Balduin Möllhausen
Die beiden Jachten
Balduin Möllhausen

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Sechstes Kapitel.

Suchen nach Klarheit. Der »Eremit«. Die Angler. Besuch an Bord.

Bild: Max Vogel

Als die Gräfin am folgenden Morgen auf Deck erschien, stand die Sonne bereits oberhalb der östlichen Gebirgsketten. Ihr erster Blick fiel auf eine Jacht mit ähnlicher Takelage, wie die der Pandora. Nur etwas kleiner war sie und vielleicht noch schlanker gebaut. In der Entfernung von etwa tausend Ellen ankerte sie vor der östlich gelegenen Insel Hansken, so daß die Fahrstraße, die diese von der Insel Utstejn schied, zwischen ihnen sich nördlich erstreckte. Aus der Art, in der man an deren Bord die Segel befestigte, ging hervor, daß sie vor Stunden erst eingetroffen war. Um eine bessere Aussicht zu genießen, stieg die Gräfin nach dem Quarterdeck hinauf. Simpson hatte eben das Fernrohr vors Auge gehoben und betrachtete aufmerksam den fremden Segler. Er war so vertieft in sein Spähen, daß er die Annäherung der Gräfin überhörte. Um ihn nicht zu stören, blieb diese einige Schritte von ihm stehen. Indem sie ebenfalls hinübersah, streiften ihre Blicke zwei Männer, anscheinend Matrosen, die in guter Rufweite von einem leichten Boote aus, das sich durch den seltsamen Schnabelhaken als ein norwegisches auszeichnete, mittelst langer Angelschnüre eine Makrele nach der anderen aus der Tiefe heraufholten. Die vermeintlichen Eingeborenen kaum beachtend, prüfte sie die fremde Jacht schärfer; zugleich vollzog sich auf ihrem Antlitz eine herbe Wandlung.

»Kennen Sie das Fahrzeug?« wendete sie sich an Simpson.

Dieser ließ überrascht das Fernrohr sinken, grüßte höflich und erwiderte: »Ich müßte mich sehr täuschen, wäre es nicht Lowcastles ›Eremit‹.«

»Dafür halte ich es,« versetzte die Gräfin eintönig; »die nächste Frage ist, ob seine Anwesenheit hier vom Zufall abhängig oder ob er meinen Spuren folgte.«

»Ich möchte das letztere behaupten,« hob Simpson an, und fest sah er in die ihn argwöhnisch prüfenden Augen der Gräfin, als diese mit einer Anwandlung von Ungeduld einfiel:

»Ist man nicht wahnsinnig, so könnte man es werden bei diesen unerhörten feindseligen Nachstellungen. Rätselhaft erscheint mir übrigens, daß Lowcastle mich gerade hier aufsuchte. Hinterläßt der Kiel der Pandora auf dem Wasser doch keine Fährte, und außer uns beiden wußte niemand um unser Ziel.«

»Der kurze Aufenthalt in Liverpool konnte nicht verborgen bleiben,« erklärte Simpson. »War jemand ernstlich darum zu tun, die Richtung unserer Fahrt auszukundschaften, so brauchte er nur dahin zu gehen, wo wir für unvorhergesehene Fälle Wechsel auf Stavanger einlösten.«

»Laßt sie machen,« versetzte die Gräfin finster, »fordern sie meine Feindschaft heraus, so soll sie ihnen im vollen Maße zufließen. Ich bin auf alle Fälle gerüstet,« und nach einer kurzen Pause des Sinnens: »Es ist nicht unmöglich, daß mir jemand einen Besuch abzustatten gedenkt. Weisen Sie jeden ab, wer es auch sei. Ich bin für niemand zu sprechen.« – –

Die beiden Angler waren unterdessen der Pandora näher getrieben. Sie boten eine zu alltägliche Erscheinung, um viel Beachtung zu finden. Einem argwöhnischen Beobachter möchte sonst schwerlich entgangen sein, daß der eine beim Auswerfen der Schnüre und dem Lösen der Beute Hände zur Schau trug, die zu der rauhen Matrosenbekleidung und dem abgegriffenen, tief über die Stirn gezogenen breitkrempigen Filzhut in einem Gegensatz standen, wie etwa die frisch gefangene, schön gefleckte Makrele zu einem gedörrten Stockfisch. Sein schwarzbärtiges Gesicht mit den lebhaften blauen Augen trug neben den Spuren bräunender Witterungseinflüsse einen Anflug jener gelblichen Farbe, die bei längerem Aufenthalt in den Tropen sich einzustellen pflegt. Krankhaft durfte sie indessen nicht genannt werden; höchstens legte sie für einen oberflächlichen Beurteiler seinen dreißig Lebensjahren noch ein halbes Dutzend zu.

Des weiteren möchte es einen schärfer Hinüberspähenden befremdet haben, daß er unter dem breiten Hut hervor weniger auf die Angelschnüre achtete, als auf das Leben, das sich auf dem Verdeck der Pandora entwickelte. Denn nachdem die Gräfin, die so lange seine Aufmerksamkeit fesselte, verschwunden war, erschienen Maud und Sunbeam in Begleitung der spielenden Panther auf dem Quarterdeck, wo sie in heiterem Verkehr sich die Zeit verkürzten.

Mit heimlicher Bewunderung beobachtete der Fremde wohl eine Stunde die freilich nur teilweise in seinen Gesichtskreis tretende freundliche Szene; dann seinem Begleiter, einem eingeborenen Fischer, ein Zeichen gebend, entfernte er sich in der gleichen wenig auffälligen Weise, in der er zur frühen Morgenstunde gekommen war. Niemand sah dem unscheinbaren Boot nach, das langsam nach der Hansken-Insel hinüberglitt und dort hinter der jüngst eingetroffenen Jacht verschwand. –

An Bord der Pandora verstrich der Tag in ungestörter Ruhe. Nur zu den Mahlzeiten erschien die Gräfin, um nach deren Beendigung sich wieder in ihre Einsamkeit zurückzuziehen. Man kannte sie und wunderte sich nicht darüber; fern lag allen der Verdacht, daß sie den Aufenthalt auf dem hochgelegenen Deck nur mied, um nicht von dem Eremit aus als Ziel für das Fernrohr gewählt zu werden. Der Besuch, den sie von dorther vermutete, blieb dagegen aus, und so konnte es scheinen, als ob die beiden Jachten in keiner anderen Beziehung zueinander ständen, als sie auf hoher See zwischen begegnenden Fahrzeugen verschiedener Nationen waltet.

Erst als Dämmerungsschatten sich auf den weit ausgedehnten Fjord senkten, bewegte die Gräfin sich unbesorgt wieder im Freien. Günstiger noch wurde ihre Stimmung beeinflußt, als Niels in seinem Boot vor der Falltreppe anlegte und seine Mutter beim Ersteigen der Pandora unterstützte. Beim ersten Anblick des Bootes hatte sie sich wieder in die Kajüte zurückgezogen, den Befehl hinterlassend, daß zunächst Niels allein zu ihr hereingeführt werde.

»Das nenn' ich Pünktlichkeit, wie sie einen rechtschaffenen Mann ziert,« redete sie den Eintretenden mit Wohlwollen an, »zugleich hoffe ich, daß der Fächer bei Ihrem Schatz eine freundliche Aufnahme fand. Es war wenigstens ein Geschenk, auf das eine Fürstin hätte stolz sein können.«

Die Zuversicht, mit der sie seines Schatzes erwähnte, überraschte den jungen Lotsen, daß er den Mut nicht fand, zu falschen Darstellungen seine Zuflucht zu nehmen.

»Mein ordentlicher Schatz ist's noch nicht,« bekannte er daher offen, obwohl nicht frei von Befangenheit, »und der Fächer befindet sich noch in meinen Händen. Aber morgen, da wird bei dem Lotsenmeister getanzt, und das ist die Gelegenheit, ihn an seine Adresse zu bringen.«

»Recht so,« versetzte die Gräfin billigend, und Niels' ehrliches Antlitz überwachend, spitzten ihre Blicke sich forschend zu, »was hat man für Dank davon, wenn man der Geliebten heimlich eine Freude bereitet? Offen und vor aller Welt muß es geschehen, auf daß ihr Stolz geweckt wird und die Leute nicht länger an der Zusammengehörigkeit zweifeln.« Sie entdeckte, daß Niels' Verlegenheit sich steigerte, und in der Besorgnis, ihn zurückzuschrecken, fuhr sie in mehr geschäftlichem Tone fort: »Bevor ich Ihre Mutter empfange, wollte ich Ihnen mitteilen, daß sich eine gute Gelegenheit bietet, mir einen wesentlichen Dienst zu leisten. Ich würde dabei nicht nur auf Ihren guten Willen und Ihre Klugheit rechnen, sondern auch auf Ihre Verschwiegenheit.« Sie säumte, bis Niels aus vollem Herzen seine Bereitwilligkeit erklärt hatte, dann sprach sie weiter: »Die Ursachen, die mich zu diesem oder jenem Verfahren bewegen, entziehen sich fremder Beurteilung; es handelt sich daher nur darum, ob es in Ihrer Gewalt liegt, in unverdächtiger Weise an Bord der drüben vor der Insel Hansken ankernden Jacht zu gelangen.«

»Nichts leichter als das,« versetzte Niels zuversichtlich, »ich brauche nur meine Dienste als Lotse anzubieten.«

»Gut, das läßt sich hören. Ihre Aufgabe, nebenbei eine sehr unschuldige, soll also sein, auszukundschaften, was für Leute sich an Bord jener Jacht befinden. Gelingt es Ihnen, in Erfahrung zu bringen, was man dort bezweckt und wie lange man im Buknfjord zu verweilen gedenkt, so verpflichten Sie mich zu besonderem Dank. Selbstverständlich, betrachten Sie Ihre Beziehungen zu mir und der Pandora als Geheimnis. Lieb wäre es mir, brächten Sie mir heute abend – und der ist lang – noch Bescheid.«

»Aber meine Mutter,« hob Niels zweifelnd an, und schnell unterbrach die Gräfin ihn mit den Worten:

»Um Ihre Mutter sorgen Sie nicht. Brechen Sie jetzt von hier aus in Ihrem Boote auf, so lasse ich sie von meinen Leuten dahin rudern, wohin sie gebracht zu werden wünscht.«

Da Niels keine weiteren Einwendungen erhob, entließ die Gräfin ihn mit der Bemerkung: »Verlieren Sie keine Zeit, und seien Sie vorsichtig. Im übrigen handeln Sie, wie es der gesunde Menschenverstand Ihnen eingibt, und lassen Sie Ihre Mutter aus dem Spiel. Die ganze Angelegenheit muß zwischen uns beiden allein bleiben.«

Von Eifer für seinen Auftrag erfüllt, trat Niels aufs Deck hinaus. Dort wartete er, bis seine Mutter in die Kajüte geführt worden war, und gleich darauf trieb er sein Boot mit kräftigen Ruderschlägen nach dem in der Dunkelheit verschwimmenden Eremit hinüber. –

Bei der Gräfin eintretend, wußte Christine Knudson nicht, worüber sie mehr erstaunen sollte, ob über die sie blendende, ungeahnte Pracht, oder das freundliche, Zutrauen erweckende Wesen, mit dem die Schiffsherrin sie zum Niedersetzen auf einem der schwellenden Polster nötigte.

»Ich vermute,« begann letztere das Gespräch, »daß Sie durch Ihren Sohn über mein Anliegen einigermaßen unterrichtet wurden, und füge hinzu, daß ich, vom Zufall begünstigt, Näheres, wenn auch nicht Verbürgtes, über das Ende Ihres Bruders erfuhr, und die Auszahlung einer Entschädigungssumme an Ihre Mutter immerhin im Bereiche der Möglichkeit liegt. An Ihnen ist es nun, mir vertrauensvoll alles mitzuteilen, was Sie über das Schicksal des Verschollenen wissen oder auch nur mutmaßen. Ich gerate dadurch in die Lage, vorkommendenfalls Ihre und der Ihrigen Rechte nachdrücklich vertreten zu können.«

Frau Knudson, die englische Sprache nur unvollkommen beherrschend, sann eine Weile nach, dann hob sie schüchtern, jedoch mit wachsendem Mute an: »Den Namen des Schiffes und den des Kapitäns hatte der Bruder uns geschrieben, ebenso den Namen des Hauses, auf dessen Rechnung die ›Emilia‹ ausgerüstet und befrachtet worden war. Als nun der Mutter Angst um den Erich immer schrecklicher wurde, schrieb ich in meiner Not nach Hull an den Reeder um Auskunft. Durch den erfuhr ich, daß die Emilia an der brasilianischen Küste gescheitert wäre und der Kapitän, der Schiffskoch und unser Erich zusammen mit einem Passagier ihren Tod in den Wellen gefunden hätten. Die Angelegenheit des verlorenen Schiffes, das versichert war, hatte der erste Steuermann mit einem Handlungshause in Rio geordnet. Dabei war herausgekommen, daß die gerettete Mannschaft ihren Lohn vollständig ausgezahlt erhielt. Auch die Forderungen der Verunglückten sollten ihren hinterbliebenen Anverwandten zugute gerechnet werden, und da sorgte ich dafür, daß das Geld nicht an meine Mutter, sondern an mich geschickt wurde um des Grames der alten Frau willen. Dadurch aufgemuntert, schrieb ich abermals an den Reeder – und legte ihm die Bitte ans Herz, nachzuforschen, ob die Uhr meines Bruders und andere Andenken sich unter den geborgenen Gütern befunden hätten. Der Empfang dieses Briefes wurde mir umgehend angezeigt, jedoch mit der Bemerkung, er wäre an den Mac Lear – so hieß der erste Steuermann – nach Rio geschickt worden. Der läge dort schwer krank darnieder und sei der einzige Mann, in der Sache zu raten, habe aber sonst nichts mehr mit dem Hause zu schaffen.

»Ein halbes Jahr ging herum, und ich dachte kaum noch an die Geschichte, da traf aus New Orleans die kurze Benachrichtigung ein, Mac Lear wäre längst gestorben und begraben. Außerdem hieß es, er hätte in seinem Elend nicht so viel hinterlassen, als erforderlich, um nur die Kosten der Beerdigung zu decken, und damit war ich abgefunden.«

»Es ist nicht wahr! Er starb nicht, kann nicht, darf nicht gestorben sein!« fuhr die Gräfin bei dieser Kunde mit einer Heftigkeit auf, daß Frau Knudson sich vor ihr fürchtete, und die Worte auf ihren Lippen stockten. »Nein, er muß noch leben – im Elend verkommt keiner, der frei über zweiundzwanzigtausend Pfund –« sie brach ab und finster starrte sie vor sich nieder. Ihren Gast, der bei der plötzlich eingetretenen Totenstille kaum zu atmen wagte, schien sie vergessen zu haben. Erst nach einer längeren Pause richtete sie sich wieder auf, und in den Zügen der heimlich bebenden Frau Bestürzung gewahrend, sprach sie ruhiger, fast schmeichelnd: »Wundern Sie sich nicht, gute Frau, über mein Ungestüm. Ich bin so oft in meinem Leben getäuscht und hintergangen worden, daß ich mißtrauisch werden mußte. Aber zeigen Sie die Schriftstücke her. Dienen sie auch nur im geringsten dazu, mich auf eine von mir gesuchte Spur zu lenken, dann sollen Sie nie bereuen, mir Ihr volles Vertrauen geschenkt zu haben.«

Vollständig verwirrt überreichte Frau Knudson die Briefe. Mit peinlicher Genauigkeit prüfte die Gräfin diese. Sie enthielten nichts anderes, als das, was sie bereits gehört hatte; trotzdem bot sie ein ansehnliches Geldgeschenk für deren Überlassung.

»Ich nehm's mit Dank an, weil's der alten Mutter eine kleine Erleichterung einträgt,« antwortete Frau Knudson zaghaft. Sie schöpfte tief Atem, und schüchterner noch, wie angesichts einer sie erdrückenden Last, fuhr sie fort: »Eine dringliche Bitte, von deren Gewährung ein großer Segen für mich und die Meinigen zu erwarten wäre, möchte ich noch an die gnädige Frau richten.« Sie zögerte, jedoch durch eine aufmunternde Gebärde der Gräfin ermutigt, sprach sie freier: »Mein Sohn erzählte, Sie hätten ihm eine Stelle auf diesem Schiff angeboten. Weil aber der Niels nicht darauf einging, bitte ich als seine Mutter inständigst, das nicht als letztes Wort gelten zu lassen. Nehmen Sie ihn mit fort. Ich sag's nicht ums Geld, denn Mangel ist mit uns verwandt, daß wir ihn nicht fürchten; aber meinem Sohne gönn' ich's, daß er wieder einmal aufs Meer hinausgeht, wohin von jeher sein Sinn stand, mag's mir immerhin schwer werden zum sterben, wenn ich ihn scheiden sehe, wie einst meinen Bruder, der nicht mehr heimkehrte.«

Nachdenklich betrachtete die Gräfin die schmerzlich bewegte Frau. Auf ihren Zügen, sonst so streng und verschlossen, lagen warme Teilnahme und heimlicher Triumph im Zwiespalt. Endlich entgegnete sie beinah klanglos: »Ein seltsames Anliegen. Es ist sonst nicht Art der Mütter, ihre Söhne aufs tückische Meer hinauszuschicken. Geschieht es dennoch, so muß ein ernster Grund vorliegen. Die Besten sind es gewöhnlich nicht, die man von Hause forttreibt; und Ihr Sohn machte auf mich den Eindruck eines unverdorbenen, ehrenwerten jungen Mannes.«

»Das ist er, ja, das ist er,« bestätigte die Frau eifrig, »ein so guter und getreuer Sohn, wie kein zweiter gefunden wird, und wenn ich ihm von dannen helfe, so geschieht's, weil ich ihn vor großem Unglück behüten möchte. Aber ich will's offen bekennen: da ist die Tochter des reichen Lotsenmeisters, und die hat's ihm angetan, daß der arme Junge an sie denkt, wo er geht und steht, und doch ist's vergebliche Mühe. Denn bevor die Karen Sture ihn heiratet, oder der Vater seine Einwilligung dazu gibt, müssen die Schären draußen im Meer versinken. Wenn die Karen das nur bedenken und ihm die Wahrheit gerade heraus sagen wollte! Statt dessen zieht sie ihn nach sich mit blanken Augen und schönen Worten, daß er sein Leben für sie hingeben möchte, und behandelt ihn in demselben Atem wie einen Dienstknecht, der nicht würdig, ihre Schuhriemen zu lösen. Der Niels aber ist blind; der sieht nicht ein, daß er nur ihr Spielzeug ist, begreift nicht, daß die Menschen ihn verlachen. Nimmt sie aber einen anderen, so tut er sich ein Leid an, das weiß ich gewißlich, und wär's ihm überhaupt noch möglich, von ihr zu lassen, so könnt's nur geschehen, wenn er außer Landes ginge auf ein Jahr und länger. Vergäße er sie nicht ganz, so könnte sie ihn doch fernerhin nicht verhexen mit ihren Augen und dem klingenden Lachen; und kehrte er nach Jahr und Tag heim und fände sie als die Frau eines anderen, so würd's ihn kaum noch grämen. Er spottete wohl gar seiner selber, weil er sich von ihr so lange an der Nase herumführen ließ.«

Aufmerksam hatte die Gräfin den Mitteilungen der bekümmerten Mutter gelauscht. Was auch in ihrem Inneren vorgehen mochte: ihr Antlitz verharrte in eherner, kalter Ruhe. Nur in ihren halbverschleierten Augen webte es geheimnisvoll. Wie einen tiefen körperlichen Schmerz bekämpfend, preßten sich die Lippen aufeinander. Grausamkeit wohnte in den Falten zwischen den leicht gerunzelten Brauen. Unsägliches Leid und Barmherzigkeit lagerten um die ein wenig gesenkten Mundwinkel.

Während der wiederum eingetretenen Stille hingen Christine Knudsons Blicke an den regungslosen Zügen, wie an einem mit sieben Siegeln verschlossenen Buche. Ihre Furcht wuchs von Minute zu Minute. Endlich ertrug sie das Schweigen nicht länger. Ihren ganzen Mut zusammenraffend, stammelte sie: »Ich bat um Ungebührliches. Sie wollen ihn nicht mit fortnehmen.«

Bild: Max Vogel

»Es sollte mir eine Freude sein, den verwegenen jungen Seemann der Besatzung meines Schiffes einzureihen,« erwiderte die Gräfin ernst, »dagegen muß ich ablehnen, auch nur den Schein einer Beeinflussung seines freien Willens gegen mich wachzurufen.« Sie lächelte bezeichnend, wie über sich selbst, und fügte hinzu: »Nein, unmittelbar darf ich nichts gegen ihn unternehmen, oder ich verliere von vornherein sein Vertrauen. Und dann: wie oft erlebte man, daß das eigensinnigste Mädchenherz sich bekehrte.« –

»Die Karen bekehrt sich nicht,« fiel die Frau klagend ein, »zu lange beobachtete ich sie in meiner Sorge um den Niels. Sie ist ihm nur so lange zugetan, bis sie die erste Gelegenheit findet, ihn mit bitterbösen Worten und spöttischem Lachen abzufertigen.«

»Versuchen Sie Ihr Heil noch einmal bei ihm,« riet die Gräfin nunmehr beschwichtigend, »hört er nicht auf Ihr Wort, so können Sie nicht erwarten, daß fremde Menschen mehr bei ihm ausrichten. Und wer weiß, der Zufall spielt oft wunderbar,« und abermals lächelte sie seltsam, »daß im letzten Augenblick noch um diesen oder jenen kleinlichen Zwischenfall beide sich bitter verfeinden. Ein trotziger Bursche, wie Ihr Niels, erträgt nur bis zu einer gewissen Grenze die Launen eines hoffärtigen Weibes. Sollte aber so etwas eintreten, und er entschließt sich, sein Heil auf der Pandora zu versuchen, so bin ich gern bereit, ihn aufzunehmen. Eine Woche bleibe ich wohl noch hier liegen; in dieser Zeit kann sich viel ändern.«

Frau Knudson seufzte tief auf. Sie begriff, daß alle ferneren Bitten und Vorstellungen vergeblich sein würden. Von heimlicher Scheu befangen erhob sie sich, und mit abermaligem Dank für das reiche Geldgeschenk schritt sie aufs Deck hinaus. Ihr peinliches Erstaunen, Niels nicht vorzufinden, wurde dadurch beschwichtigt, daß vier Deckhände die Jolle der Pandora bemannten und sie aufforderten, zu ihnen hinunter zu kommen. Kaum hatte sie in dem leichten Fahrzeug Platz genommen, als es eilfertig mit ihr davonglitt. –

Es war um Mitternacht, als die Gräfin wieder nach oben gerufen wurde. Dort trat Simpson in Begleitung des jungen Lotsen ihr entgegen. Den Gruß des Letzteren beantwortete sie dadurch, daß sie beide aufforderte, ihr in die Kajüte zu folgen.

»Sie waren an Bord des Eremit?« hob sie, nachdem sie Platz genommen hatten, mit einer gewissen Hast zu Niels gewendet an.

»Ich war dort, und was ich da auskundschaftete, möchte weniger sein, als Eure Gnaden erwarten.«

»Gleichviel,« versetzte die Gräfin, »der kleinste Nebenumstand kann von Wichtigkeit für mich sein. Erzählen Sie also haarklein, was Sie sahen und hörten,« und ungesäumt begann Niels:

»An Bord zu kommen, kostete mich keine Mühe. Kaum oben, trat mir ein junger Herr entgegen und fragte nach meinem Anliegen. Als ich meine Dienste als Lotse anbot, führte er mich nach dem Achterschiff hinüber, und da saßen drei Herren beieinander –«

»Wie sahen sie aus?« fiel die Gräfin rauh ein.

»Ich konnt's nicht genau ausmachen in der Dunkelheit, aber ich meine, es waren ältere Männer. Den einen redeten sie ›Doktor‹ an –«

»Was? Doktor?« stieß die Gräfin hervor.

»Ich kann's nicht anders sagen, denn ich hörte es wohl zehnmal –«

»Aber die anderen – weiter, weiter, beeilen Sie sich.«

Und wenn auch befremdet durch die Heftigkeit der Gräfin, fuhr Niels doch mit ruhiger Zuversicht fort: »Einen zweiten nannten sie Lowcastle, ich kann drauf schwören, und ein vornehmer Mann war er ebenfalls, denn die beiden, die bei ihm saßen, taten ordentlich schön mit ihm. Und da war noch einer, den hielt ich für eine Gerichtsperson, weil sie ihn nicht beim Namen anredeten, sondern ›Richter‹.«

Mißtönend lachte die Gräfin auf.

»Haben Sie gehört, Simpson?« wendete sie sich an diesen, »Lowcastle im Verein mit einem Arzt und einem Richter! Was meinen Sie dazu?«

Simpson zuckte die Achseln und erwiderte mit einem bezeichnenden Blick auf Niels: »Ich habe meine eigenen Anschauungen darüber, möchte aber damit zurückhalten, bis ich mehr hörte.«

Die Gräfin, auf solche Weise zur Vorsicht gemahnt, nagte flüchtig auf der Unterlippe. »Also weiter, mein Freund. Lowcastle, ein Arzt und eine Gerichtsperson. Sie sprachen noch von einem jüngeren Herrn –«

»Den riefen sie Kapitän Peldram,« beeilte Niels sich, die Frage der Gräfin zu beantworten.

»Kapitän Peldram,« wiederholte diese gedehnt, »o, ich entsinne mich, seinen Namen früher gehört zu haben. Ich glaube in Madras. Wie kommt der hierher? Doch das ist Nebensache; fahren Sie fort und kümmern Sie sich nicht um meine Gegenbemerkungen,« und wiederum wechselte sie einen vielsagenden Blick mit Simpson.

»Ich bot also meine Dienste an,« erzählte Niels weiter, »und ersuchte den Herrn Lowcastle – den hielt ich nämlich für den Schiffsherrn –, mir den Lohn für das Hinauslotsen seiner Jacht zu gönnen. Auf seine Frage, ob ich bei meinen jungen Jahren der Arbeit gewachsen sei, mußte ich freilich bekennen, daß ich die Pandora während der gestrigen scharfen Kühlte wohlbehalten hier vor Anker gebracht hätte. Da wurde er gesprächiger und meinte, daß es mit uns wohl etwas werden würde. Dann fragte er über alles hier an Bord, nach der Gräfin und den beiden jungen Ladies, sogar ob mir nichts Wunderliches hier und da aufgefallen wäre. Darauf erklärte ich, daß ich zu viel mit dem Schiff und den Brandungen zu tun gehabt hätte, um mich um andere Dinge zu kümmern. Das mochte er einsehen, denn er redete eine Weile mit dem Doktor und dem Richter, jedoch so leise, daß ich kaum ein Wort davon verstand. Als aber der junge Herr dazu kam, den er anredete wie einen Anverwandten, da fragte er ihn, ob er morgen einen Besuch an Bord der Pandora abstatten wolle. Dazu war der gleich bereit, setzte aber hinzu, daß, wenn das ›Schriftstück‹ überhaupt hierher getragen werden solle, ein anderer das ausführen möge. Er sei ebensowenig ein Gerichtsdiener, wie ein Briefbote. Dazu schwiegen die Herren, ich glaube, weil der junge Herr wohl mehr gesagt hatte, als dem Lowcastle und den anderen beiden angenehm war. Auch befragte man mich nicht weiter; dagegen bot der Schiffsherr zu den Lotsengebühren mir noch ein gehörig Stück Geld, wenn ich ihm pünktlich die Stunde mitteile, um die die Pandora losmache. Ich versprach's und dachte, daß er selber die Augen offen halten möchte. Auch sagte ich ihm, daß die Segel auf der Pandora in einer Weise verfestigt wären, als ob sie Wochen über ihrem Anker liegen sollte; damit erreichte mein Besuch auf dem Eremit sein Ende.«

Während des letzten Teiles dieser Mitteilungen hatte die Gräfin finster vor sich nieder gestarrt. Nur Simpson erriet aus der Erregtheit, mit der sie kaum bemerklich auf der Unterlippe nagte, wie es in ihrem Inneren kämpfte und arbeitete. Sobald aber Schweigen eingetreten war, richtete sie sich nachlässig auf.

»War's nur wenig, was Sie auskundschafteten,« hob sie zu Niels gewendet an, »so haben Sie doch als umsichtiger Mann gehandelt, und wann auch immer ich von hier aufbreche: kein anderer als Sie soll der Pandora auf die hohe See hinaushelfen. Da es indessen möglich ist, daß ich zur nächtlichen Stunde den Anker hebe, so fragt es sich, ob Sie imstande sind, auch in der Dunkelheit als Lotse das Kommando zu übernehmen.«

»Vom Winde hängt's ab und vom Seegange,« erklärte Niels freimütig. »Hat's seine Schwierigkeit mit dem Wege, den wir gestern kamen, so tut's der Karmsund, mag's immerhin 'ne Strecke weiter bis zum offenen Ozean sein.«

»Gut,« versetzte die Gräfin, indem sie sich erhob, »darüber verhandeln wir später; für heute genügt mein Wort, daß ich auf Ihren Lotsendienst rechne, wenn ich den Buknfjord wieder verlasse; einige Wochen werde ich wohl noch bleiben.«

Nachdem die Tür sich hinter Niels geschlossen hatte, wandte die Gräfin sich Simpson zu. Hart klang ihre Stimme, indem sie fragte: »Lowcastle in Begleitung eines Arztes – zuverlässig eines Irrenarztes – und eines Richters, dazu dieser Peldram, der uns Mauds wegen vor der Zeit von Madras forttrieb, wie denken Sie darüber?«

Simpson suchte in der Gräfin Zügen, um nach deren Ausdruck seine Erwiderung zu bemessen. Doch ebenso leicht hätte er die Gedanken einer Sphynx aus deren steinernem Antlitz herausgelesen. Er mißtraute ihrem Gemütszustande, fürchtete aber zugleich ihren durchdringenden Scharfsinn. Es blieb ihm daher nur übrig, seine Ansichten ungeschminkt seiner Überzeugung gemäß darzulegen.

»Ich kann mich von dem Argwohn nicht lossagen, daß man auf die eine oder die andere Art sich Ihrer Person zu bemächtigen sucht,« erklärte er zögernd.

»Und zu solchem Zweck sich mit einem Verhaftsbefehl ausrüstete,« fügte die Gräfin hinzu.

»Auch das muß ich zugeben. Die von dem jungen Lotsen erlauschten Worte lassen wenigstens keine andere Deutung zu.«

»Weshalb ging man nicht gegen mich vor, als in Liverpool so gute Gelegenheit geboten wurde?«

»Wahrscheinlich weil man Aufsehen vermeiden wollte. Einer Gräfin Marley von Marleyhouse bemächtigt man sich nicht auf bloßen Verdacht hin, wie jemandes, der gegen die Gesetze verstieß.«

Die Gräfin lachte gehässig.

»Man fürchtete den Rückschlag, wenn der Verdacht sich als unbegründet erwiesen hätte,« bemerkte sie darauf wieder ruhig, »eine Prüfung auf Verrücktheit würde aber umgangen werden können, wenn man die Gräfin Marley von Marleyhouse einfach dahin brächte, wo es Leute zu Dutzenden gibt, die gegen entsprechende Entschädigung deren Sinnlosigkeit beschwören.«

Eine laute Zustimmung mochte Simpson widerstreben, denn er verneigte sich nur, und die Gräfin fragte: »Wenn jemand mir einen gerichtlichen Befehl überreichte, wäre ich da gezwungen, ihn entgegenzunehmen?«

»Hier im Auslande nicht, und als Ausland gilt der Norwegen bespülende Meeresgürtel in Breite einer Meile.«

»Und was darüber hinaus liegt?«

»Das ist neutral; da kann jede Regierung über ihre Landeskinder auf Schiffen der eigenen Nation verfügen.«

»Vorausgesetzt, die Landeskinder lassen es ruhig über sich ergehen, als Opfer der nichtswürdigsten Intrigen, ähnlich toten Gegenständen behandelt zu werden. Doch damit eilt es nicht. Sind wir über die von Ihnen bezeichnete Grenze hinaus, so kommen wir auch weiter. Mein Landbesitz ist unantastbar, und die Meere sind groß.«

»Ich erlaube mir zu bemerken,« wendete Simpson höflich ein, »daß alle ferneren Schritte wohl zu überlegen sind. Der Eremit segelt mindestens ebenso schnell, wenn nicht schneller, als die Pandora.«

»Was wollen Sie damit sagen? Ich möchte den sehen, der es zustande brächte, ohne meinen Willen an Bord zu kommen, und trüge er drei Dutzend Verhaftsbefehle in der Tasche.«

»Aber der Eremit kann, ohne daß wir es zu hindern vermöchten, in unserem Kielwasser segeln Wochen und Monate, bis wir einem Kriegsdampfer begegnen, der uns sehr bald zum Beilegen zwingen würde.«

»So weit folgt der Eremit uns nicht,« versetzte die Gräfin mit Unheil verkündender Ruhe. »Um Verdrießlichkeiten zu vermeiden, wollen wir das Mögliche aufbieten, fremder Aufmerksamkeit zu entschlüpfen. Heftet der Eremit sich trotzdem an unsere Fersen, so geschieht's auf seine eigene Gefahr. Einen Streich will ich ihm spielen, der mehr nach Verrücktheit aussieht, als alles andere, was ich je unternahm und von den Elenden als der Ausfluß eines kranken Geistes gebrandmarkt wurde. Lange kann es überhaupt nicht mehr dauern, bis die Stunde der Abrechnung da ist, ich Rechenschaft fordere für das hinterlistige Untergraben des letzten Bißchens Ruhe, das mir noch von einem böswilligen Geschick gelassen wurde.«

Sie erhob sich. Das Haupt geneigt und die Hände auf dem Rücken ineinander gelegt, verließ sie die Kajüte. Langsamer folgte Simpson nach. Wie unter dem Druck einer gewaltigen Verantwortlichkeit hatte sein Antlitz sich umdüstert. In seinen Ohren lebte die geheimnisvolle Drohung der Gräfin. Wie ein böses Gespenst schwebte ihm der unerschütterliche, jeden Widerstand mißachtende Wille vor, mit dem sie, wenn einmal zu einer bestimmten Handlung entschlossen, diese auch durchführte.

Als er hinaustrat, befand die Gräfin sich bereits oben auf dem Quarterdeck. Grübelnd saß sie dort auf einer Bank. Was galt ihr die kühle, dunkle Nacht! Ob Nacht oder Tag, ob Wärme oder Kälte, ihr war alles einerlei.

 


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