Balduin Möllhausen
Die beiden Jachten
Balduin Möllhausen

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Dreißigstes Kapitel.

An Bord des Eremit. Anker auf. Ein Nachruf.

Weniger reich ausgestattet, als die Kajüte der Pandora, entbehrte die auf dem Eremit doch nicht eines gewissen vornehmen Glanzes. Um den mit dem teppichbelegten Fußboden fest vereinigten Tisch reihten sich eine Anzahl gepolsterter Armsessel. Die von den beiden Schwebelampen ausströmende Helligkeit wurde vermehrt durch die in die Wände eingefügten Spiegel. Wie die ruhig brennenden Flammen, vervielfältigten sie auch die Gestalten der Gräfin, Lowcastles und des Arztes, eines älteren Herrn, deren Blicke und Worte sich über den Tisch hin kreuzten.

»Mit meiner Unzurechnungsfähigkeit ist es also nichts,« hatte die Gräfin nach einigen kurzen, einleitenden Bemerkungen das Gespräch eröffnet, »sollten indessen noch irgend welche Zweifel walten – Irrsinnige besitzen ja im allgemeinen eine wunderbare Verschlagenheit und Täuschungsgabe – so wird es den Doktor kaum Mühe kosten, diese zu verscheuchen.«

»Wo keine Zweifel vorhanden sind, können solche auch nicht beseitigt werden,« versetzte der Doktor zuvorkommend.

Die Gräfin lächelte herbe, indem sie bemerkte: »Ihre Worte können verschieden gedeutet werden; ich bin indessen nicht mißtrauisch, obwohl Ursachen dazu mir in Fülle geboten wurden. Es muß wenigstens auffällig erscheinen, daß man plötzlich ebenso eifrig bestrebt ist, meine Vernunft ins klarste Licht zu stellen, wie nunmehr schon seit einer langen Reihe von Jahren in allen meinen Handlungen Beweismittel für einen häßlichen Argwohn zu suchen. Ich wiederhole: wäre ich mißtrauischer, so möchte ich vielleicht zu dem Glauben hinneigen, daß man, das Unzweckmäßige der bisherigen Angriffsweise gegen mich endlich begreifend, sich für ein System entschied, von dem bessere Erfolge zu erwarten.«

Die in Lowcastles Antlitz aufsteigende Röte zeugte von heftiger Erregung. Er war aber hinlänglich Herr seiner selbst, um höflich zu erwidern: »Trifft die erstere Anklage bis zu einer gewissen Grenze zu – und von Ihrer Seite geschah ja nichts, jenen Argwohn abzuschwächen, weit eher das Gegenteil, – so muß ich die zweite streng zurückweisen.«

»Sie hätten mit diesem Vorwurf säumen sollen, bis wirkliche Anklagen erhoben wurden,« warf die Gräfin gleichmütig ein. »Im übrigen bin ich weder Ihnen noch irgend einem anderen Menschen Rechenschaft über meine Handlungen schuldig gewesen, noch wäre ich es jetzt, hätten meine seltsamen Launen in der Tat an Wahnsinn gestreift.«

»Launen, die ich nach allem, was aus Ihrem Munde zu hören ich die Ehre hatte, als vollkommen berechtigt anerkenne,« wendete Lowcastle nunmehr bedacht ein, »Sie selbst gebrauchten das Wort Laune; ich hätte sonst eine andere Bezeichnung gewählt. Von Gram geborene Handlungsweisen sind nicht von Launen abhängig.«

Die Gräfin neigte das Haupt.

»Spät kommt diese Erkenntnis, aber sie kommt,« versetzte sie eintönig.

»Wurde mir früher Gelegenheit zu einem Einblick in Ihr Seelenleben geboten, so kam sie schon vor Jahren.«

»Die Gräfin Marleyhouse hatte durchaus keine Veranlassung, Ihnen oder einem anderen einen Einblick in ihr Seelenleben zu gestatten,« hieß es zurück. »Doch ich kam nicht, um dergleichen mit Ihnen zu erörtern. Hier handelt es sich lediglich um die Beweggründe, die Sie ursprünglich zu den heillosen Verfolgungen bestimmten. Ich schlage daher zunächst vor, rückhaltlose Offenheit walten zu lassen, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen, ohne ihnen zugleich einen aufreizenden oder beleidigenden Charakter beizulegen.« Sie säumte, bis Lowcastle zugestimmt hatte, und zu dem Doktor gewendet, fuhr sie fort: »Ich erblicke in Ihnen einen vertrauten Freund des Herrn Lowcastle, nehme daher keinen Anstand, mich frei auszusprechen. Ich glaube, Ihnen nichts Neues zu erzählen, wenn ich als Quelle des Übelwollens von beiden Seiten das in meinen Besitz übergegangene Vermögen bezeichne. Es läßt sich nämlich mit ziemlicher Gewißheit voraussetzen, daß schwerlich jemand um die Käte Dale sich gekümmert hätte, so lange sie in bescheidenen Verhältnissen lebte. Mit der Gräfin Marley war es ein anderes. Gegen den gewiß oft ausgesprochenen Verdacht, die Güte meines hochherzigen Wohltäters mißbraucht und zu meinem alleinigen Vorteil freventlich ausgenutzt zu haben, verteidige ich mich nicht. Mögen andere darüber nach Belieben urteilen: spricht das eigene Gewissen mich von solcher Schuld frei, so genügt das mir. Wußte der verstorbene Graf nach dem jähen Verlust seines Sohnes keinen näheren und besseren Erben als mich, so mag es an denjenigen gelegen haben, die so wenig verstanden, sein Wohlwollen und Vertrauen zu erwerben. Später wurde mir freilich klar, daß neben der unverdienten Güte, mit der er meine Zukunft sicher zu stellen wünschte, er auch die Überzeugung hegte, daß ich nicht nur unverheiratet bleiben, sondern auch in seinem Sinne und zwar erst nach reiflichem Erwägen und Prüfen über seinen Nachlaß verfügen würde. Hätte er geahnt, daß die in seinem Testament enthaltene Klausel betreffs des klaren Geistes eine Handhabe zu Nachstellungen biete, so wäre sie nie von ihm angewendet worden. Ich habe die triftigsten Gründe, das behaupten zu dürfen.«

»Sie beziehen sich immer wieder auf die Nachstellungen,« nahm Lowcastle das Wort, sobald die Gräfin eine Pause eintreten ließ, »Sie versetzen mich dadurch in die Lage, einwenden zu müssen, daß sie Ihrem rätselhaften Verfahren gegenüber nicht allein entschuldbar, sondern sogar geboten waren. Ich erlaube mir, den Fall aufzustellen, daß Gram um unersetzlich Verlorenes in der Tat Ihren Geist nachteilig beeinflußt hätte – ich folge Ihrem Rat und nenne die Dinge beim rechten Namen – welche Ergebnisse hätte das nach sich ziehen können? Wer wäre möglicherweise der Erbe des gewaltigen Vermögens, und mehr noch: der Träger des alten, berühmten Namens geworden? Das aber durfte denjenigen, denen die Überwachung der Ehre jenes Namens oblag, nicht gleichgültig bleiben.«

»Sehr gut eingekleidet: aber immerhin: solche Erklärung läßt sich hören,« erwiderte die Gräfin mit einem Anfluge von Spott, »mir hingegen liegt jetzt doppelt fern, deren Gehalt auf der Goldwage prüfen zu wollen. Mag sie daher gelten, oder gehen wir vielmehr ganz darüber hinweg und kehren wir uns Verhältnissen zu, an denen nicht gedeutelt werden kann. Da erhebt sich zunächst die Frage: wem wäre das Vermögen samt Namen und Titel zugefallen, hätte der Graf das Zeitliche gesegnet, ohne ein Testament zu hinterlassen?«

Lowcastle biß flüchtig auf die Unterlippe, antwortete aber schnell gefaßt: »Unter solchen Umständen wäre ich der nächste Erbe gewesen.«

Wiederum lächelte die Gräfin bezeichnend, indem sie sprach: »Daraus erklärt sich freilich manches. Doch eine andere Frage, ohne Sie verletzen zu wollen: hätten Sie in mir eine Irre gefunden, was wären die Folgen gewesen?«

»Offen, wie Sie fragen, antworte ich: den testamentarischen Bestimmungen einer geistig Erkrankten wird vom Gesetz keine Gültigkeit beigelegt.«

»Man hätte mir zugleich den Nießbrauch des Vermögens eingeschränkt,« versetzte die Gräfin anscheinend sorglos, »mich wohl gar der Freiheit beraubt. Es gibt ja so viele Irrenhäuser,« und gewahrend, daß Lowcastle die Farbe wechselte und ihrem Blicke scheu auswich, warf sie achselzuckend ein: »Brechen wir davon ab. Sie haben die Überzeugung gewonnen, daß Ihr bisheriger Argwohn ein durchaus unbegründeter – ich rufe den Doktor hier als Zeugen auf – also kein Gesetz der Welt mich hindert, meine letztwilligen Verfügungen so zu treffen, wie ich es vor Gott und den Menschen zu verantworten vermag.«

»Eine Überzeugung, die ich schon vor Jahren mit aufrichtiger Genugtuung begrüßt hätte,« versetzte Lowcastle; »was auch immer Sie bestimmen mögen: ich bin der erste, der Ihren freien Willen anerkennt. Sollten Sie indessen des Rates bedürfen, im Falle Sie mit der Gliederung der Verwandtschaft nicht vertraut –«

»Überflüssig,« unterbrach ihn die Gräfin, »doppelt überflüssig, seitdem ich mein Testament bei meiner jüngsten Anwesenheit in Liverpool an sicherer Stelle niederlegte.« Sie sah in eine andere Richtung, wollte die Verwirrung nicht bemerken, die sich in Lowcastles Zügen spiegelte. Erst nach einigen Sekunden nahm sie ihre Mitteilungen wieder auf: »Vertrauen gegen Vertrauen: Sie sind ein sehr reicher Mann und, so viel ich weiß, kinderlos? auf wen fällt dereinst Ihr Vermögen samt allen wirklichen und fraglichen Anrechten? Es soll damit nicht gesagt sein, daß ich uns beiden nicht ein recht langes Leben wünsche.«

»Wenn ich keine Ursache finde, vorzubeugen, auf meinen Neffen, den Kapitän Peldram,« hieß es mit sichtbarer Spannung zurück. »Ich wirkte ihm eine Verlängerung seines Urlaubs aus, um ihn genauer kennen zu lernen. Entspricht er meinen Erwartungen, so mag er seinen Abschied nehmen und sich bei mir einleben.«

»So ist für ihn gesorgt,« erklärte die Gräfin wie beiläufig, »ich könnte höchstens noch den Namen eines Grafen Marley auf ihn übertragen.«

»Das würde sich nur mit dem Besitz von Marleyhouse und allem, was dazu gehört, vereinigen lassen.«

»So geht er leer aus. Denn alles, über das letztwillig zu verfügen ich berechtigt bin, fällt nach meinem Tode an eine unbemittelte junge Person, die ich indessen noch bei meinen Lebzeiten so stelle, wie es einer Gräfin Marley gebührt. An ihr ist es dann, sich einen Gatten zu wählen, der meinen Beifall findet, und damit einen neuen Grafen Marley erstehen zu lassen.«

Betroffen und wie seinen Ohren nicht trauend, saß Lowcastle.

»Sie scheinen mich nicht verstanden zu haben,« fragte die Gräfin spöttisch, »halten meine Entscheidung wohl gar für das Erzeugnis eines umnachteten Geistes? Doktor, kommen Sie Ihrem Freunde doch zu Hilfe. Verdeutlichen Sie ihm, daß nichts anderes in der Welt mich in meiner Entscheidung hätte beeinflussen können, als treue Pietät für die Anschauungen und letzten Wünsche meines gütigen Wohltäters. Es bestärkte mich in meinen Entschlüssen die Erinnerung an einen anderen edlen Toten, dessen unvergeßliches Bild ich in meinem Geiste heraufbeschwor, so oft ich vor diesem oder jenem wichtigen Scheidewege stand. Nach dem Ausdruck der mir vorschwebenden verklärten Züge regelte sich der Pulsschlag meines Herzens – ich nehme keinen Anstand, das einzuräumen, mag es immerhin aus dem Munde einer alternden verbitterten Person seltsam klingen – mein Herzschlag aber war unter solchen Bedingungen maßgebend für mich. Geriet ich auf Abwege – und ich hätte keine Sterbliche sein müssen, um tief begründetem Haß keine Anrechte an mich einzuräumen – so genügte die Mahnung an ihn, mir den richtigen Weg zu zeigen. Sie, Herr Lowcastle, waren selbst Augen- und Ohrenzeuge – doch ich schweife ab. Ursprünglich wollte ich nur darauf hinweisen, daß diejenigen, die hofften, schließlich dennoch die Hand auf die Hinterlassenschaft meines Wohltäters zu legen, gleichviel ob heut oder erst nach meinem Hinscheiden, sich täuschten. Der Entschluß, der allmählich in mir reifte, konnte und kann hinfort durch nichts erschüttert werden, ebensowenig durch Schmeicheln und die ausgesuchtesten Liebenswürdigkeiten, wie durch die scharf ausgeprägten Beweise feindseliger Gesinnungen. Ich wiederhole daher ausdrücklich, die bezeichnete junge Dame ist und bleibt die Erbin von Marleyhouse. Sollte es ihr gefallen, aus aufrichtiger reiner Herzensneigung irgend jemand – und wäre es der leichtfertige Kapitän Peldram selber – ihre Hand zu reichen und ihn dadurch zum Grafen Marley zu erheben, so kann ich nichts dagegen einwenden. Sie selbst muß am besten wissen, wo ihr Glück liegt; ich aber wäre die letzte, ihr auf dem Wege dahin mit Hemmnissen zu begegnen. Ich weiß, was es bedeutet, die freundlichsten Jugendhoffnungen vernichtet dahinsinken zu sehen, ich erfuhr es zu genau an mir selber, um einer anderen Ähnliches zu gönnen.«

Unendlich sanft klangen die letzten Worte. Als wäre sie durch die mit ihnen geeinten Erinnerungen in schwermütige Träumereien versenkt worden, sah die Gräfin vor sich nieder. Auf Lowcastles Zügen webte eine gewisse Entsagung. In des Doktors Haltung prägte sich unverfälschte Achtung aus; er mochte das, was er durch eigene Anschauung wahrnahm, mit dem vergleichen, was früher offenbar entstellt zu seiner Kenntnis gelangte.

»Weshalb konnte es mir nicht beschieden sein, schon früher Ihr Vertrauen zu erwerben?« brach Lowcastle nach einer längeren Pause das Schweigen.

Die Gräfin richtete sich auf und zuckte die Achseln. Spöttisches Lächeln trat auf ihre Lippen.

»Lassen wir das ruhen,« sprach sie kühl, »ich möchte sonst in die Lage geraten, recht bösen Erklärungen Raum zu geben, und dazu fehlt mir die Neigung. Meine Handlungsweise habe ich mir selbst vorgeschrieben. Daran kann jetzt nichts mehr geändert werden. Wollen Sie in der Förderung meiner Pläne zu seiner Zeit Hand in Hand mit mir gehen, so ist es gut. Anderenfalls werde ich auch ohne fremde Hilfe fertig.« Sie wartete, bis Lowcastle zuvorkommend seine Bereitwilligkeit erklärt hatte, und fuhr fort: »Vorläufig nehme ich Ihr Anerbieten nur insoweit in Anspruch – das gilt auch Ihnen, Doktor – als ich darauf bestehe, die eben erfolgte Offenbarung meines Willens als ein zwischen uns dreien schwebendes unverbrüchliches Geheimnis zu betrachten. Ich will die Überzeugung haben und behalten, daß nicht um irdischer Vorteile willen sich jemand in das Herz der von mir ins Auge gefaßten jungen Person einschleicht. Des weiteren erwarte ich, daß, nachdem die beiden Jachten sich voneinander getrennt haben, eine abermalige Annäherung vermieden wird. Für alle Teile ist es besser, meinen exzentrischen Launen Rechnung zu tragen. Wünschen Sie mich wiederzusehen – ein Grund dazu wird sich schon finden – so suchen Sie mich in Marleyhouse auf. In drei bis vier Monaten gedenke ich dort zu sein, um mein Haus vollends zu bestellen.«

Mit gespannter Aufmerksamkeit waren die beiden Herren den Mitteilungen der Gräfin gefolgt. Auf ihren Zügen stand geschrieben, daß in ihren Empfindungen für sie zu der wahren Hochachtung sich aufrichtige Teilnahme gesellte.

»Glühende Kohlen sammelten Sie auf mein Haupt,« versetzte Lowcastle, sobald sie schwieg, »legen Sie auch keinen Wert darauf, so fühle ich mich doch zu der Erklärung gedrungen, daß, gleichviel wie Ihre Verfügungen lauten, ich diese im voraus als mit den Wünschen des verstorbenen Grafen übereinstimmend anerkenne. Nicht der leiseste Zweifel waltet in mir, darauf hin biete ich Ihnen aus vollem Herzen abermals meinen Beistand an, im Falle Sie dessen bedürftig oder vielmehr er Ihnen wünschenswert erscheinen sollte.«

»Das klingt freundlich,« versetzte die Gräfin ernst, »trotzdem muß ich mich darauf berufen, wie ich bereits andeutete, daß in meinen ferneren Entschließungen allein die Sorge um die Wohlfahrt anderer mich leitet, unbekümmert darum, ob ich in meinem Tun fremder Billigung, also auch der Ihrigen begegne. Das ist meine Rache für erlittene Unbilden.«

»Sie sind berechtigt zu diesem Ausspruch,« erwiderte Lowcastle betroffen, »er stammt aus einer Quelle von Erfahrungen, denen nur Wahrheit entsprießen kann. Doch eine Frage möchte ich mir erlauben, die von den lautersten Beweggründen getragen wird: Darf ich den Namen der jungen Dame wissen, die sich Ihrer so warmen mütterlichen Teilnahme erfreut?«

In der Gräfin Augen webten Zweifel. Eine Weile betrachtete sie den vor ihr Sitzenden mit kalter Ruhe; dann antwortete sie eintönig:

»Ich hätte geglaubt, meine Erklärungen wären durchsichtig genug gewesen, um von Ihnen verstanden zu werden. Geschah das nicht, so bedaure ich, mit weiteren Offenbarungen Sie auf spätere Zeiten vertrösten zu müssen. Meine Schuld ist es am wenigsten, wenn ich mit meinem Vertrauen eine bestimmte Grenze nicht überschreite. Verzeihen und Vergessen gehen bei mir nicht Hand in Hand.«

»Zuversichtlich hoffe ich auf eine Zeit, in der kein Schatten mehr entfremdend zwischen uns schwebt,« wendete Lowcastle ein.

»In diesem Bekenntnis offenbaren Sie mehr, als Sie vielleicht beabsichtigen,« entgegnete die Gräfin, »doch wir werden ja sehen.« Sie erhob sich. »Der Zweck, der mich zu Ihnen führte, ist erfüllt. Haben wir beide aus dieser Zusammenkunft gelernt, dann um so besser. Ich sehne mich nach Ruhe. Fand ich sie bisher nicht auf den Meeren, so harrt sie meiner vielleicht in ländlicher Stille auf heimatlichem Boden.«

»Ich werde vor Ihnen dort sein. Haben Sie irgend welche Aufträge für mich, so würde ich es mir zur Ehre rechnen, Ihnen zu dienen,« sagte Lowcastle.

»Ich danke Ihnen,« antwortete die Gräfin. »Ich bin zu wenig an die Gefälligkeiten anderer gewöhnt, um sie jetzt noch in Anspruch nehmen zu mögen.« fügte sie hinzu, indem sie der Türe zuschritt.

Die beiden Herren schlossen sich ihr an. Vor der Pforte der Falltreppe kehrte die Gräfin sich ihnen noch einmal zu. Als sie die vom Mondlicht voll getroffenen Gestalten ihrer bisherigen unermüdlichen Verfolger in beinah unterwürfiger Haltung vor sich stehen sah, mochte es ihr selbst befremdlich erscheinen, daß sie diese, ohne es beabsichtigt zu haben, in so hohem Grade beherrschte.

»Meine Mitteilungen waren durchaus vertrauliche,« bemerkte sie nachlässig, »zuversichtlich rechne ich daher auf Ihre Diskretion.«

Die dringlichen Erklärungen der beiden Herren lehnte sie ab mit einem kalten: »Auf Wiedersehen in Marleyhouse,« und jeden Beistand verschmähend, stieg sie in die Jolle hinab.

»Die hat Vieles in ihrem Leben zu erdulden und zu tragen gehabt,« wendete der Doktor sich an Lowcastle, als die Jolle eilfertig auf die Pandora zuglitt.

»Sehr viel,« bestätigte dieser, »mehr, als irgend ein Mensch hätte ahnen können.«

»Eine seltene Erscheinung.«

»Die Rätsel sind aber gelöst. Mögen freundlichere Tage nun ihrer harren.«

—   —   —   —   —

Maud, Sunbeam und Peldram saßen in traulichem Geplauder auf dem Quarterdeck beisammen, als die Gräfin sich zu ihnen hinauf begab. Ihre Ankunft galt Peldram als Mahnung, aufzubrechen. Seinen höflichen Abschiedsgruß lohnte sie mit den Worten: »Auf Wiedersehen, wenn auch erst in Marleyhouse. Es ist mein Ernst,« fügte sie etwas wärmer hinzu, als die drei jugendfrischen Gestalten, wie in dem Glauben, falsch gehört zu haben, dastanden; »doch eilen Sie jetzt. Auf dem Eremit wird man Sie erwarten, auch wir sehnen uns nach Ruhe.« Und zu Maud gewendet fuhr sie fort: »Erfülle die Pflichten der Gastfreundschaft; begleite den Herrn bis zur Pforte,« und eine Erwiderung nicht abwartend, schritt sie mit Sunbeam nach dem Heck hinüber.

Verwirrung bemächtigte sich Mauds. Doch die Gräfin hatte befohlen, da gab es kein Zaudern oder Zagen. Aber die Sprache schien sie plötzlich verloren zu haben, als sie an Peldrams Seite auf das vereinsamte Deck hinabstieg. Was dagegen zwischen den beiden jungen Leuten auf dem kurzen Wege bis zur Pforte laut wurde, was sie in der Pforte selbst flüchtig austauschten, das sah nur der Mond, und der war ja verschwiegen.

Das Boot, das Peldram aufnahm, war kaum von der Treppe abgestoßen, da befand Maud sich bereits wieder oben bei der mütterlichen Freundin. Ihre Pulse flogen, verkürzt entwand der Atem sich ihren leicht geöffneten Lippen. Als wäre es vom Zufall abhängig gewesen, schritt die Gräfin mit den beiden Freundinnen nach der Brüstung hinüber, wo der Eremit in ihrem Gesichtskreise lag. Schweigend verfolgten sie mit den Blicken das Boot. Erst nachdem es hinter dem Eremit verschwunden war, kehrte die Gräfin sich Maud zu:

»Ich vermute,« begann sie anscheinend gleichmütig, »auf Grund unserer heutigen Auseinandersetzung sieht Lowcastle davon ab, mich fernerhin zu belästigen.«

Nach einer längeren Pause ermannte Maud sich zu der Bemerkung:

»Ich glaubte verstanden zu haben: ›Auf Wiedersehen in Marleyhouse?‹«

»Sagte ich das? Nun ja, die Formen der Höflichkeit bedingen oft Worte, bei denen das Herz nicht recht mitspricht. Das ›Auf Wiedersehen‹ galt übrigens Peldram und nicht der Jacht da drüben: die wird nicht lange mehr in unserer Nachbarschaft weilen.«

»Vorläufig bleiben wir noch hier?« fragte Maud mit heimlichem Zagen.

»Wenigstens bis die Brise stark genug ist, um die Segel zu füllen.«

Da Maud diesmal nichts zu erwidern wußte, fragte die Gräfin kurz:

»Du möchtest den leichtfertigen Kapitän Peldram heiraten?«

Zu ihrer Bestürzung vermochte Maud nur stotternd hervorzubringen:

»Solche Gedanken blieben mir bis zur Stunde fern – gewiß – ich fand keine Ursache –«

»So?« fiel die Gräfin gedehnt mit einem Anfluge von Spott ein, »das ist verständig von dir; denn kommen Hunger und Durst zusammen, sieht es mit der Liebe traurig aus. Doch ernstlich, wenn die Verhältnisse sich günstiger gestalteten und diese Frage träte an dich heran, was würdest du dann antworten? Ich setze nämlich voraus, der leichtfertige Kapitän raunte dir hinlänglich süße Dinge zu. um seine ehrliche Zuneigung nicht bezweifeln zu dürfen.«

Bild: Max Vogel

Ein Weilchen schwankte Maud. Was sie dann aber hätte sagen mögen, das offenbarte sie verständlich in der Innigkeit, mit der sie ihren Arm um den Hals der Gräfin schlang und unter hervorbrechenden Tränen ihr Antlitz auf deren Schulter barg.

»Wir wollen sehen, was sich tun läßt,« bemerkte die Gräfin eigentümlich sanft, als hätte sie selbst gegen Tränen der Rührung gekämpft, »doch jetzt beruhige dich. Da, Sunbeam, führe das arme Kind nach unten, tröste es auf deine Art und begebt euch zur Ruhe. Im Vorbeigehen sagt dem Kapitän, ich ließe ihn zu mir bitten.« Sie küßte Maud auf die Stirn; ernst sah sie den beiden schlanken Gestalten nach, bis sie, abwärts steigend, ihren Blicken entschwanden. Sie mochte ihres eigenen verschollenen Liebesfrühlings gedenken, daß sie so trübe über den mondbeleuchteten See hinspähte.

Kapitän Simpson trat neben sie hin.

»Was halten Sie vom Winde?« fragte sie, »mir ist, als hätte der Luftzug sich bereits verstärkt.«

»Binnen einer Stunde weht es hinlänglich, um Fahrt machen zu können,« erklärte Simpson.

»Dann fort von hier, so bald wie möglich. Bei Sonnenaufgang möchte ich das Landhaus unseren Blicken entrückt wissen.«

Während die Gräfin ihr Schlafgemach aufsuchte, brachte Simpson die ganze Schiffsbesatzung in Bewegung. Segel um Segel entfaltete sich. Vor der wachsenden Brise bauschten sich träge flatternd die Leinwandflächen, kleine wie große; die pünktlich einsetzende Ebbeströmung förderte die Fahrt.

—   —   —   —   —

Die Sonne war bereits eine Strecke am Himmel empor gestiegen, als die von Schrecken und Trübsal heimgesuchten Bewohner des Landhauses auf die Veranda hinaustraten. Ihr erster Blick galt den beiden Jachten. Nur der Eremit kreuzte noch in der Einfahrt zum See. Die Pandora war hinter den Inseln verschwunden.

»Ich ahnte, daß wir sie nicht wiedersehen würden,« sprach Jane, sich liebevoll den beiden Geschwistern zuneigend, die schwermütig in die Ferne spähten: »ja ich ahnte es. Wohltaten zu erweisen, kostet sie keine Überwindung: für solche aber Dank zu ernten, widerstrebt ihrem Gefühl.« Ihr sorgenvolles Antlitz erhellte sich zu einem Ausdruck unsäglicher Glückseligkeit. Tränen des Jammers perlten noch in ihren Augen, während die Lippen innig lächelten. Sie war Bruces ansichtig geworden, wie er, bereits von der Stadt kommend, über die Rasenflächen hinweg sich eiligen Schrittes näherte.

—   —   —   —   —

Mehrere Tage waren verstrichen, seitdem die beiden Jachten Anker lichteten, da las man in einer der angesehensten Zeitungen der Stadt New Orleans:

»Wir beklagen den plötzlichen Tod eines unserer geachtetsten Mitbürger, des Begründers des Hauses Wellingham. Das zahlreiche Leichengefolge zeugte für das hohe Ansehen, das er sich in allen Schichten der Bevölkerung erwarb. Zur ernsten Feier gestaltete sich die in aller Stille vollzogene eheliche Verbindung seiner Tochter mit dem Herrn Bruce, dem jetzigen Chef des Hauses Wellingham. Für beide war es ein kurzer aber schwerer Weg vom Traualtar bis zur offenen Gruft, in die der Vater und treueste Freund hinabgesenkt werden sollte. Leider war es dem Verstorbenen nicht vergönnt, seine beiden Kinder, die im zartesten Jugendalter auf rätselhafte Art verschwanden und in den jüngsten Tagen dem elterlichen Hause wieder zugeführt wurden, noch an sein Herz zu schließen.«

 


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