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Nachdem die Pandora hinter der Jolle zurückgeblieben war, verfolgte diese unter den regelmäßigen Ruderschlägen Ghastlys und Niels' ihren Weg auf das hell schimmernde Landhaus zu. In sich zusammengekrümmt saß Wellingham auf dem Steuerbänkchen, wo die beiden Ruderer ihn fortgesetzt im Auge behielten. Doch was sie auch nach dem warnenden Zuruf der Gräfin befürchten mochten: Wellingham rührte sich nicht. Er schien eingeschlafen zu sein. Erst auf dem letzten Viertel der Fahrt wurde er regsam. Hin und wieder nahm er den Hut vom Haupte, um, wie nach erschöpfender Arbeit, seine Stirn zu trocknen; dann ließ er die eine oder die andere über Bord reichende Hand spielend das Wasser furchen. Nur einmal sah er auf, senkte die Blicke aber sofort, als er Ghastly und Niels erkannte. Kein Laut verließ seine Lippen.
Wie er, schwiegen auch die beiden Männer vor ihm. Hinlänglich vertraut mit der Geschichte ihres Fahrgastes, mochten sie, jeder auf seine Art, sich dessen Stimmung zu vergegenwärtigen suchen. Mit heimlichem Grauen beobachtete Niels seine kindisch tändelnden Bewegungen, wogegen Ghastly seine Augen in die gekrümmte Gestalt gleichsam einbohrte. Er hielt sich bereit, ihn zu packen, wenn er Miene machen sollte, sich in die Fluten des Sees hinabzustürzen. Er sah mehr in ihm als den gewissenlosen Raubmörder; ihm galt er als der böse Feind, der einst, indem er ihn gewaltsam einer Verbrecherbande einverleibte, sein ganzes Erdendasein vergiftete.
Ausdruckslos stießen die Riemen gegen die Pflöcke, ausdruckslos gurgelte das sich vor dem Bug der Jolle teilende Wasser. Es plätscherte unter den weit geschwungenen Riemen wie unter Wellinghams Hand, indem er diese immer lebhafter eintauchte und kleine Tropfengarben abwärts schleuderte. Vertieft in das sinnlose Spiel, merkte er nicht, daß sie ihrem Ziel sich schnell näherten. Erstaunt sah er auf, als das Geräusch des Ruderns plötzlich verstummte, der Bootsrand einen Pfahl streifte und gleich darauf die Jolle seitlängs der kleinen Landungsbrücke zum Stillstand gelangte. Anstatt sich zu erheben, blieb er ruhig sitzen. Er schien auf etwas zu sinnen, nicht genau zu wissen, wo er sich befand. Erst auf Ghastlys Frage, ob es ihm nicht beliebe, auszusteigen, erhob er sich hastig, und mit einer Gewandtheit, die man kaum noch in ihm gesucht hätte, schwang er sich nach der Brücke hinauf.
»Bin ich richtig hier?« fragte er ängstlich in die Jolle hinab.
»Gewiß Herr,« antwortete Niels bestürzt.
»Ich meine, ob ich mich auf dem Wege zum Landhause befinde?«
»Brauchen nur da über den Weg zu gehen,« versetzte Ghastly rauh, »Sie sollten doch Ihre eigene Heimstätte kennen.«
»Ich kenne sie, ich kenne sie, ich kenne sie,« flüsterte Wellingham, und gekrümmt, wie bei jedem Schritt einer drohenden Gefahr ausweichend, schlich er von der Brücke hinunter.
Sprachlos vor Grauen sahen die beiden Gefährten ihm nach, wie er eilfertig über den Weg schlüpfte und im Schatten der ihn begrenzenden Büsche verschwand.
»Dem setzt's Gewissen hart zu,« meinte Ghastly finster, »aber er hat's verdient, bei Gott, er hat's verdient,« und die Jolle abstoßend, beeilten sie sich, aus einer Umgebung zu entkommen, die ihnen mit Flüchen angefüllt erschien. –
Wellingham hatte die Gitterpforte behutsam geöffnet und wieder hinter sich zugedrückt. Kaum aber kehrte er sich dem Landhause zu, als Cunning vor ihm stand. Woher er kam, Wellingham wußte es nicht; ihm war, als hätte die Erde ihn ausgespien. Entsetzt prallte er zurück; erst als Cunning seine Stimme erhob, erkannte er ihn, und wie Schutz bei ihm suchend, packte er seinen Arm.
»In der Hölle Namen,« redete Cunning ihn erschrocken an, und in seinem Organ verriet sich der Kleinmut des ratlosen Feiglings, »hab' hier herum gewartet an die drei Stunden. Dachte mir gleich, daß es nicht mit rechten Dingen zugehe, als Sie das Boot heimschickten.«
»Still, still,« raunte Wellingham ihm mit verkürztem Atem zu, »kein Wort mehr. Die Bäume haben Ohren: die erzählen es denen an Bord der Jacht. Es ist alles heraus – wie war's doch? Ich glaube, ich soll morgen wieder hinüber – aber die können lange warten,« und er lachte vor sich hin, daß Cunning das Blut in seinen Adern erstarren fühlte.
»Wellingham – Mac Lear,« stieß er schaudernd hervor, »besinnen Sie sich. So redet kein vernünftiger Mann. Der Henker über die an Bord des verdammten Schoners! Die haben Ihnen den letzten Verstandesfunken ausgeblasen. Hab's geahnt; da gehen Geister um auf dem Schiff –«
»Richtig, Cunning. Ein Geisterschiff, ein Totenschiff,« versetzte Wellingham wieder geheimnisvoll, »ich selber sah Tote. Da ist der Larsen, der verriet alles, und der Bill Fathom. Ihr habt's verschuldet mit eurer Dummheit. Keiner wollte auf mich hören, als ich riet, die Riemen zurückzubehalten, und lieber den Bill Fathom bei ihnen zu verstauen. Geschah's, wie ich wollte, so war die Geschichte vergessen! statt dessen« – er näherte seine Lippen Cunnings Ohr – »statt dessen wartet jetzt der Henker auf uns, wenn wir uns nicht schleunigst aus dem Staube machen.«
Cunning schlotterten die Knie. Nachdem er mehrfach versucht hatte, Wellinghams sich überstürzenden Redefluß zu unterbrechen, ergriff er ihn mit beiden Händen am Rockkragen.
»Mac Lear,« zischte er ihm ins Ohr, »soll ich hängen, so hängen Sie neben mir. Aber so weit ist's noch nicht. Es kommt auch nicht dahin, so lange der Weg zur Flucht offen ist, und Sie nur in 'ne Goldtonne zu greifen brauchen, um uns beide mit Reisegeld zu versehen. Hören Sie, Mac Lear? Oder ist Ihre letzte Vernunft zum Teufel?«
»Mac Lear?« fragte Wellingham zurück. »Das ist lange her. Steuermann war er auf der Emilia.«
Fester packte Cunning den alten Genossen. Todesangst schüttelte ihn bei dem Gedanken, daß Irrsinn ihn befallen habe, er in diesem Zustande entfliehen und das zwischen ihnen schwebende furchtbare Geheimnis ausschreien könne. Nur ein Mittel gab es noch, ihn zu beschwichtigen, versagte das aber, so war sein Los entschieden.
»Mac Lear,« redete er ihn zitternd vor Angst und Wut an, »wollen Sie uns beide an den Galgen liefern, so soll's mir recht sein. Was aber Miß Jane –«
Durch eine heftige Bewegung riß Wellingham sich los. Einen Schritt zurückprallend, strich er mit den Händen über die Stirn.
»Cunning, was bedeutet das?« fragte er wie aus tiefen Träumen erwachend.
Cunning begriff den errungenen Vorteil und nutzte ihn schleunigst mit den Worten aus: »Es bedeutet, daß Sie nur die kleinste Unvorsichtigkeit zu begehen brauchen, um Ihre Tochter Jane vor Jammer und Schmach sterben zu sehen, zu hören, wie sie Ihnen mit dem letzten Atemzug einen Fluch zuruft?«
Wellingham beugte den Nacken. »Cunning, Sie sind ein Teufel,« sagte er zähneknirschend, doch dieser fuhr fort:
»Kein Teufel, Mann, oder ich möchte alles seinen Gang gehen lassen. Nein, Mann, retten möchte ich Sie und mich selber. Die auf der Jacht haben's Ihnen angetan; da müssen wir das beste davon machen. Mein Rat ist: Sie helfen mir zunächst von dannen. Bin ich aus dem Wege, so kann's Ihnen nicht schwer werden, sich selber aus der Falle zu ziehen. Sie brauchen nur dafür zu sorgen, daß Miß Jane nichts von der Sache erfährt.«
»Ja, Cunning, sie muß geschont werden. Kostete es mich das Leben, so muß die Wahrheit ihr verborgen bleiben,« versetzte Wellingham entschlossen, und Cunning atmete auf bei diesem Beweise des wieder geklärten Denkvermögens; »doch hier ist weder der Ort noch die Zeit, ein bestimmtes Verfahren zu vereinbaren. Während ich durchs Haus gehe, steigen Sie durchs Fenster in meine Wohnung ein. Da stört uns niemand. Erwägen Sie unterdessen alles noch einmal. Was Sie auch vorschlagen mögen – und es steht nicht im Widerspruch mit der Vernunft – das soll gewährt werden. Ich glaube beinah selber, je eher Sie von hier verschwinden, um so besser ist es. Ich wünschte, ich könnte Ihrem Beispiel folgen.« Er kehrte sich ab und quer über die Rasenplätze hinweg schritt er auf das Haus zu.
In der an die Veranda stoßenden Vorhalle brannte noch Licht. Ein schwarzer Aufwärter harrte seiner daselbst. Anstatt dessen Bedienung anzunehmen, schickte er ihn zu Bett. Auf einem Umwege sich nach seinem Zimmer begebend, durchschritt er den Korridor, auf dem er die Tür zu Janes Schlafgemach öffnete. Anklopfend sprach er hinein, daß er nach einem auf der Pandora angenehm verlebten Abend im besten Befinden heimgekehrt sei.
»Gott sei Dank,« hieß es unverkennbar erleichterten Herzens zurück, »ich konnte nicht einschlafen. Dein Ausbleiben beunruhigte mich zu sehr.«
»Keine Ursache zum Sorgen,« versetzte Wellingham zärtlich, »gute Nacht, mein Kind.«
Ein gedämpftes »Gute Nacht« drang zu ihm heraus, und ohne Säumen verfolgte er den Weg nach seinen Zimmern weiter. Die Blicke hatte er vor sich auf das unstet flackernde Licht gesenkt. Es beleuchtete sein Antlitz grell. Geisterbleich trug es den Ausdruck finsterer Entschlossenheit. Um die fest aufeinander ruhenden Lippen spielte ein höhnisches Lächeln.
Als er sein Arbeitszimmer betrat, war Cunning bereits anwesend. Auf dem gewohnten Platze saß er. Vor ihm auf dem Tische brannte die Lampe. In seiner gekrümmten Haltung erinnerte er an die verwachsene Gestalt eines Unheil brütenden Gnomen. Ernste Zweifel prägten sich auf seinen häßlichen Zügen aus, ängstliche Spannung lugte aus seinen Augen. Es peinigte ihn der Argwohn, daß während der kurzen Zeit, in der Wellingham sich selbst überlassen geblieben, abermals Irrsinn Besitz von ihm ergriffen habe. Wider sein Erwarten bewegte er sich aber mit ernster Würde. Dieser Ruhe indessen nicht trauend, hoffte er, gegen die Folgen eines neuen Ausbruchs der unheimlichen Gemütsstimmung sich dadurch zu schützen, daß er ihn abermals an seine Tochter erinnerte.
»Ich vermute, Miß Jane ist durch Ihre Heimkehr nicht gestört worden,« redete er ihn an, und die Wirkung seiner Worte prüfend, sah er schärfer in Wellinghams Gesicht.
»Sie schläft,« hieß es kalt zurück. »Doch kümmern Sie sich nicht um das Kind. Wir sind jetzt ungestört und werden es auch bleiben.«
»Nur 'ne halbe Stunde guten Willens von beiden Seiten, und die Angelegenheit ist erledigt,« versetzte Cunning. »Ich vermute, Sie fanden an Bord dieser vom Satan herbeigelotsten Jacht – –«
»Lassen wir die Gesellschaft auf der Jacht. Beraten wir lieber, auf welche Art Sie, ohne Verdacht zu erregen, von hier fortkommen.«
»Was gibt's da viel zu beraten?« fragte Cunning, »Sie zahlen mir eine ordentliche Summe, und wenn ich da draußen auf dem Gesimse meinen Kopf aus dem Fenster zurückziehe, haben Sie mich zum letztenmal gesehen.«
»Wie viel gebrauchen Sie?« fragte Wellingham eintönig.
»Bei Gott, Mann, so viel, wie Sie im Hause haben. Sind's nicht fünfzigtausend Dollars, tu' ich's auch billiger.«
»Und Sie gehen und kümmern sich den Henker darum, was aus mir wird.«
»Jeder hilft sich selber, so gut er kann.«
»Richtig. Auch ich helfe mir auf meine Art,« erklärte Wellingham, und ein böses Lächeln zuckte um seine Lippen, »dabei kommt keiner zu kurz; nachher mögen sie uns nachpfeifen.«
»Hoffentlich schaffen Sie's, daß Miß Jane nicht darunter leidet, nie das Geheimnis über den Mac Lear erfährt,« wendete Cunning ein.
»Mac Lear ist längst gestorben. Trägt aber jemand dem Mädchen Arges über seinen Stiefvater zu, so glaubt es kein Wort davon,« erwiderte Wellingham. Er tupfte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn und bemerkte nachdenklich: »Da reden wir und vergessen die Hauptsache, ich meine das Geld.«
Er erhob sich und schritt nach dem Schreibtisch hinüber, ein doppelt verschlossenes Fach öffnend. Mißtrauisch blickte Cunning ihm nach. Nicht die kleinste Bewegung ließ er außer acht. Er wußte, daß der Revolver im Bereich seiner Hand lag, entdeckte sogar, daß er ihn aufnahm, jedoch nur, um ihn zur Seite zu legen; dann klirrten in dem hervorgezogenen Schubfach Goldmünzen, zwischen denen er mit einem Ausdruck des Behagens wühlte.
Cunnings Atem stockte. Er mochte der Stunde fluchen, die ihn mit dem früheren Genossen zusammengeführt hatte. Flüchtig maß er mit den Augen die Entfernung bis zu dem Vorhang hinüber, hinter dem das offene Fenster lag, und schnell kehrte er seine ungeteilte Aufmerksamkeit Wellingham wieder zu.
Dieser wühlte noch immer in dem Gelde, hob zuweilen eine Handvoll Münzen empor, um sie spielend in den Behälter zurückrieseln zu lassen. Der Klang des Metalls schien ihn zu ergötzen, zu berauschen, die ganze übrige Welt aus seinem Gedächtnis gestrichen zu haben.
Mit wachsendem Grauen beobachtete Cunning das unheimliche Spiel. Der alternde Mann mit dem gebleichten Haar glich einem noch unklar folgernden Kinde, so neugierig ruhten seine Blicke auf dem immer wieder erzeugten Goldregen.
»Was zählen Sie lange?« fragte Cunning endlich. »Tausend Dollar tun's, sogar fünfhundert. Es braucht überhaupt nur so viel zu sein, daß ich ein gut Stück Wegs hinter mich legen kann.«
Wellingham kehrte sich ihm erstaunt zu. »Tausend Dollars und fünfhundert machen fünfzehnhundert,« rechnete er wie beim Abschließen eines belangreichen Geschäftes, nur daß die Pupillen der stumpf blickenden Augen sich einander merkwürdig näherten, »damit würden Sie nicht weit kommen. Nein, Mann, Sie müssen viel Geld bei sich führen, so viel, daß Sie in der Lage sind, im Falle der Not ein eigenes Dampfboot mieten zu können,« und das Schubfach ganz herausziehend, trug er es nach dem Tisch hinüber. Dort begann er, vor Cunning lange Goldreihen hinzuzählen, jedoch vielfach die Zahlen verwechselnd, um jedesmal wieder von vorn anzufangen. Cunning erbebte bis ins Mark hinein. Wie selber der Vernunft beraubt saß er da. Jeden einzelnen Fehler entdeckte er sofort, und doch wagte er nicht, seine Stimme berichtigend zu erheben. Er wußte zwar Wellingham unbewaffnet, dagegen fürchtete er, durch den leisesten Widerspruch einen Paroxismus heraufzubeschwören, durch den alle Hausgenossen zusammengerufen werden mußten. Er ließ ihn daher gewähren.
Erst nachdem der Goldvorrat erschöpft war, Wellingham aber nach einem Paket Wertscheine griff, ermannte er sich zu der Bemerkung, daß er so viel Geld überhaupt nicht gebrauche.
Wellingham sah ihn durchdringend an und erwiderte spöttisch: »Da müßten Sie innerhalb vierundzwanzig Stunden Ihre Anschauungen vollständig umgewandelt haben, denn die lauteten bisher: je mehr, um so besser. Nein, Mann, ich bin kein Bettler, der um einige tausend Dollars feilscht,« und unter den sich hastig regenden Fingern bedeckte der Tisch sich schnell mit kleineren und größeren Banknoten.
Cunning zog seine Füße an sich und packte, um jederzeit aufspringen und sich flüchten zu können, mit beiden Fäusten die Seitenlehnen des ihn tragenden Sessels. Zugleich suchte er die Augen des Genossen. Jetzt schielte er nicht mehr, dafür aber zitterten seine Nasenflügel wie bei einem seine Wut nur noch mit Ungeduld zügelnden Raubtier.
»Mr. Wellingham,« hob er endlich in seiner Ratlosigkeit zaghaft an, »wenn das so weiter geht, wird's Tag, bevor wir fertig geworden, und das nächste ist, daß Miß Jane durch die Tür hereinlugt.«
»Jane?« fragte Wellingham flüsternd, und gleichzeitig verzerrte sein Antlitz sich grauenhaft, »richtig. Mann, die darf uns nicht mehr hier finden. Fort daher mit Ihnen,« und die linke Hand auf Cunnings Schulter stützend, schob er mit der rechten in fieberhafter Eile das Geld in einen Haufen zusammen. »In die Taschen, in die Taschen damit,« riet er dringlich, und den Papierschneider ergreifend, scharrte er mit diesem die noch zerstreuten Münzen vor den vollständig Kopflosen hin, »in die Taschen damit und dann fort, als hätte ein Sturmwind dich vom Deck gefegt.«
Pünktlich leistete Cunning dem Befehl Folge. Den drohenden Ausbruch wilder Tobsucht hoffte er durch Willfährigkeit zu beschwören. Wie Wellingham das Geld ihm zuschob, barg er es bald in dieser, bald in jener Tasche. Zugleich wand er sich unter dem schmerzhaften Griff, mit dem die Finger sich in seine Schulter eingekrallt hatten. Es war eben die rätselhafte Kraft des Wahnwitzes, die plötzlich den anscheinend hinfälligen Körper durchströmte. Aber auch der Scharfsinn des Irrwahns machte sich geltend, indem die unstet rollenden und schielenden Augen die Hände Cunnings überwachten und den günstigen Zeitpunkt zu dem beabsichtigten Angriff zu erspähen suchten. Denn kaum gewahrte er, daß jener mit beiden Fäusten zugleich den Inhalt der Taschen zusammenpreßte, als sein rechter Arm mit dem Papierschneider sich blitzschnell hob und senkte und dessen funkelnde Klinge sich mit unwiderstehlicher Kraft und Sicherheit bis ans Heft in Cunnings Brust vergrub.
Ein dumpfer Ton entrang sich des Getroffenen Lippen. Wie von Federkraft geschnellt, sprang er empor. Seine Augen vergrößerten sich, allein sie hatten die Sehkraft bereits verloren, denn mit keiner Wimper zuckte er, als Wellingham, ein gräßlich triumphierendes Lachen ausstoßend, die Waffe zurückriß und sie zum zweiten Male in seine Brust stieß. Cunning griff mit beiden Händen einige Male vor sich ins Leere, dann brach er neben dem Stuhl zusammen. Wellingham dagegen anstatt durch den Anblick des Gemordeten und des über den Teppich hinströmenden Blutes zur Besinnung zurückgerufen zu werden, war nunmehr gänzlich den finsteren Mächten des Wahnsinns verfallen. Was ihn zu der grausigen Handlung bewogen, die Lage, in der er sich befand, sogar diejenigen, an die er sich bisher durch unverfälschte Zuneigung unauflöslich gekettet fühlte: Alles, alles hatte er vergessen. Vom Menschen war an ihm nichts mehr geblieben, als die Gestalt, und auch die schien in nähere Verwandtschaft mit dem Tierreich zu treten, indem ihre Bewegungen durch die stumpfen Regungen des Irrsinns bedingt wurden.
Neugierig betrachtete er sein Werk. Es war, als hätte er nur darauf gewartet, daß der Tote sich noch einmal rege, um ihm mit einem neuen Angriff zu begegnen. Allmählich trat das Gepräge einer wunderlichen Verschmitztheit auf seine Züge, bis innere Befriedigung sich in einem gedämpften, deshalb aber nicht minder schrecklichen Lachen Bahn brach.
Plötzlich horchte er hoch auf. Den Atem anhaltend, stierte er um sich. Sein Antlitz war vollständig blutleer. Die jäh zum Ausbruch gelangte Tobsucht hatte mit der Verheerung in seinem Äußeren begonnen, und zwar um so nachdrücklicher, weil der Boden dazu seit Jahren durch nie schlummernde Gewissensbisse geebnet worden. Wer ihn am Tage zuvor sah, hätte ihn kaum wiedererkannt. Die vornehme Würde des reichen, hochangesehenen Handelsherrn war zu der rohen Empfindungslosigkeit einer gereizten tückischen Bestie herabgesunken. Nach allen Seiten lauschend, erhielt sein Antlitz trotz der geistlosen Augen den Ausdruck eines Fuchses. So schlich er nach dem offenen Fenster hinüber, wo er hinter dem Vorhang verschwand. Behutsam und mit einer Gewandtheit, die ihm seit langen Jahren fremd gewesen, stieg er auf das Gesimse hinaus. Dort niederkniend, packte er dessen äußersten Rand; seine Füße glitten niederwärts, und gleich darauf stand er im Garten. Halb springend, halb fallend hatte er das Gleichgewicht kaum zurückgewonnen, da stürmte er auch schon davon, so schnell seine Füße ihn zu tragen vermochten. Anstatt die Wege einzuhalten oder der am See hinlaufenden Landstraße zuzueilen, suchte er den Schatten der Haine und Strauchanlagen. Das ruhige Antlitz des Mondes schien ihm Schrecken einzuflößen, so eifrig trachtete er, dessen Schein zu meiden. Keuchend erreichte er die Grenze des Parks beinahe an der gleichen Stelle, wo der Neger einst mit den geraubten Kindern die Einfriedigung überstiegen hatte. Dort blieb er stehen, wie über die nunmehr einzuschlagende Richtung mit sich zu Rate gehend. Ob er sich noch auf dem eigenen Grund und Boden befand, er wußte es nicht. Der letzte Verstandesfunke, der kurz zuvor noch die zum Todesstoß erhobene Waffe lenkte, war erloschen. Mitleidiger als die Gräfin, hatte die Vorsehung sein Erinnerungsvermögen abgetötet. Was er im Leben verbrach, er hatte es furchtbar gebüßt. Was jetzt folgte, war nicht mehr, als das sinnlose Fortstürzen eines vernunftlosen Tieres, das sich auf allen Seiten von Verfolgern umringt wähnt.
Da tönte das Quaken eines Laubfrosches aus dem Gezweig des nächsten Baumes zu ihm nieder. Jäher Schrecken packte ihn. Er glaubte eine menschliche Stimme vernommen zu haben.
Von Entsetzen geschüttelt erstieg er die Einfriedigung. Des hindernden Gesträuches nicht achtend, ließ er sich auf der anderen Seite des Zauns zur Erde fallen, doch sofort sich wieder erhebend flüchtete er in das Gehölz hinein, bis der stockende Atem ihn zum Halten zwang. Mit Gewalt sein Keuchen mäßigend, horchte er wieder. Die quakende Stimme erreichte ihn nicht mehr. Aber eine andere war erwacht, indem eine Grille in ihrer eigentümlich harten Weise von oben herab zu ihm niederzirpte.
Schaudernd preßte Wellingham die Hände auf seine Ohren, und wiederum stürzte er davon. Sein Entsetzen wurde dadurch erhöht, daß hier und da, je nachdem er sich ungestüm durch dorniges Gestrüpp drängte, unsichtbare Hände nach ihm griffen, sein Zeug packten und es ihm fetzenweise vom Körper rissen. Doch seine Sehnen schienen plötzlich die Zähigkeit des Stahls angenommen zu haben, seine Lunge die Dehnbarkeit derjenigen eines gehetzten Hirsches. Wohin er seinen Lauf nahm, wußte er nicht, es kümmerte ihn auch nicht; nur Schatten, Schatten suchte er mit allen Kräften, um nicht das höhnisch-grinsende Antlitz des Mondes auf sich gerichtet zu sehen.
Erst als ein wassergefüllter Graben ihm den Weg versperrte, gelangte er wieder zum Stillstand. Ein dichter Strauch befand sich in seiner Nähe; in den verkroch er sich, die zurückgebogenen Zweige bedachtsam hinter sich als Schutzwehr ordnend. Wenige Minuten verharrte er in dem düsteren Versteck; dann ertönten wieder zarte Stimmchen in seiner Nachbarschaft. So fein klangen sie und träumerisch kosend, und doch erzeugte jeder einzelne sprühende Funken in seinem Gehirn. Nur kurze Zeit ertrug er diese Marter; dann glitt er unter dem Strauch hervor in den morastigen Kanal hinein und auf der anderen Seite wieder heraus. Und weiter floh er keuchend und ächzend vor den schrecklichen Phantomen des Wahnwitzes, die mit der Wut schlangenumkränzter Furien in seinen Spuren folgten.
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In süßen Träumen lag Jane. Süße Traumbilder umgaukelten die beiden Geschwister an Bord der Pandora. In Wellinghams Arbeitszimmer brannte die Lampe trüber. Melancholisch beleuchtete sie ein Bild des Todes in seiner grauenhaftesten Gestalt. –