Balduin Möllhausen
Die beiden Jachten
Balduin Möllhausen

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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Der Mann mit der Kalkpfeife. Besuch im Landhaus. Unter vier Augen.

Ein günstiger Wind hatte der Pandora von dannen geholfen. Es konnte daher nicht überraschen, daß sie folgenden Tages in den ersten Nachmittagsstunden auf dem Pontchartrain vor Anker ging. Schon lange vorher hatte Wellingham von der Veranda aus beobachtet, wie das in volle Leinwand gehüllte Schiff vor ermattender Brise vom Golf her in der breiten Einfahrt zum See aufkreuzte und in der Nachbarschaft des Eremit den Anker fallen ließ. Jetzt lag sie mit blanken Spieren und Raaen, der Segel entkleidet, da.

Bruce, gewohnterweise von Jane an der Pforte erwartet, hatte mit dieser eben die Veranda erstiegen. Indem Wellingham ihre Aufmerksamkeit auf die beiden Jachten hinlenkte, trennte sich von der zuletzt eingetroffenen ein Boot. Soviel sie mittelst eines Fernrohrs zu unterscheiden vermochten, wurde es von sechs Matrosen gerudert. Zwei Gestalten, eine Dame und ein Herr, saßen auf der Spiegelbank. Oberhalb des eingehängten Steuers flatterte eine rote Flagge mit dem Bildnis einer aufrecht stehenden Frau. Über die von dem flink gleitenden Boot herbeigeführten Gäste nicht im Zweifel, wendeten die auf der Veranda Befindlichen mit Spannung kaum noch einen Blick von ihm. Anstatt indessen den geraden Kurs nach dem Landhause zu wählen, lief es vor der Eisenbahnstation an, wo es vorübergehend aus ihrem Gesichtskreise verschwand. Dort hielt es nur so lange, bis Simpson, der sich nach der Landungsbrücke hinaufschwang, einige kurze Fragen an den ihn erwartenden Ghastly gerichtet hatte. Dann nahm er wieder Platz neben der Gräfin, kräftiger lehnten die Ruderer sich über ihre Riemen, und bald darauf legte das Boot neben der zu dem Landhause gehörenden kleinen Brücke an.

Als die Gräfin und Simpson diese verließen, befanden sie sich Cunning gegenüber. Er schien sie erwartet zu haben. Wie tags zuvor dampfte auch heute der kurze Kalkstummel zwischen seinen Zähnen, verriet sich in seiner Haltung die Unverschämtheit eines rohen Gesellen und spielte auf seinen Zügen eine grenzenlose Selbstüberschätzung. Frech klang auch seine heisere Stimme, indem er sich an Simpson mit der Frage wendete: »Rechne, Sie haben gute Lust, den sehr ehrenwerten Herrn Wellingham zu besuchen?«

Simpson, in der Seele der Gräfin beleidigt, warf ihm einen verachtungsvollen Blick zu und erwiderte achselzuckend: »Wenn Sie selbst nicht der Herr Wellingham sind, dürfte die Beantwortung Ihrer Frage überflüssig sein.«

»So straf mich Gott, wenn auf 'ne höfliche Erkundigung nicht 'n höflicher Bescheid gehört,« versetzte Cunning ingrimmig, »bin ich's nicht selber, so können Sie am wenigsten wissen, ob ich nicht zu ihm gehöre.«

Simpsons Antlitz verfinsterte sich. Einen bezeichnenden Blick wechselte er mit der Gräfin. In den Physiognomien beider offenbarte sich, daß die Art des Empfanges auf dem Grund und Boden Wellinghams sie kaum befremdete, vielmehr im Einklange stand mit dem Bilde, das sie sich von ihm und seiner Umgebung entworfen hatten. Cunning, ihr Mienenspiel gewahrend, grinste schadenfroh. Noch immer lebte in ihm die Hoffnung, die Fremden auf die eine oder andere Art auszuforschen. Simpson, in Zweifel, wie er den zudringlichen Gesellen, der Miene machte, sich ihnen anzuschließen, abschütteln solle, maß die Entfernung bis zur Pforte mit den Blicken. Zugleich wurde er Janes und Bruces ansichtig, die eben aus dem Park traten. Die auf seinem und der Gräfin Antlitz sich vollziehende Wandlung veranlaßt Cunning, ebenfalls nach der Pforte hinüber zu schauen. Kaum aber erkannte er die beiden jungen Leute, als ein grimmiger Fluch sich zwischen seinen Zähnen hervorwand. Einige Sekunden schwankte er in seinem Entschluß, dann schob er die Fäuste in die Taschen seiner Beinkleider, und sich der Station zukehrend, schritt er langsam davon. Bald über die rechte, bald über die linke Schulter warf er eine dichte Rauchwolke; doch so sehr er sich befleißigen mochte, sorglosen Gleichmut zur Schau zu tragen: in Haltung und Bewegung erinnerte er an einen tückischen Hund, dem kurz zuvor die Peitsche um die Ohren knallte.

Die Gräfin und Simpson achteten seiner nicht weiter, sondern über den Weg fortschreitend, trafen sie mit Bruce und Jane zusammen, von denen sie im Namen Wellinghams willkommen geheißen wurden. Jane entschuldigte Wellinghams Fernbleiben mit körperlichem Befinden, fügte aber hinzu, daß die Herrschaften bereits erwartet würden, und ohne Zeitverlust schlugen alle in den schattigen Parkgängen die Richtung nach dem Landhause ein.

Was bei der Andeutung Jones, Wellingham sei ihr Stiefvater, hinter der hohen Stirn der Gräfin webte, was ihren Augen plötzlich einen lebhafteren Glanz verlieh, das verbarg sie undurchdringlich hinter der zwanglosen Unterhaltung einer Dame von Welt, die die Gabe besitzt, zu fesseln, anzuregen und an jedes abgesponnene Gespräch alsbald ein neues anzuknüpfen.

Wie über die geschmackvollen Parkanlagen, sprach sie auch über die reizvolle Lage des Hauses, sobald dieses sich hinter einem Hain hervor in ihren Gesichtskreis schob, ihre Bewunderung aus. Mit einer Heimat holden Friedens verglich sie es, und beneidenswert nannte sie die Menschen, denen es vergönnt sei, in solcher Umgebung die Tage an sich vorüberziehen zu lassen.

Vor der Veranda trat Wellingham ihr mit höflichem Gruß entgegen. In seinem Wesen offenbarte sich, der Gräfin selbst am verständlichsten, die Achtung vor jemand, dessen Mittel ihm erlaubten, auf einem schwimmenden Kapital von erheblicher Größe zum Vergnügen die Welt zu durchstreifen und, je nach Bedürfnis oder Laune, zweiundzwanzigtausend Pfund Sterling jederzeit flüssig zu machen.

»Sie bemühen sich selbst nach dem Gelde,« eröffnete Wellingham verbindlich das Gespräch, als sie die Veranda langsam erstiegen und die Gräfin ihre Aufmerksamkeit der einladenden Umgebung wieder zuwendete, »gern hätte ich es Ihnen durch einen zuverlässigen Boten zugeschickt, heiße die Gelegenheit aber willkommen, in meiner ländlichen Einsamkeit Ihnen gegenüber die Pflichten der Gastfreundschaft erfüllen zu dürfen.«

»Lassen wir das Geld,« antwortete die Gräfin nachlässig, und sie lächelte kalt, »ich hätte es überhaupt nicht gebraucht, möchte aber gesichert sein, wenn meine Heimkehr sich noch ein Jahr verzögern sollte. Vielleicht beehren Sie mich an Bord meiner Jacht mit Ihrem Besuch; bringen Sie das Geld dann mit, so erkenne ich es dankbar an.«

Sie waren oben eingetroffen, und um sich blickend, fuhr sie fort: »Kann auf einem Schiff kein Komfort herrschen, wie ein solcher Ihre friedliche Heimstätte auszeichnet, so werden Sie doch vielleicht ein wenig erstaunen, was ich aus meiner Jacht herzustellen verstand. Pandora heißt sie. Berechtigter hätte ich sie Pandorabüchse nennen sollen, weil sich auf ihr manches findet, Gutes und Schlechtes, was Aufmerksamkeit und Teilnahme erregt, sogar Wunderliches, wie es nicht anders sein kann, wenn eine einsame Abenteurerin planlos auf allen Meeren umherschweift, bald hier, bald dort auf etwas stößt, was ihrem Geschmack schmeichelt und des Mitnehmens wert erscheint. Meine Jacht ist eben mein Schloß, und wie Sie alles aufbieten, Ihr prächtiges, bösen Sorgen unzugängliches Tuskulum immer mehr herauszuputzen und zu schmücken, so verfahre ich mit meiner schwimmenden Häuslichkeit.«

»Wer dürfte sich rühmen, von Sorgen gänzlich verschont zu bleiben,« versetzte Wellingham; »treten sie aber an uns heran, so gibt es kein probateres Mittel, sich ihrer zu erwehren, als einen Teil der Tatkraft darauf zu verwenden, daß die Umgebung geeignet ist, die Trauer um unersetzlich Verlorenes zu mildern.«

»Ganz recht,« erwiderte die Gräfin, ernst über den See hinspähend, »solche Anschauungen waren es auch, die mich bewogen, die stolze Jacht da drüben nach meinen besonderen Angaben erbauen zu lassen. Man verlachte mich damals, nannte mich sogar die verrückte Gräfin und sagte voraus, daß ich bald genug von meinen krankhaften Ideen zurückkommen würde. Und auch heute noch, nach den vielen, langen Jahren, neigen die Menschen, die von mir hören, zu dem Glauben hin, daß die allerdings etwas exzentrische Vorliebe für das Seeleben bei mir, als einer Frau, die äußerste Grenze des Vernünftigen streife; allein was kümmert mich das Urteil anderer, solange mein Tun mich befriedigt? Es wäre gerade so, als wollte man gegen Sie, der Sie die See vielleicht nur auf kleinen Lustfahrten kennen lernten, einen Vorwurf daraus herleiten, daß Sie Ihr beneidenswertes Tafeln auf dem Festlands nicht unterbrechen, um an Bord eines guten Seglers zu gehen und in Ölzeug gekleidet und mit dem Sprachrohr in der Faust das Manövrieren der Topgasten zu überwachen.«

Sie glaubte eine Wirkung ihres versteckten Angriffs zu erraten, und die in ihr aufflackernde zügellose Freude geschickt verheimlichend, kehrte sie sich Jane mit den Worten zu: »Auch Sie, mein liebes Kind, hoffe ich bei mir an Bord zu begrüßen. Ich möchte Ihnen beweisen, daß man nur den ernsten Willen zu hegen braucht, um sogar in einer Nußschale sich wohnlich einzurichten.«

Befangen sah Jane zu ihr auf. Eine zustimmende Antwort umging sie dadurch, daß sie die Gräfin und Simpson, welch letzterer, offenbar um sich an dem bedachtsam gelenkten Gespräch nicht zu beteiligen, mit Bruce eine Unterhaltung angeknüpft hatte, zum Niedersitzen einlud. Hatten aber bisher die wohlberechneten Worte der Gräfin Wellingham getroffen, so dauerte deren Wirkung doch nicht länger, als bis die Überzeugung in ihm Raum gewann, daß die heimlichen Beängstigungen nur dem Zufall zu verdanken seien. Wie die Gräfin, verstand auch er es, sich zu beherrschen. Es erfüllte ihn sogar Scham vor sich selbst, überhaupt einem häßlichen Argwohn zugänglich gewesen zu sein. Daher bot er zum freudigen Erstaunen der beiden jungen Leute mehr denn je zuvor sein Äußerstes auf, die Pflichten der Gastfreundschaft im weitesten Umfange zu erfüllen. An dem Mahl sich zu beteiligen, lehnten die Gräfin sowohl wie Simpson ab. Nur einige Früchte, die Jane ihnen mit lieblicher Zuvorkommenheit überreichte, nahmen sie an. Das Peinliche dieses Verfahrens schwächte die Gräfin indessen dadurch ab, daß sie dringlich um die Freude bat, die Herrschaften folgenden Abends an Bord der Pandora bewirten und mit den Vorzügen ihres schwimmenden Heims vertraut machen zu dürfen. Bereitwillig sagten alle zu, und als man ihr endlich das Geleite zum See hinunter gab, da verabschiedete man sich voneinander, als ob die eben geschlossene Bekanntschaft sich auf langjährigen Verkehr begründet habe. Doch auch hier beobachtete die Gräfin fortgesetzt eine gewisse vornehme Zurückhaltung, so daß selbst Jane nicht wagte, ihr die Hand zu bieten.

Eine Weile sahen die an der Parkpforte Zurückbleibenden dem eilfertig fortgleitenden Boot nach. In lebhaften Erörterungen gedachten sie der exzentrischen Engländerin, jedoch ohne sich sonderlich für sie zu erwärmen. Alle spähten indes nach den beiden fernen Jachten hinüber. Wellingham erschienen sie bedrohlich, Jane und Bruce dagegen wie angefüllt mit traumhaften Gebilden aus allerlei Märchen.

Die Gräfin saß unterdessen schweigend neben Simpson im Hinterteil des Bootes. Über die auf ihren Knien gekreuzten Arme geneigt, starrte sie finster vor sich nieder. Simpson überwachte sie mit heimlichem Grauen. So, wie kurz zuvor im Verkehr mit den Bewohnern des Landhauses, hatte er sie nie gesehen. Jetzt saß sie da wie gebrochen an Geist und Körper. Der Kontrast war zu groß. Nur bis zu einer bestimmten Grenze vertraut mit ihren Plänen, spiegelten seine Ahnungen ihm eine Tigerin vor, hie noch eine Weile mit ihrem Opfer spielt, bevor sie die scharfbewehrten Pranken mit sicherem Schlage in dessen Herzblut taucht.

Ihr nächstes Ziel war die Landungsbrücke vor der Eisenbahnstation, wo Ghastly ihrer geduldig harrte. Auf dem äußersten Rande der Brücke saß er, die Füße nach unten hängend. Regungslos verhielt er sich, wie der neben ihm aus den Fluten emporragende hölzerne Tragepfeiler. Seine Blicke hingen an der Pandora. Cunning saß neben ihm. Vor einer halben Stunde aus der Whiskyschenke tretend, war er Ghastlys ansichtig geworden, und in ihm einen Seemann erkennend, begab er sich, von Neugierde getrieben, zu ihm hinüber.

»Hallo, Maat,« redete er ihn sofort prahlerisch an, indem er sich an seiner Seite niederließ, »seh' ich einen vom blauen Wasser, so drängt's mich, ein ordentliches Garn mit ihm abzuspinnen und der alten Zeiten zu gedenken. Hab' selber manch liebes Mal ein Segel kunstgerecht beschlagen und im Teifun das Steuerrad hantiert, und verdammt will ich sein, wenn's meine schlechtesten Zeiten waren. Setzte mich freilich zur Ruhe, und meine alten Knochen verdienen's, bei Gott, wenn ich jetzt ein Leben führe, daß ich mit 'nem mittelmäßigen Reeder nicht tauschen möchte.«

Ghastly kehrte sich ihm mit einer Bewegung zu, als hätte er die letzte Geschmeidigkeit des Nackens verloren gehabt. Durchdringend sah er in das breite, gerötete Antlitz, bis Cunning, betroffen durch den Ausdruck der eingetrockneten, knochigen Züge, seinen Blicken auswich. Einige Sekunden sann Ghastly nach, wie in Zweifel, ob der redselige Geselle überhaupt einer Antwort wert sei, dann bemerkte er eintönig: »Gehört schon mehr als Glück dazu, um 'nem Jan Maat 'nen geruhigen Lebensabend einzutragen. Ich selber rechnete nie darauf, kümmere mich auch den Henker drum, wie's anderen ergeht. Reden läßt sich viel; ob's allemal Glauben findet, ist jedermanns eigene Sache.«

»Mit anderen Worten, Maat, du meinst, daß ich's mit der Wahrheit nehme, wie der Kambüsenjunge, der dem Koch 'n Stück Speck aus dem Kessel stahl,« versetzte Cunning scheinbar gekränkt.

»Ich meine gar nichts,« hieß es trocken zurück, und wie zuvor sah Ghastly wieder nach der Pandora hinüber.

Durch die Abweisung erbittert, vielleicht auch unter dem Einfluß des reichlich genossenen Gins, versetzte Cunning, sich stolz in die Brust werfend: »Könntest hingehen und den ehrenwerten Herrn Wellingham fragen, der würde dir die Augen über mich öffnen. Der nennt mich nämlich seinen Freund.«

Ghastly schraubte seinen Kopf wieder herum. Auf seinem Antlitz webten Erstaunen und Unglaube.

»Also bei dem Herrn Wellingham fandest du 'ne gute Unterkunft?« fragte er gedehnt, und unter äußerster Anspannung seiner Sinne forschte er in Cunnings Physiognomie.

»Bei ihm,« bestätigte dieser hochfahrend, »und ich selber müßte nicht gelernt haben, 'nen Schiffszwieback von 'ner Feuerboje zu unterscheiden, gehörtest du nicht zu einer der beiden Jachten da drüben.«

»Zu der Pandora,« erklärte Ghastly zögernd. Sein Geist arbeitete gewaltig; seine Augen bohrten sich förmlich in das häßliche Gesicht ein. Plötzlich kehrte er sich ab, und gedämpft sprach er vor sich hin: »Wellingham – nun ja, ich glaub's schon, daß du zu ihm stehst.«

Bild: Max Vogel

Cunning horchte hoch auf. Einer schweren Anklage ähnlich hatte Ghastlys achtlose Bemerkung ihn getroffen. Eine Weile verrann in Schweigen. Ghastly saß wieder dem Brückenträger ähnlich, während Cunning ihn mit wachsendem Argwohn von der Seite betrachtete. Einen Teil seines Lebens hätte er dafür hingegeben, in der Seele des unheimlichen Maats zu lesen. Trotziges Selbstbewußtsein und Furcht kämpften in ihm, bis endlich letztere allein das Übergewicht behielt. Er verwünschte seine Neugierde, die ihn dorthin geführt hatte, und doch besaß er nicht den Mut, sich zu entfernen. Wie eine furchtbare Drohung hallte in seinen Ohren die Erklärung nach, daß er und Wellingham zusammengehörten. Er fühlte, um seine alte prahlerische Sorglosigkeit zurückzugewinnen, mußte er mehr erfahren, mußte er überzeugt sein, daß der ihn so tief erschütternden Bemerkung keine ernstere Bedeutung zugrunde lag.

Er sann und sann. Seine Pfeife erlosch. Immer wieder öffnete er die Lippen zu einer Frage, sie erstarb indessen jedesmal auf seiner Zunge, sobald er die Blicke zu dem regungslos über den See hinspähenden Nachbarn erhob. Er ersehnte Befriedigung seiner krankhaften Neugierde, und doch fürchtete er die ihm vielleicht werdende Antwort. Endlich ermannte er sich. »Höre, Maat, des Henkers will ich sein, wenn's mir nicht scheint, als wären wir schon früher einander begegnet.«

»Wo sollte das gewesen sein?« fragte Ghastly ausdruckslos, ohne die Richtung seiner Blicke zu ändern.

»Nun, Maat, ich meine, auf diesem oder jenem Schiff. Bin nämlich selbst in jungen Jahren weit in der Welt herumgekommen.«

»Man hätte viel zu tun, wollte man alle im Gedächtnis behalten, denen man im Leben begegnete.«

»Kann mir nicht helfen, Maat, in meinem Schädel sitzt der Gedanke fest, daß ich dich früher sah.«

»Das müßte lange her sein, wenigstens länger, als ich zu der Jacht da drüben gehöre,« erwiderte Ghastly, indem er sich erhob und seine Aufmerksamkeit dem schnell herbeischießenden Boot zuwendete.

Cunning war seinem Beispiel gefolgt. Er erkannte die Gräfin und Simpson. Wie zuvor beim Landen vor der Parkpforte, fesselten sie auch jetzt seine Blicke, daß er der Ruderer nicht achtete, zumal diese bei ihrer Arbeit ihm den Rücken zukehrten. Sobald das Boot aber vor der Brücke herumschwang, um, rückwärts gleitend, Ghastly das Einsteigen zu erleichtern, vermochte er allen zugleich ins Antlitz zu schauen. Niels Knudson saß auf der letzten Bank, also der Gräfin gerade gegenüber. Den Riemen nach der Außenseite hinüberwerfend und den Händen des Nachbarn anvertrauend, packte er, um das Boot vor zu heftigem Schwanken zu bewahren, den nächsten Brückenpfeiler.

»Hallo, Maat,« rief er zu Ghastly hinauf, »magst getrost auf den Bord treten. Ich halte die Nußschale, als wär' sie mit zehn Ketten verankert.«

Ghastly säumte. Im Begriff, auf den Brückenrand niederzugleiten, veranlasste eine Bewegung Cunnings ihn, sich nach ihm umzuschauen. Hatte dieser während der letzten Minute, seiner Sehkraft nicht recht trauend, offenen Mundes in das herbeischießende Boot hinabgestarrt, so war er jetzt, als Niels sich erhob und zugleich seine Stimme erschallen ließ, einen Schritt zurückgepoltert. Deutlich erkannte Ghastly, daß sein wüstes Antlitz erbleichte und seine Augen, wie angesichts einer überirdischen Erscheinung, aus ihren Höhlen hervorzuquellen schienen.

»Hallo, Maat, worauf wartest du noch?« rief Niels wiederum nach oben, und fester umklammerte er den Pfeiler.

Schwerfällig kehrte Ghastly sich um, und gleich darauf verschwand seine lange Gestalt.

Cunning stand noch immer wie gelähmt. Erst als Ghastly, um nach dem Vorderteil des Bootes hinüberzugelangen, sich an Niels vorbeischob, beide also einige Sekunden hart nebeneinander standen, belebte seine Gestalt sich wieder. Das Leben aber, das sich in seinen Zügen spiegelte, war das eines maßlosen Erstaunens, gepaart mit Entsetzen. Die kurze Zeit, während der Niels und Ghastly absichtslos sich zugleich ihm voll zukehrten, hatte genügt, den in seiner Erinnerung auftauchenden Nebelbildern festere Formen zu verleihen.

»Bill Fathom – Larsen,« entwand es sich tonlos seinen Lippen. Dann stierte er dem davonschießenden Boot nach, bis die sich verdichtende Dämmerung es bis zur Unkenntlichkeit umwebte.

»Die muß die Hölle selber ausgespieen haben, oder es wäre nicht möglich,« sprach er vor sich hin, indem er keuchend von der Brücke hinunterschritt. Auf der Straße blieb er wieder eine Weile stehen Er mochte sich sagen, daß es in seiner augenblicklichen Verfassung ratsam sei, dem Landhause fern zu bleiben. Er bedurfte der Zeit, mit seiner Entdeckung sich vertraut zu machen und auf alle möglichen Fälle vorzubereiten. Einen letzten scheuen Blick warf er auf die in der abendlichen Beleuchtung bereits verschwimmenden Jachten. Er konnte sich von dem Argwohn nicht lossagen, daß beide nur gekommen seien, um Wellingham und damit ihn selber ins Verderben zu stürzen.

Und dennoch mochte alles auf Täuschung beruhen, suchte er sich zu beschwichtigen, und in zuversichtlicherer Haltung schritt er nach der Whiskyschänke hinüber. –

Das Boot verfolgte unterdessen seine glatte Bahn auf die Pandora zu. Kein Wort wurde gesprochen. Ghastly saß vorn im Bug. Als hätte er nach den jüngsten Erfahrungen jeden fremden Blick gefürchtet, starrte er vor sich nieder. Niemand wunderte sich darüber. Auch an der Gräfin war man gewohnt, daß sie, unbekümmert um Ort und Zeit, sich gern ernsten Betrachtungen hingab. Ihr Antlitz hatte sich versteinert. Kalt schweiften ihre Blicke über den stillen See hin. Indem sie den Fügungen des Geschickes fluchte, brannten Tränen in ihren Augen, jedoch ohne zusammenzurinnen. Eine nie verstummende Klage zitterte in ihrem Herzen. Treue und Glauben waren dahingesunken vor dem Willen elender Mörder, Hoffnung und Liebe im Tode erstickt unter den gräßlichsten Qualen. In nie ermüdender Gunst des Glückes sonnten sich dagegen Verbrechen, Lug und Trug. Auf gewaltsam geraubter Habe war ein Los emporgewachsen und in Saat geschossen, wie man es nur den Besten und Edelsten gegönnt hätte. Segen war geerntet worden, wo man Flüche säte. Ein Schauer durchrieselte ihre gebeugte Gestalt.

»Boot ahoi!« hieß es plötzlich vom Verdeck der Pandora herab. Die Gräfin schrak aus ihren Gedanken empor. In dem gleichen Augenblick glitt das Boot neben die Falltreppe hin. Es grüßten sie herzige Stimmen. Maud und Sunbeam reichten ihr, um sie zu stützen, die Hände entgegen. Schnurrend und schmeichelnd umkreisten die Geparde ihre Herrin. Schüchtern warteten die beiden Schlangenkinder darauf, ihrer Wohltäterin ebenfalls zutraulich nahen zu dürfen. Es war ein Märchenbild, das der Mond an Bord der Pandora beleuchtete. Unter dessen Einfluß gelang es der Gräfin leicht, von sich abzuweisen, was sie bisher feindselig erregte. So klang auch ihre Stimme hell und ruhig, als sie zu aller Erstaunen Simpson bat, sich nach dem Eremit hinüberrudern zu lassen und Lowcastle um eine Unterredung zu ersuchen.

»Fragen Sie ihn,« fuhr sie fort, »ob er geneigt sei, morgen abend mein Gast zu sein. Ich erwartete liebenswürdigen Besuch. Vielleicht fände er Gelegenheit, die Neugierde zu befriedigen, die ihn solange an meine Spuren bannte. Aber wohl verstanden: nur ihm gilt die Einladung, keinem anderen, wer es auch sei.«

Bald darauf lag das Deck vereinsamt. Die Gräfin hatte sich mit ihren Schutzbefohlenen in ihre Räume hinabbegeben. Die Mannschaft, auf dem sicheren Ankergrunde von jeder Arbeit befreit, saß im Volkslogis bei der letzten Mahlzeit. Von dem Eremit, wo Simpson nach Erfüllung seines Auftrages sich zur Rückkehr anschickte, drang Klappern herüber. Eine Stunde später, da ging auf der Pandora der Schlummergott um, seine Mohnkörner freundlich auf alte und junge Augen streuend. –

Auch in dem Landhause war es um diese Zeit still geworden. Nur durch die beiden dicht verhangenen Fenster des Arbeitszimmers Wellinghams drang noch ein grün gedämpfter Schein in den Park hinaus. Wer ihn vielleicht bemerkte, achtete nicht darauf. Man war an dem Hausherrn gewohnt, daß er selten vor Mitternacht den Schlaf suchte.

Hinter dem mit Schriftstücken und Büchern bedeckten runden Tisch saß er in der Sofaecke, das Haupt schwer auf Arm und Seitenlehne stützend. Ein seidener Schlafrock umhüllte seine Gestalt, einen gewissen Charakter des Hinfälligen noch verschärfend. Auf seinem heftig geröteten Antlitz webte es dagegen, als hätten die wild erregten Leidenschaften ihn plötzlich verjüngt gehabt. Unheimlich funkelten seine Augen, indem sie unter den gesenkten Lidern hervor immer wieder Cunning suchten. Ihm gegenüber saß dieser auf einem weich gepolsterten Armstuhl, sich dehnend und reckend wie jemand, der sich zu seiner Stelle vollkommen berechtigt fühlt.

Bild: Max Vogel

»Was wollen sie denn?« fragte Cunning im Verlauf des Gespräches, in dem sich augenscheinlich die schroffsten Gegensätze geltend gemacht hatten. »Mich als Partner ins Geschäft aufzunehmen, weigerten Sie sich von jeher: mit Ihnen und den Ihrigen, die auf mich niedersehen, wie auf 'nen Lumpen, zu Tisch sitzen soll ich ebenfalls nicht; und jetzt, da ich vorschlage, mit hunderttausend Dollars mich abzufinden, kramen Sie neue Bedenken aus. Bei Gott, Mann, ich hab's satt; auf die eine oder die andere Art muß es ein Ende mit uns nehmen, oder es gibt ein Unglück.«

»Hunderttausend Dollars sind eine hohe Summe,« erwiderte Wellingham zögernd, offenbar um Zeit zu gewinnen. Cunning lachte boshaft und versetzte arglistig blinzelnd: »Und doch möchten Sie dreimal so viel dafür zahlen, wenn Sie mich eines Tages als 'nen Toten vor sich liegen sähen.«

»Lassen wir dergleichen leere Redensarten,« riet Wellingham, mit aller Macht um seine Überlegung kämpfend; »bin ich auch zu Opfern bereit, so muß ich zuvor sichere Bürgschaft haben, daß ich nicht getäuscht werde; eine solche ist aber nur so lange möglich, wie Sie an mein Haus und meine Person gefesselt sind. Und was fehlt Ihnen schließlich hier? Erfülle ich nicht bereitwillig Ihre Wünsche, so lange sie sich in den Grenzen der Vernunft bewegen? Das Äußerste, wozu ich mich entschließen könnte, wäre, Ihnen in der Ferne eine mehr als auskömmliche Rente zu sichern.«

»So?« hieß es höhnisch zurück, »und wenn Sie selbst über Bord gingen oder Ihre Firma Schiffbruch litte, was dann? Nein, nein, der Teufel treibt manchmal sein Spiel; entweder das Kapital, oder ich stehe nicht für die Folgen –«

»Die für Sie selber nicht minder verhängnisvoll wären,« fiel Wellingham heftig ein, doch bereuend, den Trotz Cunnings herausgefordert zu haben, fügte er gelassener hinzu: »Wenn ich nur wüßte, was Ihre plötzliche Sinnesänderung verursachte. Vor wenigen Tagen, sogar heute früh noch, meinten Sie, daß wir wohl alt miteinander werden möchten.«

»Ganz recht,« gab Cunning zu, »aber nachdem ich die Angelegenheit ordentlich übergeholt habe, gelangte ich zu dem Schluß, daß es für uns beide am ratsamsten sei, wenn ich mit 'ner angemessenen Entschädigung in der Tasche eines Tages still von hier abtriebe. Sehen wir uns nicht mehr, da hat's mit dem Gemahnen von selber sein Ende.«

Durchdringend sah Wellingham in des rohen Gesellen Augen. Er fühlte, daß er hintergangen wurde, daß andere Ursachen, als die vorgespiegelten, jenen in seinen Forderungen bestimmten. Darin aber eine Gefahr ahnend, der Cunning sich zu entziehen trachtete, erschien es ihm doppelt bedenklich, durch entschiedenes Zurückweisen seinen Trotz und damit seinen bösen Willen aufzustacheln.

Und so hob er nach kurzem Sinnen vorsichtig an: »Solche Gründe lassen sich freilich hören, allein Sie werden zugeben, daß ich das Recht besitze, Ihren Vorschlag zuvor ebenfalls ein wenig zu überlegen, und dazu bedarf ich der Zeit. Auch Sie selbst mögen sich übereilt haben. Die Sache, wie Sie sie sich zurecht legten, ist geradezu vernunftwidrig, und ich bin überzeugt, nach Ablauf einiger Wochen denken Sie anders. Brauchen Sie Geld, so sagen Sie es; es soll Ihnen nicht vorenthalten werden. Mehr kann ich nicht tun.«

Cunning stierte vor sich nieder. Wellingham beobachtete ihn argwöhnisch. Finstere, von Verzweiflung geborene Pläne durchkreuzten sein Gehirn; Pläne, so finster, daß er erschrocken zusammenfuhr, als Cunning sich endlich wieder aufrichtete und zugleich mit Unheil bemäntelnder, spöttischer Rede anhob:

»Von ein paar Wochen kann keine Rede sein. Aber drei Tage Bedenkzeit will ich Ihnen geben. Sind die um und es hat keine Einigung stattgefunden, so ist's mir einerlei, was aus mir wird. Holt mich aber der Teufel, so habe ich wenigstens die Beruhigung, daß Sie mich begleiten.«

»Ihre Drohungen schrecken mich nicht,« versetzte Wellingham mit jener Kälte, der er im Geschäftsleben seine überreichen Erfolge verdankte und die auch hier nicht ohne Wirkung blieb. »Es gibt eine Grenze, über die ich nicht hinausgehe, und ob mein Leben noch viele Reize für mich hat, werden Sie selbst wissen. Doch immerhin: ganz zurückweisen will ich Ihren Vorschlag nicht, und so wollen wir es bei den drei Tagen bewenden lassen. Nach Ablauf dieser Frist werde ich Mittel gefunden haben, Ihre Ansprüche zu befriedigen, ohne mich selbst dadurch bloßzustellen.«

»Aber keine Stunde länger,« erklärte Cunning, indem er sich erhob und zum Gehen anschickte.

»Keine Stunde länger,« wiederholte Wellingham wie im Traum. Seine Gedanken beschäftigten sich offenbar mit anderen Dingen. Er hatte ein kleines Lineal ergriffen und klopfte damit spielend auf die Tischkante.

Bevor Cunning aus der Tür schritt, sah er über die Schulter zurück, als hätte er einen hinterlistigen Angriff gefürchtet.

Das Geräusch der vorsichtig in ihre Fugen gedrückten Tür schien Wellingham nicht zu hören. Nach wie vor handhabte er das Lineal tändelnd. Sobald aber Cunnings Schritte auf dem Flurgange verhallten, brach er in sich zusammen. Sein Wille reichte nicht mehr aus, der Haltung des Körpers zu gebieten. Starr hingen seine Blicke an einem vergoldeten Papierschneider, der die künstlerisch ausgeführten Formen eines Dolches erhalten hatte.

Die Zeit schlich dahin. Die zweite Morgenstunde hatte begonnen, und Wellingham saß noch immer auf der gleichen Stelle. Sein verzerrtes Antlitz war das eines Unheil brütenden Dämons. Rötlich leuchtete der vergoldete Dolch. Er vermochte nicht, seine Blicke von ihm loszureißen –

 


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