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Die Eisenbahn, die Zahler und Imfeld in zweieinhalb Tagereisen nach Sridharmaray führte, war nicht ganz normalspurig, aber der Zug rasselte doch wacker und rüstig die Malakkahalbinsel hinunter. Zahler hatte es sich in den Lederpolstern bequem gemacht; manchmal griff er an den Hals. Er lebte nämlich von dreierlei Dingen. Erstens von Mathematik, zweitens von seinem dicken Hals, der scheußlich aussah – es schien manchmal, als wolle ihm links ein zweiter Kopf wachsen – und drittens beschäftigte den Ingenieur fortwährend sein schlechtes Gehör, das so gut wie sein Hals mit dem blutroten Schnitt ein Andenken an den Kongo war. Wenn man Zahler etwas fragte, fuhr er mit der linken Hand über die alte Wunde, die rechte ans Ohr legend: »Hm?«
Imfeld verschlang die Welt mit durstigen Augen. Er hing am Fenster wie eine Biene an einer schönen Blume. Alle Augenblicke wäre er am liebsten ausgestiegen. Der Zug jagte an kleinen Bananengärtchen vorüber: ein Gewimmel von Riesenblättern zu beiden Seiten, oft vom Wind zerfetzt wie alte Strohdächer. Hütten klebten manchmal am schmalen Bahndamm, 23 aus Bambusstangen notdürftig zusammengesteckt, zerbrechlich und windig und so nahe am schlottrigen, lottrigen Eisenbahnzug, daß es schien, der schwarze Rauch aus der Lokomotive müsse sie umblasen. Herden gabelhörniger Büffel, von winzigen nackten Kindern durch Johlen und Pfeifen gelenkt, oft in rasender Hetzjagd, durch den Zug erschreckt: »Schauen Sie dort, Zahler!«
Zahler saß schwer in den Kissen. Seine Augen waren tiefliegend. Wie in sich selbst ertrunkene Weiher, oder wie im langen Lauf der Jahre unter die buschigen Brauen versunken. Sie schienen ganze Minuten hinter dem übrigen Menschen drein zu leben. »Aehnlich nackte Neger wie im Kongo,« brummte er zu Imfeld, »aber vielleicht brauchbarer als sie aussehen.«
Jetzt kamen offene Reisfelder. Reisfelder, so weit das Auge reichte, flach, naß, einzelne Pflanzen darin und stechende Sonne über den Sümpfen. Dann schien der Ingenieur zu erwachen. Mag sein, der helle Sonnenmorgen, die lustige Fahrt rüttelte ihn zu einem höhern Leben auf: »Die Firma hat unsere Hilfe nötig, es ist kein zuverläßiger Mann in Sridharmaray,« frohlockte er plötzlich, und Imfeld, voll Freude, daß ein vielleicht ganz brauchbares Gespräch im Anzug sei, teilte die Meinung des Ingenieurs. »Wir werden Großes tun!« sagte der jetzt, als käme es nur auf ihn allein an. »Ortsbestimmungen werden wir zuerst machen, neue Karten vermessen, und Schritt um Schritt bauen wir eine große Minengesellschaft auf. Sie werden schon sehn. Ich werde Ihnen alles zeigen. Die Zukunft ist unser.«
24 Der Reis stand jung in den weiten Feldern, frisch, saftig und unermeßlich weit wie das Meer. Grüngoldig jetzt, da die Sonne ihn schräg streifte. »Und unser Leben wird wie im Paradies sein! Man wird sich auf Kosten der Gesellschaft einen Schwarm Diener halten, jeder hat sein eigenes Haus, einen Hühnerhof werde ich mir anlegen, und man hat – jetzt wurden Zahlers versunkene Augen lebendig! – man hat eine Frau für billiges Geld und ohne große Komplikationen.« Dies »Komplikationen« sprach Zahler scheu und mit einer Art verhaltenem Schüttelfrost aus. Dann wurden seine Augen wieder schattig unter den Brauen, und des Ingenieurs Stimme zog sich in den dicken Leib zurück.
Unaufhörlich Szene um Szene im Schauspiel »Fahrt durch den indischen Dschungel«. Da standen Reiher auf langen Beinen herum, liefen fangend durch die Sümpfe, eifrig spritzend, bis ans Gefieder im Kot, und Störche standen da in roten Stiefeln und mit der unerschütterlichen Ruhe angelnder Fischer. Imfeld hielt jetzt den Moment für gekommen, auch etwas Nützliches zur Unterhaltung beizutragen.
»Wissen Sie das von Gadscha puti?« versuchte er mit wichtigem Gesicht; aber Zahler winkte energisch ab: Was geht das Sie an, Sie Herr Geolog, lassen Sie die Sorge um Gadscha puti mir! schien er sagen zu wollen. Gadscha puti! Beide wußten gleich viel darüber, beide wußten, was der Alte zu Hause ihnen gesagt hatte, beide wußten.... Es gibt Dinge, die sind wundervoll, von ferne gesehn. Zart schwebt im morgendlichen Dunst die silberne Silhouette des Rätselberges über den 25 Wäldern der Phantasie. Robert ahnte Ruhm, Erfolg und Ehre.
Kleine Stationen, an denen anzuhalten der Schnellzug zu stolz schien, standen von Zeit zu Zeit langbeinig wie auf Stelzen im Sumpf, weiße Tafeln wie Hände emporstreckend mit seltsamen Kribbelnamen in malaiisch und englisch: »Elefantenauge«, »Tigerschlucht«. Wie ungewöhnlich und lustig, wenn man frisch von Europa kommt!
»Gebildete,« meinte jetzt Zahler im Gespräch fortfahrend, »Gebildete wie wir können Geld machen aus dem Schlamm der Urwälder,« und seine Augen erwachten nochmals. »Wir werden von Grund aus, gründlichstens, sozusagen mathematisch genau vorgehen, Sammlungen von allem wissenschaftlich Interessanten anlegen. Ich habe nicht umsonst Instrumente mit.«
Hie und da hockten ein paar Eingeborene bei den Stationen, ehrfürchtig aus vorsichtigem Abstand das Zugsungetüm anstaunend, daß Imfeld unwillkürlich an ihre nackten Füße denken mußte. Ein vollständig neues Land lag vor seinen Augen. Nichts erinnerte mehr an den Westen. Von den Reisfeldern, die vor dem Fenster lagen, von den spreitzarmigen Kapokwollbäumen, die bei den Hütten standen, über den heißen tropischen Sonnenhimmel weg bis zum eingeborenen dunkelbraunen Zugsschaffner, der mit einem Knix und wie im Gebet die Fahrscheine der zwei Europäer knipste – alles fremd, neu, einfacher, ja – aber – wild? Nein, im Gegenteil. Robert wartete umsonst auf den 26 ersten nackten Wilden. Wie hübsch diese Menschen alle gekleidet waren in bunteste Tücher!
Zahler zeigte nicht mehr viel Leben. Es begann warm zu werden. Zahler war dick, er schwitzte. Jetzt schaute er nicht einmal mehr zum Fenster hinaus. Die Gärten hatten längst ganz aufgehört. Gemüse- und Fruchtgärten rentierten nur in der Nähe der Stadt. Mehr und mehr nahmen jetzt in den Reisäckern Baumgruppen überhand, stehengebliebene Reste des Dschungels; wie letzte Haarbüschel auf einem räudigen Schafsrücken standen sie da, locker und zufällig verschont geblieben, manchmal in der Nähe, manchmal weiter entfernt vom Bahndamm, und andere standen am Horizont in Büschen wie Riesengarben oder stiegen wie dunkle Wolkentürme aus der enormen Ebene in den Himmel auf. Wie in einem schönen englischen Park legten sie Relief in die Weite, und die ebenen Strecken zwischen den lockern Baumgruppen wurden doppelt flach. Die Sonne brannte jetzt über dem Land, der Himmel schien ein großes Brennglas zu sein und der Zug, so sehr er sich beeilte, in dessen Brennpunkt verdammt. Die Wände des Wagens glühten. Der Luftzug von draußen war heißer als die Stickluft drinnen. »Das also ist jetzt die tropische Hitze!« dachte Imfeld.
Zahler schien sich immer weniger wohl zu fühlen. Er hatte die Bluse, den Hemdkragen geöffnet, der dicke Hals mit der Wundnarbe schaute rot heraus. Hie und da fuhr er mit der Hand darüber. Er schien keine Luft mehr für Gespräche zu haben. Er war zerstreut. Wenn Imfeld zu ihm sprach, legte er nicht einmal die Hand ans Ohr, grunzte nur noch: »Hm!«
27 Als Robert gegen Mittag hinausschaute, entdeckte er plötzlich ganz vorn an der Ebene ferne Berge, erst unsicher, vielleicht waren's nur Wolken, nach und nach aber größer aus dem Erdrand herauswachsend, richtige waldige Berge mit blauen Schatten, scharenweise einer hinter dem andern. Imfeld war ganz verliebt in das Sonnenland. Er liebte seine schönen Bäume, die Grenzenlosigkeit der offenen Felder. Er liebte diese hübschen braunen Menschen und die Sonne vor allem – verliebt sein ist etwas Wunderbares!
Der Zug fuhr rastlos durch den Tag. Die Reisfelder waren etwas spärlicher geworden, man hatte jetzt Wald zu beiden Seiten, Wald, Wald, Busch, Einöde, moorigen Niederwald. Um Mittag brachten die Boys das Essen in den Reisekantinen. Zahler wachte etwas auf, man trank halbwarmes Sodawasser, Zahler lehnte wieder schläfrig und unbehaglich in die Polster zurück, der Zug klopfte emsig die Schienen.
Jetzt öffnete sich der Dschungel wieder, weit in den Feldern draußen unter einer Palmensilhouette stand ein Dörfchen, jetzt waren auch wieder Menschen zu sehn, sogar Frauen, sogar junge Mädchen, die im Reis arbeiteten. Manchmal stand ganz nahe ein Kokospalmwäldchen, dessen Fiederblätter in der Sonne wie glanzlackiertes Spielzeug leuchteten. Es ist Wachstum und Werden, dachte Imfeld. Grün ist das Reisfeld, grün ist der Wald. In Millionen tapfern Blattscheiden züngeln sie beide zur Sonne auf, und tapfer ist auch der Mensch, der mit dem Wald um seine Existenz ringt. Robert fühlte die Hitze nicht mehr. Er war stark. Er fühlte 28 sich übermütig. Achtung, jetzt könnte irgend etwas sich ereignen!
Ingenieur Zahler hatte vor lauter Langeweile seine Brieftasche hervorgezogen, und da sagte Imfeld: »Wollen Sie Ihren Vertrag mit Almeira eigentlich auswendig lernen?« Es hatte Imfeld längst wunder genommen, was für glänzende Bedingungen dieser Zahler dem alten Almeira etwa wert sei.
»Haben Sie ein Salär bekommen wie ein Kapitän, wie ein Minister, wie ein...?«
»Der Monatsgehalt ist mir nicht der Rede wert – er nannte eine lächerliche Summe – ich bin in erster Linie am Gewinn des Unternehmens beteiligt, insbesondere an der Ausbeute der Minen Gadscha puti. Und wissen Sie, Imfeld, jeder Dollar, den ich verdiene, wandert in amerikanische Goldminenbonds!«
Einen Augenblick lang war Robert stolz darauf, mehr festen Lohn wert zu sein, als dieser Mann der Praxis. Es dauerte aber nicht lange, da dachte er: »Aha, Geschäftsleute wie Zahler machen es anders!« Robert kam sich plötzlich verkauft und verraten vor. Doch dann warf er scheinbar ganz ungewollt und ohne Wichtigkeit hin: »Ich habe leider zwar keine Ausbeuteprozente, aber mein Salär beginnt mit der Abfahrt von Europa zu laufen!«
»So...., Ihres!«
Imfeld schien geschlafen zu haben. Die Sonne stand schon tief und leuchtete immer goldiger. Jetzt rückten auch die Berge wieder nahe heran, daß man glaubte auf waldarmen Klippen ihre wilden Tiere zu sehen, 29 vielleicht Leoparden, vielleicht Tiger. Offenes, trostloses Steppenland lag davor, Gras, Gras, borstiges Elefantengras ohne menschliche Wohnstätten, und nur vereinzelte gebleichte Gerippe von Baumstämmen waren übrig: ein Zyklon schien hier vor Jahren gewütet zu haben.
Es begann nun kühler zu werden. Auf der Wagenplattform zu stehen war angenehm; es dunkelte bereits und der Himmel strahlte in Sternen, als der Zug endlich in die Station von Tschumpon einfuhr. Ein Menschengewimmel brandete da johlend gegen die Bahn. Unter Schreien und Jo-heepen drängten sich einheimische Portiers vor, Hotels aller Grade anpreisend mittels großer Papierlaternen, die auf Fahnenstangen wie blutige Vollmonde über den menschlichen Köpfen schwebten, verziert mit den bizarren in chinesischer Schrift angebrachten Namen zweifelhafter Logierhäuser.
Jetzt war auch Imfeld müde. Nach dem Abendessen im Eisenbahn-Rasthause, wo sie zwei die einzigen europäischen Gäste waren, legten sich beide früh zu Bett, wälzten sich ein paar Stunden schlaflos, da sie noch nicht wußten, daß alle andern als die eignen Moskitonetze nie dicht schließen. Und bei Tagesgrauen kam der zweite Reisetag. Er wurde dem ersten ähnlich. Die Sonne stieg im Halbkreis auf, der Zug schlang Meile um Meile hinter sich, rastlos, als wüßte er, daß Meilenfressen für ihn das einzig Vernünftige sei.
Abends erreichte der Zug Tung Song, wo die zweite Reisenacht verbracht wurde. »Eine etwas größere Ortschaft,« konstatierte Zahler, als er die vielen kleinen 30 Beamtenwohnungen neben der Station sah. Tung Song war in der Tat Eisenbahnknotenpunkt und nahe den Minengebieten gelegen.
Eine lärmige Tischgesellschaft versammelte sich an diesem Abend im Rasthaus. Drei Chinesen, die sich auf malaiisch unterhielten, offenbar Minenbesitzer aus dem Süden, ein indischer Tuchkrämer und zwei Eisenbahnbeamte saßen am gleichen Tisch mit Zahler und Robert. An einem kleinen andern, ganz für sich, drei Engländer, die nur von Zinn redeten. Imfeld hatte sie im Rücken, konnte sie nicht sehen, verstand aber alles. Fiel nicht soeben der Name Almeira?
»Wissen Sie, Almeira ist ein gewiegter Kaufmann!« hörte jetzt Robert, »und ganz wahnsinnig drauf versessen, sein Geld in Minen zu stecken. Er hat einen Kontrakt mit der englischen Regierung, Erz zu liefern für die Dauer des Krieges. Nicht Zinn, sondern Eisenerz, Wolframerz. Und deshalb interessiert er sich auch für die Minen in den Bergen.«
»Welcher Nationalität ist dieser Almeira?«
»Almeira ist Schweizer.«
»Schweizer...!«
Eine Zeit lang verstand Imfeld nichts mehr, die Chinesen schwatzten zu laut.
»Where you go, Sir?« fragte jetzt ein Chinese die zwei Neuen, die wirklich etwas wie »Neue« dasaßen.
»Sridharmaray.«
»Wie groß ist Almeiras Ausbeute? Wieviele Traglasten im Monat?« wurde am englischen Tisch gefragt.
»Er hat noch keine eigene Ausbeute. Er hat erst kürzlich angefangen.«
31 »Für wen arbeiten Sie?« fragte der Indier.
»Almeira & Co.!« sagte Imfeld und dachte: ja, wir sollen Almeira helfen. Was verstehen wir Neue eigentlich von diesem Land, von diesem Leben hier?