer Platz! Er wird sich doch wie neugeboren vorkommen, wenn ich ihm das lang und breit auseinandersetze. Vater weiß ja noch nicht einmal, daß wir jetzt in einer Verkehrsstraße erster Ordnung wohnen! Na, der wird Augen machen; bloß ich bitt' mir aus, daß ihr mir nicht mit Gerede dazwischen fahrt, denn das Vergnügen will ich ganz allein auskosten.«

»Mutter, ich würde es für geeigneter halten, wenn du ihm lieber beizeiten eine Haferschleimsuppe zurecht machst, weil er Hunger haben wird, wenn er aufwacht.«

»Aber, Junge, willst du uns denn die ganze Herrlichkeit mit aller Gewalt verderben? Du selber hast doch davon angefangen, daß du ihm die großen Neuigkeiten erzählen möchtest. Wenn Vater so lange gefastet hat, wird er doch noch zehn Minuten mit'm Essen warten können: die Aufklärung geht doch vor! Herrjeh, Papa kennt ja noch nicht einmal unser Radio, was wir uns vorigen Monat angeschafft haben!«

»Is ja wahr!« rief Hulda; »also das Radio muß das allererste sein. Ach, wenn doch Papa jetzt gleich aufwachen täte, da käme er gerade zurecht zum ganzen ›Tannhäuser‹! Ich werd' mal gleich den Lautsprecher auf'n Tisch stellen, oder was meint ihr, sollen wir ihm lieber den Kopfhörer umlegen?«

»Ganz egal, wenn er nur recht schnell das neue Wunder erlebt.«

»Mama, das ist mir nicht recht geheuer; gewiß, Papa wird verblüfft sein über diese Aktualität, aber du weißt doch, er mag Richard Wagnern nicht. Warten wir da schon lieber, bis ein gefälliges Potpourri oder ein Pistonsolo aus dem Radio kommt.«

»Kunz, du bringst uns um. Wir haben hier alles in der Hand, um Vatern beim Erwachen mit den großartigsten Ueberraschungen zu beglücken, eine neue Welt soll sich vor ihm auftun, und du drehst die Sache auf Haferschleim und Jahrmarktsmusik!«

»Ja, wenn wir's nicht geschickt anfangen, dann blamieren wir uns einfach vor Papa, und der ganze Effekt geht uns verloren;« und bittend ergänzte Tochter Hulda: »Laßt mich zuerst zu ihm reden! Ich kann ihm soviel Schönes und Neues erzählen, was ihn wirklich erquicken muß. Wißt ihr noch, voriges Jahr versprach mir Vater, daß ich in diesem Winter zum erstenmal den Presseball mitmachen dürfte. Und nun bin ich doch wirklich dort gewesen, und habe meine neues grünseidenes Ausgeschnittenes angehabt, und habe so Wundervolles erlebt, und habe auf dem Pressefest Alfred Holzbock gesehen . . .«

»Und das nennst du Neues, Hulda?« warf Kunz ein; »da hat doch Vater noch ganz andere Aktualitäten verschlafen, ich will mal sagen den Opernball, der seit zwölf Jahren zum erstenmal aus den Trümmern der Vorzeit zum Dasein aufgestiegen ist. Und den Opernball habe ich doch mitgemacht, also werde ich doch wohl mit der Berichterstattung anfangen dürfen?«

In diesem Augenblick lieferte der alte Piepvogel eine Kadenz von Schnarchtönen, die an die stärksten Konzerte vorsintflutlicher Höhlenbären erinnerte. Und im Anschluß hieran schlug er die Augen auf, friedlich, ausgeschlafen, lächelnd. Er richtete sich im Bette auf, äugte umher, strich sich mit dem Handrücken über die Wimpern und sagte:

»Ich war mal eben ein bißchen eingedrusselt!«

»Eben mal ein bißchen!« rief Emma, »Aber, Männe, du drusselst ja bald vierthalb Monat in einer Tour! Und du hast ja gar keine Ahnung, was inzwischen alles passiert ist, lass' dir bloß erzählen . . .«

– »Weiß schon! So was seh' ich alles auf den ersten Blick: Kunz trägt jetzt eine Hornbrille, Hulda hat 'nen frischen Pickel auf der Nase, und du, Emma, hast dich in der Zwischenzeit endlich einmal rasieren lassen. Und jetzt gebt mir mal 'n Löffel Suppe, wie ich das so gewöhnt bin kurz vor dem Einnicken, dann schert euch aus dem Zimmer und laßt mich endlich mal ausschlafen!«

 


 


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