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Nach langem Erwägen und verzweiflungsvollem Schwanken hatte Wellingham sich für einen abermaligen Besuch auf der Pandora entschieden. Die größere Hälfte des Nachmittags war bereits verstrichen, als er sich hinüberrudern ließ. Bis dahin hatte er Zeit gefunden, auf die neue Zusammenkunft mit der Gräfin sich gewissermaßen vorzubereiten. Keine Möglichkeit gab es, die er nicht ernst in Betracht gezogen hätte, um darnach das von ihm selbst zu beobachtende Verhalten zu berechnen. Was auch immer an ihn herantreten mochte: er war entschlossen, es bis zum letzten Augenblick zu bekämpfen, selbst dann sich nicht schwach finden zu lassen, wenn unmittelbare Anklagen ihm entgegengeschleudert werden sollten. Mit einer gewissen Haltung des Selbstvertrauens stieg er nach dem Deck hinauf, wo er von der Gräfin in ihrer vornehm kalten Weise empfangen wurde.
»Ich bedaure, daß Ihre Tochter Sie nicht begleitete,« sprach sie, und nachlässig wies sie nach der Kajütenbedachung hinauf, wo Maud, Sunbeam und die beiden Schlangenkinder eine freundliche Gruppe bildeten. »Während wir uns mit ernsteren Dingen beschäftigen, hätte sie in dem Kreise da oben gewiß eine anregende Unterhaltung gefunden.«
»Ich beabsichtige, meinen Aufenthalt hier auf das geringste Zeitmaß zu beschränken,« versetzte Wellingham höflich, als die Gräfin etwas lebhafter einfiel:
»Das geringste Zeitmaß kann sich durch unvorhergesehene Zwischenfälle bis in die Nacht hinein ausdehnen: ich liebe es wenigstens nicht, selbst in den gleichgültigsten Dingen auf halbem Wege umzukehren.«
Sie waren vor der Kajütentür eingetroffen. In geringer Entfernung davon standen, an die Regeling gelehnt, Ghastly und Niels nebeneinander. Anscheinend nur die Zeit tötend, befanden sie sich doch in Erfüllung eines bestimmten Auftrages. Dieser lautete, die Kajütentür fortgesetzt im Auge zu behalten und Wellingham zu hindern, wenn er etwa den Versuch untenehmen sollte, das Schiff ohne die ausdrückliche Bewilligung der Gräfin zu verlassen. Es war das ebenfalls eine Masche des Netzes, das sie, ihr finsteres Ziel unbeirrt im Auge, scharfsinnig um das elende Opfer ihrer Rache webte. Indem sie ihm vorausgehend den Vorraum betrat, sandte Wellingham einen scheuen Blick zu den beiden ihn gleichmütig betrachtenden Männern hinüber. Deren Erscheinung war ihm nicht mehr fremd. Was ihm aber bei der flüchtigen Begegnung mit Ghastly früher entging, das entdeckte er jetzt mit von Argwohn verschärften Augen, nämlich eine unzweifelhafte Ähnlichkeit mit jemand, der seit vielen Jahren in seinem Gedächtnis lebte. Eisig durchrieselte es ihn. Zugleich sanken alle Pläne dahin, die er für seinen Verkehr mit der Gräfin entworfen hatte. Mit Widerstreben schienen die Glieder seinem Willen zu gehorchen, als er der Gräfin in die Kajüte folgte. Dort hatte sich seit dem vorigen Tage nichts geändert. Der runde Tisch stand an seiner alten Stelle. Auf ihm lag eine größere Anzahl in Heftform zusammengefügter Blätter. Schreibzeug stand daneben. Abseits auf einem Stuhle bemerkte er mehrere unregelmäßig behauene Schiefertafeln.
Auf ein einladendes Zeichen von ihr ließ er sich an dem Tisch nieder. Was auch immer ihn zuvor beseelte: jetzt war es, als hätte von ihm, der über ein fürstliches Vermögen gebot, jeden sich ihm entgegenstellenden Widerstand spielend zu brechen verstand, unter dem finsteren Einfluß der Gräfin plötzlich sklavisches Unterwürfigkeitsgefühl Besitz ergriffen gehabt, so peinlich trachtete er, deren Wünschen, noch bevor sie voll ausgesprochen waren, nachzukommen.
»Heute die entgegengesetzte Ordnung,« erklärte sie wie beiläufig, indem sie ebenfalls Platz nahm, »zuerst das Geschäft, dann die geistigen und körperlichen Genüsse.«
Sie zog unter dem Heft den Wechsel hervor und überreichte ihn Wellingham. Dieser warf einen flüchtigen Blick auf das Papier und schob es mit zitternder Hand in seine Brieftasche; und weiter sprach die Gräfin:
»Ich fahre in den gestern abend abgebrochenen Mitteilungen fort und bezweifle nicht, daß Sie ihnen wachsendes Interesse schenken werden.« Sie überreichte ihm das Heft mit den Worten: »Ein Bruchstück habe ich hier niedergeschrieben. Lesen Sie diese Blätter aufmerksam durch, so gewinnen Sie für das weitere ein besseres Verständnis, und ich müßte mich sehr täuschen, brächten Sie meiner – nun, sagen wir: meiner exzentrischen Laune nicht gerne dieses Opfer an Zeit und Mühe.«
Wellingham wünschte sich tausend Meilen weit fort. Obgleich immer neue schwarze Ahnungen in ihm aufstiegen, ließ er es doch nicht an verbindlichen Gegenbemerkungen fehlen, und die Gräfin fuhr fort:
»Ich wiederhole, diese Blätter erleichtern Ihnen das Verständnis für die ferneren Enthüllungen. Als Schlüssel zu den darin verzeichneten Rätseln dienen dagegen diese Tafeln,« und sie legte eine davon vor ihn hin. »Lesen Sie mit Muße. Damit Sie ungestört bleiben, werde ich mich entfernen. In einer halben Stunde bin ich zurück. Sind Sie dann fertig, so stehe ich mit weiteren Offenbarungen zu Diensten.«
Sie erhob sich. Wellingham hielt das Heft in den Händen. So lange die Gräfin sprach, schlich eine eigentümliche Kälte durch seine Gebeine; sobald sie aber endigte, ermannte er sich zu der stotternd hervorgebrachten Bemerkung: »Es war in der Tat nicht meine Absicht, den Abend hier zu verbringen. Ich werde erwartet, und dann mein Befinden –«
»Sie stehen hoch genug in der Achtung der Welt,« fiel die Gräfin gleichmütig ein, »um die Menschen warten lassen zu dürfen.«
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, schritt sie der Türe zu. Unversöhnlicher Haß lagerte um ihre festgeschlossenen Lippen. Wo der Himmel nicht strafte, da hielt sie sich für berufen, furchtbare Vergeltung zu üben.
Auf Deck hinaustretend, schritt sie nach der Falltreppe hinüber. Sich über Bord neigend, rief sie den in Wellinghams Boot sitzenden Ruderern zu: »Euer Herr wird länger hier verweilen, als er ursprünglich beabsichtigte. Ihr sollt daher heimkehren und Miß Jane über sein mögliches Ausbleiben beruhigen. Ist die Stunde des Aufbruchs gekommen, so steht meine Jolle ihm zur Verfügung.«
Die Männer legten die Ruder ein. Finster sah die Gräfin dem scheidenden Boote nach; dann ließ sie Simpson zu sich bescheiden.
»Sorgen Sie dafür,« bat sie ihn, »daß nach Ablauf einer guten halben Stunde Lowcastle hier ist. Gefällt es Peldram, mag er ihn begleiten. Leistet er den Kindern Gesellschaft, so werden sie nicht ungeduldig, sollten sie vor Mitternacht nichts mehr von mir sehen oder hören. Die paar Stunden des Beisammenseins der beiden jungen Leute machen das Unheil nicht größer, als es schon geworden ist.«
Sie trat von Simpson fort, um sich nach dem Quarterdeck hinauf zu begeben. Dieser sah ihr düster nach. Ihren Plan durchschaute er nur teilweise; aber er wußte am besten, daß, was auch immer ihr vorschweben mochte, die Unerbittlichkeit einer Rachegöttin in ihr wohnte. Und doch hatte er sie so oft beobachtet, wenn hinter dem streng verschlossenen Antlitz das Herz vor Milde zerfloß, die nie entschlummernde Trauer um unersetzlich Verlorenes ihren Blick trübte.
Es dunkelte bereits, als die Gräfin in Lowcastles Begleitung sich wieder nach der Kajüte begab. Nach den ungeahnten, furchtbaren Aufklärungen Ratlosigkeit bei ihm voraussetzend, hatte sie ihm mit Bedacht Zeit gegönnt, seine Fassung zurück zu gewinnen. Sie wollte Zeuge sein, wie er alle nur erdenklichen Mittel herbeizog, um sie zu täuschen. Aufatmen sollte er unter dem Eindruck, Glauben bei ihr zu finden, um ihn dann um so verhängnisvoller mit ihrer Anklage zu treffen.
Eintretend erkannte sie auf den ersten Blick die Zeichen der heftigen Erregungen, denen Wellingham während ihrer Abwesenheit unterworfen gewesen war. Rastlos schwankte sein Geist zwischen gräßlicher Gewißheit und bangen Hoffnungen. Seine Selbstbeherrschung war indessen zurückgekehrt. Er fühlte, daß er in eine Lage geraten war, in der ein einziges unvorsichtiges Wort, eine Miene, ein Blick zum Verräter an ihm werden konnten, und so erhob er sich beim Erscheinen der Gräfin ernst und gefaßt. Was aber auf seinen Zügen verräterisch webte, das glaubte er im günstigsten Sinne zu erklären, indem er ohne Säumen begann: »Was ich las, ist furchtbar; um so grauenhafter, weil die den Tafeln aufgetragene Schrift keinen Zweifel an der Wahrheit der geschilderten Ereignisse gestattet.«
»Ebenso wahr wie grauenhaft,« bestätigte die Gräfin, halb zu Lowcastle gewendet, seltsam ausdruckslos; »nun aber versetzen Sie sich in meine Lage, und Sie werden leicht ermessen, welchen Qualen ich unterworfen gewesen, als ich die letzten zum Himmel schreienden Worte und Wünsche des einem gräßlichen Tode Geweihten auf den Steinen entzifferte und niederschrieb.«
Sie nahm Platz. Wellingham und Lowcastle, letzterer bereits vertraut mit dem Inhalt der Blätter, und von der Gräfin über die von ihm zu beobachtende Haltung belehrt, folgten ihrem Beispiel. Die Gräfin sah einige Sekunden ins Leere. Ihr Geist schien in der Vergangenheit zu suchen. Dann vor sich niederschauend, hob sie träumerisch an: »Vergegenwärtigen Sie sich also die Stimmung, und Sie werden begreifen, daß in dem rasenden Schmerz die letzte Milde erstickte, nichts mehr in mir Lebenskraft behielt, als das Verlangen, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich unter der Leitung dieses Mac Lear zu einem der schwärzesten Verbrechen zusammentaten. Mit meinem Glauben an die Menschheit schwand auch die letzte Spur barmherziger Regungen. Das Wort Vergeltung donnerte in meinen Ohren, ob ich schlief oder wachte; mein Herz durchzitterte nur das eine Gebet, daß die Mörder noch nicht von der Erde fortgefegt sein möchten, um endlich meinem Richterspruch zu verfallen.«
»Sie entdeckten keine Spuren von ihnen?« fragte Wellingham, und die Todesqual verlieh seiner Stimme einen seltsamen Mißklang.
»Spuren wohl,« antwortete die Gräfin, »jedoch bis jetzt eine Gewißheit leider nicht. Ich gebe indessen meine Hoffnung auf die Verwirklichung meiner Pläne nicht auf. Schreit mir doch eine innere Stimme zu, daß jener Mac Lear noch lebt, mag er immerhin, um seinen Raub zu sichern, den Namen zehnmal geändert haben.«
»Wenn Sie für die Richtigkeit der Spuren nur das kleinste Beweismittel besäßen, an dessen Hand Sie die Nachforschungen fortzusetzen vermöchten,« wendete Wellingham trotz seiner Ratlosigkeit lauernd ein.
In den Augen der Gräfin glühte es feindselig. Ihre ganze Willenskraft mußte sie aufbieten, dem um mehr als sein Leben ringenden Mörder die niederschmetternde Anklage nicht sofort ins Gesicht zu schleudern.
»Außer einigen Briefen jenes Mac Lear, die er an die Familie des jungen Larsen und die des ehrlichen Schiffskochs richtete, besitze ich freilich nichts,« versetzte sie dumpf, und lebhafter fügte sie hinzu: »Doch gleichviel, lebt das Scheusal noch, so finde ich es, oder ich müßte zuvor selber zugrunde gehen.«
Wellinghams Atem stockte. Auf seiner Stirn bildeten sich wieder Schweißtropfen. Sie entfernend, bemerkte er mit verzweifelter Ruhe: »Wie gestern abend, leide ich auch heute unter der Anwandlung eines Ohnmachtgefühls. Vielleicht darf ich um ein Glas Wasser bitten.«
Die Gräfin klingelte. Der eintretenden Aufwärterin befahl sie, Wasser, Rum und Zucker zu bringen: erst nachdem das Verlangte auf den Tisch gestellt worden war, schickte sie sich an, das stockende Gespräch neu zu beleben.
»Ich beklage, daß Ihre Stieftochter, dieses bezaubernde Bild holder Jungfräulichkeit, nicht zugegen ist,« sagte sie und beobachtete triumphierend das Zittern seiner Hand, als Wellingham das vor ihm stehende Glas füllte. »Ihr liebes Herz würde zerfließen vor Mitleid mit zwei jungen Geschöpfen, die, ich kann es nicht oft genug wiederholen, in ihrem ganzen Leben nichts anderes kennen lernten, als sich stumm den über sie verhängten Mißhandlungen zu unterwerfen. Ich beziehe mich auf die beiden Geschwister, die Sie gestern abend sahen. Schweife ich in meinen Mitteilungen zu ihnen ab, so geschieht es nicht ohne Grund. Wie und wo ich sie fand, und wie es mir gelang, den sie fortgesetzt marternden Händen die Kinder zu entreißen, übergehe ich. Ich erwähne nur, daß die Herzlosigkeit desjenigen, dem ich sie abkaufte, gleichviel um welchen Preis, ob in klingender Münze oder in Form böser Drohungen, zuerst den Verdacht in mir anregte, daß er trotz seiner Beschwörungen nicht der Vater der Ärmsten sei. Wie sich später ergab, hatte ich mich in meiner Voraussetzung nicht getäuscht.
»Dieser falsche Vater, ursprünglich ein elender Gaukler, hatte es verstanden, vor einer langen Reihe von Jahren ein armes Mädchen zu betören. Daß er mit ihm in die Welt hinauszog, erscheint um so sträflicher, weil er dadurch eine alte Seemannswitwe der einzigen und letzten Stütze beraubte.
»Wo die beiden nach ihrem Entweichen überall herumschweiften, mag Gott wissen; ich kann nur bestätigen, daß sie nach dem Süden gingen. Dort glückte es dem Gaukler, einen inzwischen zu Ehren und Reichtum gelangten Gefährten früherer Tage ausfindig zu machen. Seine Aufnahme scheint indessen keine sehr verheißende gewesen zu sein. Trotzdem besaß dieser Freund nicht den Mut, den Zudringlichen, der seine Frau auf einer anderen Stelle untergebracht hatte, aus dem Hause zu weisen. Sie blieben also beisammen, Freunde nannten sie sich vor der Welt, sie offenbarten auch, trotz der Verschiedenartigkeit ihrer gesellschaftlichen Stellung, die größten Rücksichten füreinander, und doch haßten sie sich gegenseitig wie den Tod.
»Eine bestimmte Beschäftigung hatte dieser Gaukler im Hause des einstigen Genossen, an den ihn ein furchtbares Geheimnis kettete, nicht. Er führte im vollen Sinne des Wortes das Leben eines Müßiggängers. Trotzdem wurden ihm stets reiche Mittel bewilligt. Diese sicherten ihm nicht nur ein sorgenfreies Dasein, sondern ermöglichten es ihm auch, seine im Verborgenen lebende Frau zu unterstützen. Sein Gönner litt dagegen unter dem Druck des arglistigen Hausfreundes Höllenqualen. Schon allein der Anblick des boshaften Abenteurers hätte genügt, ihm die letzte ruhige Stunde zu rauben. Er litt in um so höherem Grade, weil er eine schöne Frau sein eigen nannte und vor dieser das zwischen ihm und jenem bestehende Verhältnis nicht zu erklären, wenigstens nicht in harmloser Weise zu erklären vermochte. Denn was auch immer er in jüngeren Jahren verbrochen hatte, an seiner Frau hing er mit einer Liebe, die nur darauf bedacht war, alles, was irgend geeignet, sie zu betrüben, mit einer wahren Eifersucht von ihr fern zu halten. Zwei Kinder hatte sie ihm geschenkt, ein Mädchen und einen Knaben, zwei liebliche Geschöpfe, die das Glück beider bildeten.
»Da aber der Gaukler, in dem Bewußtsein einer unantastbaren Stellung, es vielfach an der gebotenen Achtung vor der Frau seines Gönners fehlen ließ, sogar den Versuch wagte, hinterlistig die beiden Gatten einander zu entfremden, so bot dieser alles Mögliche auf, sich seiner auf gütlichem Wege zu entledigen. Nicht nur, daß er seine ans Unsinnige grenzenden Ansprüche jederzeit befriedigte, sondern er erklärte sich auch zur Auszahlung einer sehr hohen Summe bereit, wenn er einen anderen Weltteil zu seinem Aufenthalt wähle. Darauf ging der verschmitzte Schurke indessen nicht ein. Weder Bitten noch ernste Vorstellungen oder Drohungen vermochten ihn zu bewegen, dem Verlangen seines Gönners nachzugeben, es sei denn, dieser hätte sich dazu verstanden, ihm die Hälfte seines Vermögens zu verschreiben. Zu wohl fühlte er sich in der sorgenfreien Lage, zu viel versprach er sich fernerhin von dem unheimlichen Einfluß, den er auf den Genossen früherer Tage ausübte.
»Unter der Dienerschaft des letzteren befand sich ein Neger, den man für besonders treu und zuverlässig hielt, hinter dessen kindisch lustigem Wesen aber ein Rachedurst lebte, der durch nichts besänftigt oder gar verwischt werden konnte. Die Peitschenhiebe, die sein Herr ihm einst für eine kleine Veruntreuung zuerkannte, mochte er vielleicht vergessen haben; dagegen war der Umstand, daß die eigenen drei Kinder nach dem Tode seiner Frau in die Ferne verkauft wurden, selbst für die Natur eines schwarzen Sklaven zu viel. Dieser Verkauf erscheint auch um so unnatürlicher, als sein Herr selber mit ganzer Seele an den Mitgliedern seiner Familie hing. Wie aber dem Neger geschehen war, ebenso wollte dieser an seinem grausamen Gebieter handeln. Auch er sollte kennen lernen, was es bedeutet, im Ungewissen über die teuersten Angehörigen zu leben, zugleich aber in der Gewißheit, sie nie, es sei denn als verkommene, elende Geschöpfe wiederzusehen. Es war eine schreckliche Aufgabe, die der Sklave sich gestellt hatte; doch gerade sie war es, die dem sonst so geschwätzigen Farbigen den eisernen Willen und die Kraft verlieh, alle, mit denen er in Berührung kam, über seine wahren Gesinnungen zu täuschen.«
Mit innerer Befriedigung betrachtete die Gräfin das geneigte Haupt Wellinghams. Er hatte die Haltung eines gespannt Lauschenden angenommen. Gedachte er aber, das, was ihn bewegte, vor der erbitterten Feindin zu verheimlichen, so hatte er deren Scharfblick unterschätzt. Sie sah, daß sie ihm nichts Neues erzählte, sah, wie seine Seele sich in wilder Verzweiflung wand, seine Brust sich schwer hob und senkte.
»Sie befinden sich in der Tat nicht wohl,« begann die Gräfin wieder zu Wellingham gewendet, »nehmen Sie noch ein Glas Wasser mit etwas Rum, das erfrischt.« Während dieser darauf, mehr einem Gestorbenen, als einem fühlenden Menschen ähnlich, ihrer Einladung Folge leistete, nahm sie ihre Erzählung wieder auf.
»Mit diesem Neger hatte der arglistige Gaukler sich befreundet. Es war, als hätten zwei auf die Erde entsendete Höllengeister bei der ersten Begegnung sich gegenseitig erkannt und zum Verderben eines Dritten, den sie in dem gleichen Grade haßten, wie sie von ihm abhängig waren, vereinigt gehabt. Bis dahin hatte das Verhältnis zwischen dem Gaukler und seinem Gönner sich täglich schlechter gestaltet, und es kam immer häufiger zu heftigen Auftritten. Diese gipfelten schließlich darin, daß letzterer in seiner Verzweiflung und in dem Gefühl gänzlicher Ohnmacht den Kopf verlor. Zum Schrecklichsten entschlossen, erklärte er, lieber mit ihm den Galgen zu teilen, als derartige Martern länger zu erdulden. Er führte daher eine Entscheidung herbei, in die der Gaukler, den Ernst der Lage nicht unterschätzend, notgedrungen willigen mußte. Er stellte ihm die Wahl, entweder nach Empfangnahme einer beträchtlichen Summe auf Nimmerwiederkehr das Weite zu suchen, oder zu erleben, daß er die Gerichte anrufe und damit unter eigener Aufopferung ihm ein Ende mindestens im Zuchthause bereite. Sich selbst der irdischen Gerechtigkeit zu entziehen, wäre ihm ja im letzten Augenblick noch Zeit genug geblieben.
»Unter solchen bedrohlichen Umständen schwankte der Gaukler nicht mehr. Er nahm das Geld und unterschrieb eine Erklärung, laut deren er sich von seinem Gönner und Genossen gänzlich lossagte, selbstverständlich mit dem Hintergedanken, sich nicht länger für gebunden zu halten, als es mit seinem Vorteil vereinbar war.
»Nicht unerwähnt darf ich lassen, daß der Gaukler bei der letzten Vereinbarung schlechter fuhr, als wenn er auf einen früheren Vorschlag eingegangen wäre. Dadurch wurde sein Haß gegen den ehemaligen Genossen noch gesteigert. Sein ganzes Sinnen und Trachten lief darauf hinaus, sich neue Mittel zu verschaffen, die Erpressungen wieder aufnehmen und noch weit nachdrücklicher fortsetzen zu können. Nicht ohne Einfluß auf seinen Entschluß blieb, daß ein zweiter Genosse früherer Tage seinen Gönner aufsuchte, um sich vampyrartig ihm anzuschließen. Darin eine Gefahr für sich witternd, beschleunigte er nach vorhergegangener Verständigung mit dem Neger seinen Ausbruch. Anstatt indessen den Staat zu verlassen, suchte er Zuflucht in den nahen Sumpfniederungen, wo sein schwarzer Verbündeter ihn in ein nur flüchtigen Sklaven bekanntes, schwer zugängliches Versteck führte. Auch für Lebensmittel sorgte der Schwarze.
»Wochen gingen dahin. Der Gaukler war verschollen und vergessen. Doch wenn sein früherer Gönner anfänglich aufatmete, so erneuerte sich der Druck, unter dem er so lange gelebt hatte, sobald der an Stelle des Verschwundenen getretene Genosse sich bei ihm heimisch zu fühlen begann. Es erscheint wie ein Gottesgericht, was ihn in den Mitwissern eines furchtbaren Geheimnisses verfolgte.
»Der Neger war zu derselben Zeit, wenn möglich, noch aufmerksamer und dienstfertiger geworden: mehr und mehr befestigte sich daher das Vertrauen, das sein Herr in ihn setzte.
»An einem heißen Sommernachmittage geschah dann das Unglaubliche. Der Gebieter des verschlagenen Negers hatte sich mit seiner Frau nach der nicht allzufernen Stadt begeben. Wie ich aus den mir gewordenen Schilderungen entnahm, lag der Wohnsitz jenes Herrn inmitten prachtvoller Parkanlagen, in unmittelbarer Nähe eines Gewässers, ob Fluß ob See, fällt nicht ins Gewicht. Die beiden Kinder der abwesenden Eltern, ein zweijähriges Mädchen und ein Knabe, der das erste Jahr kaum vollendet hatte, befanden sich im Garten unter der Obhut einer Wärterin. In einem Korbwagen schlummerten sie auf dicht beschatteter Stelle. Zum Schutz gegen das grelle Licht und lästige Fluginsekten, war ein Flornetz über sie hingezogen worden. Da die Wärterin keine Ursache zu irgend einer Besorgnis zu haben glaubte, entfernte sie sich, wie häufig geschah, auf kurze Zeit nach dem nahen Hause, und das war die Gelegenheit, auf die der Neger so lange geduldig gelauert hatte. Sie war nämlich kaum im Innern des Hauses verschwunden, als er mit der Gewandtheit eines indianischen Jägers aus dem nahen Gebüsch hervorschlüpfte und, das Flornetz beseitigend, sich über den Wagen hinneigte, die Arme behutsam unter das die Kinder tragende Pfühl schob und sie leise emporhob. Bedachtsam zog er darauf das Flornetz wieder über den Wagen hin, so daß das Fehlen der Kleinen nicht sofort bemerkt werden konnte, und eiligen Schrittes entfernte er sich auf den ihm vertraut gewundenen Pfaden. Ob man ihn verfolgte, kümmerte ihn wenig, so lange er in den Kindern ein Mittel besaß, seine Freiheit mit deren Leben zu erkaufen. Daß alles Mögliche aufgeboten werden würde, seiner habhaft zu werden, zumal keinem anderen, als ihm, der Raub zur Last gelegt werden konnte, bezweifelte er freilich keinen Augenblick; ebenso sicher war er aber auch, daß man ihn am wenigsten gerade da suchen würde, wohin man nur unter Lebensgefahr und dann noch unter Aufwendung der umfangreichsten Vorbereitungen gelangt wäre.
Eine Nacht und den folgenden Tag gebrauchte er, bevor er auf einer von übelduftendem Morast umringten, mit Sumpfgewächsen dicht bewucherten Insel die aus Baumrinde zeltartig errichtete kleine Hütte erreichte, wo der Gaukler so lange gehaust hatte, der den Nahenden nunmehr mit teuflischem Jubel willkommen hieß.
»Sie sehen,« schaltete die Gräfin eintönig ein, »ich bin über alles so genau unterrichtet, als ob ich selbst mich an dem Raub beteiligt hätte. Es ist kein Wunder; denn nachdem mir einmal die ausführliche Schilderung aller Vorgänge geworden, wollten sie nicht mehr aus meinem Kopfe weichen.
»Man behauptet oft, daß, wenn das Geschick sich die Aufgabe gestellt hat, einen Missetäter zu strafen, es alle Furien der Hölle herbeirufe, um sie mit ihren Schlangengeißeln an seine Fersen zu bannen. Andererseits aber ruft es den Eindruck hervor, als ob ein guter Engel ihm zur Hand sei, um gefährdete unschuldige Kinder zu überwachen, unbekümmert darum, wer außerdem noch Vorteil aus seinem Schutze zieht. So nur scheint es erklärlich, daß nicht allein die beiden ruchlosen Gesellen mit ihrem Raube entkamen, sondern auch die kleinen, zarten Wesen die grauenvolle Flucht durch Moore und Sümpfe bei dürftiger und obenein unangemessener Nahrung überlebten. Denn erst nach Wochen mühseligen Ausharrens und Umherirrens auf dem pesthauchenden, von zahllosen Schlangen und raubgierigen Krokodilen bevölkerten Boden erreichten sie die Stelle, auf der der Gaukler in verhältnismäßig sicherem Versteck seine heimlich genau unterrichtete und vor Unvorsichtigkeiten dringlich gewarnte Frau zu erwarten gedachte.
»Hier nun war es, wo der Neger nach Befriedigung seiner Rache einen anderen teuflischen Plan zur Ausführung brachte. In der Zuversicht, daß der Gaukler, von dem gemeinsam mit einem Farbigen ausgeführten Verbrechen das Ärgste für sich selbst befürchtend, die geraubten Kinder nimmermehr zurückbringen würde, benutzte er die Stunden seiner Nachtwache dazu, dem schlafenden Genossen die beträchtliche Geldsumme zu entwenden und mit dieser das Weite zu suchen. Die Empfindungen des Gauklers, als er beim Erwachen vergeblich nach dem Gefährten ausschaute, sind leicht zu vergegenwärtigen. Belehrte ihn doch das Fehlen des Geldes über den Sachverhalt; und so war ihm von der ursprünglich mühelos gewonnenen reichen Beute nichts geblieben, als eine mäßige Summe, die dem Neger entgangen war, und die kleinen hilflosen Geschöpfe, die für ihn nebenbei eine große Gefahr bildeten.
»Die verzweifelte Lage, in die er nunmehr geraten war und in der ihm schließlich nichts anderes übrig geblieben wäre, als die Kleinen an irgend einer Straße auszusetzen und ihrem Schicksal zu überlassen, erhielt dadurch eine Milderung, daß seine bis auf den Tod erschöpfte Frau sich wirklich zu ihm fand und die Sorge für die Kinder übernahm. Außerdem wurde es ihm dadurch ermöglicht, sich wieder unter Menschen zu zeigen, zumal der Schauplatz seines Verbrechens bereits weit hinter ihm lag, und der erste Lärm um das Verschwinden der beiden Geschwister einigermaßen verstummt war. Denn wer ihn, den bräunlichen Italiener, und seine Frau mit den schwarzlockigen Kleinen sah, bezweifelte schwerlich, daß sie deren Eltern seien.
»Vorläufig noch von den Mitteln zehrend, die dem Gaukler geblieben waren, wendeten sie sich zunächst nördlich. Womit sie dann aber ihr Leben fristeten, suchte ich nicht zu ergründen. Sicher ist indessen, daß der verruchte Abenteurer, feind jeder regelmäßigen Beschäftigung, zeitweise fahrenden Künstlern seines Schlages sich zugesellte und mit diesen von Ort zu Ort zog. Zugleich verwendete er seinen ganzen rohen Eifer darauf, die unter der treuen Pflege seiner Frau heranwachsenden Kleinen zu sogenannten Schlangenmenschen auszubilden.
»Arme Kinder,« und weicher, beinahe sanft ertönte der Gräfin Organ, »wer weiß, es würde vielleicht besser gewesen sein, ihr wäret eine Beute der häßlichen Sumpfscheusale geworden, anstatt dem Leben erhalten zu bleiben. Arme Kinder,« wiederholte sie flüsternd, während ihre Augen ins Leere starrten. Eine Weile herrschte dumpfe Stille. Wie unter einem von ihr ausströmenden bösen Zauber, verhielten die beiden Männer sich regungslos. Mit Grauen entdeckte Lowcastle, daß sie sich an dem Bilde weidete, das Wellingham ihr bot. In sich zusammengesunken, wie dem Leben nicht mehr angehörend, saß er da. Nunmehr sicher, daß die unerbittliche Rächerin wußte, wen sie in ihm vor sich sah, sie also nur ihr grausames Spiel mit ihm trieb, trachtete er unter dem Einfluß eines dumpfen Selbsterhaltungstriebes noch immer verzweiflungsvoll, ihren Glauben nur als Verdacht hinzustellen und diesen von sich abzuwälzen. Und doch war ihm, als hätte er, der alternde Mann und Besitzer ungezählter Reichtümer, ihr jammernd zu Füßen sinken, die Namen seiner Kinder ausrufen und um Erbarmen für sie und für sich flehen müssen. Bekannte er sich aber als Vater, so bekannte er sich auch als Verbrecher, und vor ihm saß Lowcastle, der nur als mit Absicht herbeigeholter Zeuge zugegen sein konnte. Wie der Verurteilte des Streiches von Henkershand, so harrte er des letzten verhängnisvollen Schlages, und was dann folgte, konnte nur das Vergessen aller Dinge sein.
»Diesen Gaukler, diesen Genossen eines der ruchlosesten Verbrecher, ich lernte ihn kennen,« erzählte die Gräfin weiter, und hart, wie angeschlagenes Erz, klang ihre Stimme. »Seltsames Verhängnis! Auf dem Wege, die letzten Wünsche längst Verstorbener zu erfüllen, gelangte ich auch vor die Tür Holidays, des auf der fernen Insel neben seinen beiden Unglücksgefährten schlummernden Schiffskochs. Anstatt aber seiner Witwe Trost zu bringen, erfuhr ich, daß jener Gaukler – doch ich mag seinen Namen nennen – daß Galbrett, der ehemalige Galeotto, die Tochter seines früheren Maats, zu dessen grauenhaftem Ende er das Seinige beitrug, ins Unglück gestürzt hatte. Nachdem die Verblendete von ihrer Mutter gegangen war, sollte sie diese nicht wiedersehen. Eine kurze Reihe von Jahren lebte sie noch unter der Tyrannei des vagabondierenden, herzlosen Mannes der Pflege der beiden Kinder, zu denen sie, selbst kinderlos, allmählich mütterliche Zuneigung gefaßt hatte; dann aber erlag sie den körperlichen und geistigen Leiden, der unablässig nagenden Reue, den Schmeichelreden eines gewissenlosen Verbrechers ihr Ohr geliehen und die alternde Mutter schnöde verlassen zu haben. Doch auch die Sorge um die Zukunft der beiden Geschwister hatte wohl zur Abkürzung ihrer letzten Lebenstage beigetragen. Gewohnt, diese als ihre eigenen Kinder zu betrachten und sie von anderen dafür gehalten zu wissen, beschwor sie den Gatten, die Verwaisten ihrer Mutter, der Witwe Holiday, zuzuführen und ihr die Pflege der Enkel ans Herz zu legen. Bereitwillig ging Galbrett auf ihren Wunsch ein, das war der letzte und einzige Trost, der ihr das Sterben erleichterte.
»Sie haben die Kinder gesehen,« brach die Gräfin nach kurzer Pause wieder das Schweigen. »Arme, arme Kinder. Ich gedenke ihrer Eltern, ob ihnen vielleicht im Traume zugetragen worden, daß die tot geglaubte Herzensfreude noch lebe, um eine Behandlung über sich ergehen zu lassen, für die man ein unvernünftiges Tier zu gut gehalten hätte. Freilich, sie waren die Sprößlinge eines fluchbelasteten Räubers und Mörders, und in dem heiligen Buch steht ja geschrieben, daß die Sünden der Väter an ihren Kindern heimgesucht werden sollen bis ins dritte und vierte Glied. Hätten die Eltern aber eine Ahnung von den Qualen ihrer Kinder gehabt, größeres Leid wäre ihnen dadurch nicht verursacht worden, als ich selber in jener Stunde erfuhr, in der ich die von Gras durchwachsenen, verwitterten Gebeine des Mannes vor mir liegen sah, der mein Glück und mein Heil hätte werden sollen.«
Wellingham fuhr empor, sein erschreckend entstelltes Antlitz der Gräfin zukehrend. Ein Ausruf schwebte auf seinen Lippen, wurde aber gebannt durch den Anblick Lowcastles, der in atemloser Spannung des Ausbruches einer furchtbaren Katastrophe gewärtig war.
»Die armen Kinder, wie – bedaure – ich sie –« stotterte Wellingham.
»Ja, auch mich dauerten sie,« fiel die Gräfin klanglos ein. »Ich wünschte ihnen ein besseres Los und beschloß daher, sie zu mir zu nehmen. Leicht gelang es mir nicht, den Elenden zu bewegen, sein jammervolles Mittel eines verächtlichen Broterwerbes hinzugeben. Doch der Zufall kam mir zu Hilfe. Durch ein Mitglied der meuterischen Besatzung der Emilia über Galbretts Vergangenheit unterrichtet, gewann ich über ihn eine Gewalt, der er nicht zu widerstehen vermochte. Ich zwang ihn zu einem Geständnis der eigenen Schuld; und mehr noch: er ergriff die Gelegenheit, sich dadurch von der irdischen Gerechtigkeit loszukaufen, daß er mir die Fährten bezeichnete, auf denen ich zu Mac Lear, dem Vater der unglücklichen Kinder, und damit zu dem Mörder des jungen Baronets und der drei auf der Aurora-Insel der Ewigkeit entgegenschlummernden treuen Männer gelangen würde.«
So verlieh die Gräfin mit eiserner Willenskraft dem ihr Opfer umschlingenden verderblichen Gewebe bedachtsam allmählich immer größere Durchsichtigkeit. Wellingham, bis zur Bewußtlosigkeit verwirrt, sprang auf. Wahnwitz lugte aus seinen Augen. Abermals öffnete er den Mund zu einer Bemerkung, doch die Stimme versagte ihm. Schwerfällig kehrte er sich ab, und schwankenden Schrittes bewegte er sich auf die Tür zu.
Lowcastle, der ihm erschrocken nachsah, neigte sich der Gräfin mit den gedämpften Worten zu: »Gehen Sie nicht zu weit, um Gottes willen. Er tut sich ein Leid an – stürzt sich über Bord –«
»Das geschieht nicht,« schnitt die Gräfin das weitere kalt ab, nunmehr ebenfalls Wellingham nachspähend.
Die Tür des hell erleuchteten Vorraumes der Kajüte hatte er offen gelassen. Als er aber die nach dem Deck hinausführende Tür nach innen zog, prallte er taumelnd zurück. Das von einer Schwebelampe ausströmende Licht hatte ihm Ghastly und Niels gezeigt.
»Larsen – Bill Fathom,« keuchte er bestürzt, indem er die Tür mit Heftigkeit zuschlug, dann kehrte er sich der Kajüte wieder zu. Die unerwartete Begegnung mit den beiden ihm unheimlichen Gestalten schien aber plötzlich eine seltsame Wandlung in ihm bewirkt zu haben. Nicht mehr zagend schaute er darein, sondern eigentümlich herausfordernd. Blutleer war sein Antlitz, allein die es eben noch entstellende Erregung hatte sich zu einer geisterhaften Ausdruckslosigkeit geebnet. Von den furchtbarsten Seelenkämpfen gefoltert, war er auf der Grenze gelangt, auf der die Gleichgültigkeit, aber auch die Hoffnungslosigkeit eines überführten Verbrechers ihn umfing. Sein Blut hatte sich in Eis verwandelt. Es herrschte in ihm die kalt berechnende Überlegung des Geschäftsmannes, der den Zusammenbruch seines Hauses durch verzweifelte Mittel noch ein wenig hinauszuschieben trachtet. Festen Schrittes begab er sich auf seinen Platz zurück, und sich niederlassend bemerkte er kurz und kalt: »Ich stehe wieder zu Ihren Diensten.«
Befremdet sah die Gräfin auf ihn hin. Nach den Flaschen greifend, mischte er sich einen Trunk, in dem der Rum weit vorwog. In einem Zuge leerte er das Glas, und mit einem starren Lächeln auf den Lippen sprach er: »Das hat mir wohlgetan. Beschämt spreche ich mein Bedauern aus, die gnädigste Gräfin in ihrer Erzählung unterbrochen zu haben. Eine Wiederholung der Störung steht nicht mehr zu befürchten,« und die Hände fröstelnd ineinander reibend, fügte er in eisigem Tone hinzu: »Sie waren bei Mac Lear stehen geblieben. Es läßt sich erwarten, daß die Angaben jenes Galetto oder Galbrett genügten, Sie vor die Tür des mit so viel Erbitterung gesuchten Todfeindes zu führen.«
Die Gräfin erstaunte. Wie ihren Sinnen nicht trauend, suchte sie in seinen fahlen Zügen und seinen unsteten Augen zu lesen. War sie anfangs geneigt, eine Anwandlung von Geistesverwirrung zu argwöhnen, so erblickte sie in der letzten Bemerkung die höhnende Herausforderung eines verstockten Bösewichts, der plötzlich die Maske abwarf, und antwortete daher schneidend: »Das sollen Sie bald erkennen! Nur das möchte ich noch einfügen, wie es Mac Lear gelang, seinen Raub zu sichern und auf den Früchten seines Verbrechens sich zu Ansehen und Reichtum emporzuschwingen.
»Die erste Empfindung, die nach Ausübung der grauenhaften Tat sich der Mehrzahl der Männer bemächtigte, war die der Reue. Wie ein Alp lastete es auf den Gemütern. Indem sie der Zeit gedachten, die sie wieder unter andere Menschen führen sollte, packte sie unbesiegbare Furcht. Denn wie konnte das Fehlen des Kapitäns erklärt werden, ohne zugleich Verdacht zu erwecken? Wurde aber nur die kleinste Unvorsichtigkeit begangen, so war es um alle geschehen; gab es doch keinen, der seine Beteiligung an der unseligen Handlung hätte ableugnen können. Und so blieb nur übrig, das fernere Geschick dem Urteil und der Entscheidung Mac Lears anzuvertrauen. Und von ihm, dem kundigen Schiffer und verschlagenen Rädelsführer, durfte vorausgesetzt werden, daß er alle möglichen Fälle erwogen hatte. Wohl begriff jeder, daß er um den Preis, keinen Verrat mehr fürchten zu brauchen, die Emilia samt allen an Bord mit der gleichen Kaltblütigkeit versenken würde, mit der er die Meuterei einleitete, wäre nur ihm selbst dabei Gelegenheit geboten, mit seinem Raube glücklich zu entkommen. Allein ebenso genau wußte Mac Lear, daß es nur eines Anstoßes bedurfte, um angesichts der ersten einsamen Küste des Festlandes von der mit der übel erworbenen Beute in den Böten flüchtenden Bemannung auf der angebohrten und schnell sinkenden Emilia zurückgelassen zu werden.
»So lebte tiefes Mißtrauen hier wie dort. Förmlich krankhaft sehnte jeder einzelne die Stunde herbei, in der es ihm anheimgegeben sein würde, sich von den Genossen auf Nimmerwiedersehen zu trennen.
»Jedoch Mac Lear bewahrte, um den Mut und den guten Willen der Genossen rege zu halten, eine gewisse zuversichtliche äußere Ruhe. Damit ging Hand in Hand, daß er den Genuß des Branntweins nicht einschränkte, außerdem aber jedem einzelnen als Anteil an der Beute hundertfünfzig Pfund Sterling auszahlte. Ihm selbst blieb nach seiner Angabe eine zehnfach so hohe Summe, die ihm für seine Dienste als Schiffsführer auch bereitwillig zugestanden wurde. Wie viel darüber er sich aneignete, ahnte keiner. Er war also von vornherein darauf bedacht gewesen, daß die Kunde über das von dem Baronet mitgeführte Geld nicht über seine und des Kapitäns Mitwisserschaft hinausgetragen wurde.«
Auf Wellinghams Antlitz zeigte sich ein erfrorenes blödes Lächeln.
»Immerhin eine beträchtliche Summe, die er an die Leute auszahlte,« bemerkte er halb erstickt; »gab er mehr, so reizte er ihre Raublust, und es war um ihn geschehen.«
»Ich pflichte Ihnen bei,« fuhr die Gräfin kalt fort. »Von seinem Standpunkte aus handelte Mac Lear verständig, wie er sich überhaupt in der Beurteilung anderer durch Scharfsinn auszeichnete und auch das Ende seines Schiffes meisterlich vorausberechnete. Als Ziel seiner Fahrt wählte er die südlich von Rio de Janeiro gelegene Paranagua-Bucht mit ihren dürftig bevölkerten Gestaden. Vor dieser kreuzte er unentschlossen mehrere Tage, bis ein hereinbrechender schwerer Gewittersturm eine endgültige Entscheidung herbeiführte. Den Sturm durchwetterte die Emilia gut genug; sie hatte ihn außerdem dazu benutzt, so weit westlich zu treiben, bis sie Land in Sicht erhielt. Darüber war die Nacht hereingebrochen, und als es wieder tagte, da konnte man sie sehen, wie sie als hilfloses Wrack der Strömung der westlich drängenden Wogen folgte. Ihre Masten waren im Laufe der Nacht der Reihe nach gekappt und samt der ganzen Takelage über Bord gesendet worden. Nur der Klüverbaum stand noch und der untere Teil des Fockmastes, zwischen denen das zerrissene Klüversegel sich zur Stetighaltung des Schiffes ausspannte. Zugleich war der Rumpf angebohrt worden, jedoch hoch genug, um das Leck verstopfen zu können, nachdem das Schiff sich bis zu einer gewissen Grenze gefüllt haben würde. Aus der Ferne mußte es infolgedessen als ein sinkendes Fahrzeug erkannt werden. In dieser Verfassung trieb es dem Lande näher; zu derselben Zeit ging aber auch die See herunter, so daß die beiden Boote mit aller Bequemlichkeit ins Wasser hinuntergelassen und mit dem wertvollsten Teil der ohnehin kostbaren ostindischen Fracht belastet werden konnten. Doch erst des Nachmittags, als auf die Notsignale mehrere kleine Fahrzeuge sich von dem Festlande trennten und den Kurs auf das Wrack hielten, wurden die Boote bemannt, freilich nicht, bevor man das Leck wieder geöffnet hatte.
»Dies alles vollzog sich mit der größten Ruhe und Ordnung. Begriff doch jeder einzelne, daß Mac Lear nach einem bestimmten Plan handelte, darauf berechnet, nicht dem leisesten Schimmer eines bösen Verdachtes Vorschub zu leisten. Seine Ratschläge befolgte man um so bereitwilliger, als er die Genossen nicht nur über das fernerhin zu beobachtende Verhalten unterrichtete, sondern ihnen auch bedachtsam ein glaubhaftes Märchen über den Verlust des Schiffes einprägte. Den darauf hin gleichlautenden Aussagen gemäß sollte während des Sturmes ein Leck gesprungen sein, infolgedessen die Emilia sich schnell füllte, so daß, um sie zu erleichtern, die Masten gekappt und ein Teil der Fracht über Bord geworfen werden mußten. Daß der Kapitän, ein Reisender, der Schiffskoch und ein Matrose beim Niederbrechen der Takelage verunglückten, klang zu natürlich, als daß Zweifel an der Wahrheit hätten Raum gewinnen können.
»So vorbereitet verließen die Meuterer, zwölf an der Zahl, das in die Fluten hinabtauchende Schiff. Dem Lande sich zukehrend, ruderten sie aus Leibeskräften und hatten den dritten Teil der Entfernung bereits zurückgelegt, als sie mit den zur etwaigen Bergung von Gütern herbeieilenden Fahrzeugen zusammentrafen. Fast gleichzeitig schlossen sich die Fluten über der Emilia. Bei diesem Anblick mögen einzelne der Bande wohl aufgeatmet haben: der letzte stumme Zeuge ihres Verbrechens war ja vom Ozean verschlungen worden; die Zungen der Lebenden dagegen, die lagen in den starren Fesseln des Selbsterhaltungstriebes. – Aber die Toten, die Toten, von ihnen erwartete schwerlich jemand, daß sie aus ihren Gräbern die Stimmen zum Himmel emporsenden, von ihm ein furchtbares Strafgericht auf die Häupter der Überlebenden herabbeschwören würden. Doch die Mühlen Gottes mahlen langsam, aber sicher.
»Was mir noch zu sagen bleibt, kann ich kurz zusammenfassen. Mac Lears Berechnungen erwiesen sich als zutreffend. Ausgerüstet mit den Zeugnissen der zur Rettung bereiten Küstenbewohner, reiste er mit den Genossen und den wenigen geborgenen Waren nach Rio de Janeiro, wo er sich mit dem Konsulat in Verbindung setzte. Die Mannschaft wurde, nachdem sie verhört worden, unter den üblichen Bedingungen entlassen. Sie zerstreute sich ohne Zeitverlust. Nicht zwei blieben beisammen. Die Angelegenheiten der verlorenen Emilia zu ordnen, konnte einem Geschäftsmann, wie Mac Lear, keine große Mühe verursachen. Es wurden die ungemeine Umsicht und die uneigennützige Peinlichkeit, mit denen er alle auf den Untergang des Schiffes bezügliche Fragen abwickelte, sogar von dem Reeder in der Heimat hoch anerkannt; trotzdem war er, wie ich auskundschaftete, durch keine Versprechungen zu bewegen, dem Reeder noch länger zu dienen. Inwieweit die Mitteilungen über seine schwankende Gesundheit begründet waren, die er als Ursache des Zurückziehens von dem Seeleben vorschützte, erfuhr ich nicht, fällt auch kaum ins Gewicht. Zu meiner Kenntnis gelangte nur, daß er nach Jahresfrist in Rio oder irgendwo in der Nachbarschaft starb. Die mir zu Händen gekommenen Briefe« – sie warf mehrere von der Zeit benagte Schriftstücke vor sich auf den Tisch – »belehrten mich indessen eines anderen. Von verschiedenen Orten aus entsendet und von verschiedenen Persönlichkeiten unterzeichnet, zeigen sie doch die gleiche Handschrift; sowohl diejenigen, in denen Mac Lear selbst berichtete, wie die anderen, in denen seine traurige Lage wie sein Tod gemeldet wurden – gewiß Grund genug zum Argwohn.«
Wellingham hatte einen der Briefe genommen und gelesen. Dabei lächelte er wahnwitzig. Er verneigte sich gezwungen und versetzte: »Meine gnädigste Gräfin, in allen Dingen stehe ich Ihnen zu Diensten. Verfügen Sie frei über mich und meine Kasse. Sie sprachen von zweiundzwanzigtausend Pfund,« fuhr er geheimnisvoll raunend fort, und Lowcastle schien für ihn nicht mehr auf der Welt zu sein, »was sind mir hunderttausend Pfund? Ich schenke Ihnen diese Summe – ha, der Wechsel, ich brauche ihn nur zu zerreißen,« und aufspringend, begann er in allen Taschen fieberhaft zu suchen.
So verstrich ein verschwindend kurzer Zeitraum, bis Wellingham den Wechsel endlich hervorzog und mit beängstigendem Lachen in Armeslänge von sich hielt.
»Soll ich ihn zerreißen oder verbrennen?« fragte er sich nachdenklich, dann verschmitzt: »Verbrennen, verbrennen. Wir müssen alle Spuren vernichten –« und während die Gräfin noch mit aller Macht den Glauben an plötzlich ausgebrochenen Irrsinn niederzukämpfen, sein Tun dagegen als eine schlau berechnete Täuschung zu deuten trachtete, flackerte der in seiner Hand befindliche, leicht zerstörbare Wertschein oberhalb der Lampe auf, daß die schwarzen Flocken nach allen Richtungen auseinander stäubten.
Mit kindischer Neugierde sah Wellingham bald diesem, bald jenem sich in der Luft wiegenden Aschenrestchen nach. Ein Schauder durchlief die Gestalt der Gräfin. Doch sie war kein Charakter, der leicht einzuschüchtern war oder lange in Verlegenheit um einen Ausweg aus irgend einer Bedrängnis geblieben wäre. Höher richtete sie sich auf, und die Blicke durchdringend auf Wellingham gerichtet, rief sie laut aus: »Mac Lear! Das ist die Summe, die der Baronet mit seinem Leben bezahlte!«
Wie ein Wetterschlag trafen die Worte Wellingham. Sein Körper brach in sich zusammen.
»Erbarmen – Erbarmen!« stöhnte er kaum verständlich, und Widerwille prägte sich auf dem Antlitz der Gräfin aus, als sie den hochangesehenen Gebieter über ungezählte Schätze in der entwürdigenden Stellung eines überführten, feigen Verbrechers vor sich sah. Drohend leuchtete es in ihren Augen, während schneidend von ihren Lippen floß:
»Hatten Sie Erbarmen, als ein hoffnungsvoller junger Mann, der einzige Sohn eines greisen Vaters, unter Ihrer Beihilfe über Bord gestoßen wurde? Hatten Sie Erbarmen, als Sie drei ehrenwerte Männer zum Tode in den Wellen oder zu grauenhaftem Dahinsiechen auf einer wüsten Felsenscholle verdammten?«
»Erbarmen!« wiederholte Wellingham röchelnd, »Erbarmen nicht für mich, sondern für meine ahnungslose Stieftochter, für – meine eigenen Kinder! Ich selbst will in den Tod gehen zu jeder Minute, auf jede von Ihnen beliebte Art, ohne daß je ein Vorwurf Sie trifft – nur meine unschuldigen Kinder schonen Sie – lassen Sie sie nicht dahinwelken unter dem Bewußtsein, daß sie – – – ich kann es nicht aussprechen!«
»Hatten Sie Mitleid mit der Verlobten eines Mannes, wie nie einer besser und edler auf Erden atmete?« fragte die Gräfin wiederum eisig. »Und Erbarmen fordern Sie? Mitleid? Sie, der Sie von dem Geschick für Ihre Missetat obenein verhätschelt und belohnt wurden? Der Sie Jahr auf Jahr Ihres wachsenden Reichtums sich erfreuten, sogar der Achtung Ihrer Mitmenschen, während ich zu dergleichen Zeit in endlosem Gram mich verzehrte? Sie wagen noch, an die Möglichkeit zu glauben, daß, nachdem ich endlich die Gewißheit über die Art des Todes der auf der fernen Insel Schlafenden erhielt, eine Spur von Milde in meinem gebrochenen Herzen fortlebt? Erbarmen mit Ihnen, der Sie wähnten, für Ihre Frevel ungestraft, o – geehrt und beweint dereinst aus diesem Leben scheiden zu dürfen? Nein, was der Himmel verabsäumte, ich will es sühnen, wie ich heilig gelobte; strafen und vergelten will ich nach Gebühr!«
Mühsam richtete Wellingham sich auf, und keuchend stieß er hervor: »Schein, alles Schein. Ich litt mehr, als Sie oder ein anderer, mehr, als die Opfer auf dem fernen Eilande. Meine Qualen erhöhten sich in dem gleichen Grade, in dem ich mich gewöhnte, den Verlust meiner Kinder als eine Strafe des Himmels zu betrachten. Keine Stunde erlebte ich, in der ich nicht gezagt und gezittert – o, in Verzweiflung mich gewunden hätte. Was Sie eine Begünstigung des Geschicks nennen, es diente dazu, mich nur noch elender zu machen. Andere gerieten durch mich ins Verderben; was ich dagegen in der langen Reihe von Jahren erduldete, das war tausendfaches Sterben unter Höllenqualen, und um dieser Qualen willen – ich beschwöre Sie darum – schonen Sie nicht mich, sondern die Unschuldigen, deren Name mit dem meinigen so innig verflochten ist, daß meine Schmach auch die ihrige in sich tragen müßte.«
»Schonung für diejenigen, die zu Ihnen gehören?« fragte die Gräfin. »Ja, ich will sie gewähren. Ihrer Stieftochter, indem ich Sie aus deren Augen schaffe, in ihr die Gefühle der Abscheu gegen Sie wachrufe und dadurch die der Zärtlichkeit wie der Trauer ersticke; ihren Kindern dagegen, indem sie nie erfahren, wer ihr Vater gewesen. Binnen jetzt und zwölf Stunden befinden Sie sich in den Händen der zuständigen Behörde. Was dann aus Ihnen wird, kümmert mich nicht weiter.«
Einem Geistesabwesenden ähnlich stierte Wellingham auf die Gräfin. Beinah eine Minute dauerte es, bevor er mühsam hervorbrachte: »So betrachte ich es als eine Gnade, noch in dieser Stunde allem und allen aus dem Wege gehen zu dürfen.«
»Wie oft habe ich in wilder Verzweiflung den Himmel angefleht, mich von dannen zu rufen, und immer vergeblich,« versetzte die Gräfin eisern, »und jetzt soll ich Ihnen diesen Segen gönnen? Nein, Ihr Los ist besiegelt. Ich bin nicht die einzige, die Rechenschaft von Ihnen fordert. Nicht nur meinetwegen stehe ich hier, sondern auch im Namen derjenigen, die heute noch unter dem Verlust teurer Angehörigen leiden. Noch lebt die Witwe Larsen, noch die des gemordeten Schiffskochs.«
Wellingham neigte das Haupt, richtete sich aber sogleich wieder empor und antwortete in wilder Überstürzung: »Ich bin reich. Ich will ihnen so viel geben, daß sie im Überflusse leben können bis an ihr Ende.« Seine Augen glühten in unheimlichem Feuer; tödliche Spannung prägte sich in seinen Zügen aus.
»Teilten Sie Ihr ganzes, auf fluchbelasteter Unterlage gewonnenes Vermögen zwischen ihnen, würde dadurch auch nur ein Tag der Trauer aus ihrem Leben gestrichen?« fragte die Gräfin mit unsäglicher Verachtung; »würde durch alle Schätze der Welt nur eine Stunde der Not der vergeblich nach ihrem verlorenen Sohne bangenden alten Larsen gelindert? Nur eine Stunde des Witwentums von der greisen Holiday genommen? Nur eine Stunde ihres Jammers beim Anblick der vermeintlichen Enkel, wenn die sich unter den Mißhandlungen eines ruchlosen Verbrechers wanden?«
»Meine Kinder,« versetzte Wellingham schaudernd, »meine Kinder bleiben sie immerhin – was verbrachen sie, daß ihnen entzogen bleiben soll, was Vaterliebe im Übermaß bieten würde –«
»Sie werden sie nicht wiedersehen, für die Ärmsten ein höheres Glück, als sie je von einem Mörder erwarten dürften.«
Wellingham schlug beide Hände auf die Schläfen. Wie aus einem Grabe emporgesendet, klang seine Stimme, indem er dumpf ausrief: »Auf der Aurora-Insel liegen drei Unglückliche in der Erde – der beste von ihnen, wenn er jetzt hier unter uns weilte, würde er Ihr grausames Verfahren billigen? Würde nicht sein bitterer Vorwurf Sie treffen, wüßte er, daß um einen Schuldigen noch härter zu strafen, Sie nicht anständen, auch Unschuldige zu vernichten?«
Wie eine erbitterte Rachegöttin trat die Gräfin ihm einen Schritt näher. Ihre Augen sprühten; Leichenfarbe bedeckte ihr Antlitz. Stahlhart klang ihre Stimme, indem sie ihm die Worte zuschleuderte: »Entweihen Sie das Andenken eines edlen Toten nicht dadurch, daß Sie sich auf ihn berufen!«
Sie brach ab. Die in ihren Zügen flammende Erregung sank jäh zurück. Eine Weile herrschte lautloses Schweigen. In ihrem Sinnen störte sie eine Bewegung Lowcastles. Er hatte sich erhoben, augenscheinlich um, überwältigt durch die vor seinen Augen sich entwickelnde Szene, die Kajüte zu verlassen.
»Ich pflichte Ihnen bei,« redete sie ihn anscheinend leidenschaftslos an, »für heute dürfte es genug sein.« Und zu Wellingham gewendet, der wieder blöde vor sich hinstierte: »Ich hindere Sie nicht, sich nach Hause zu verfügen. Es geschieht in der Voraussetzung, daß Sie morgen zu einer endgültigen Auseinandersetzung abermals hier erscheinen. Die Wahl der Stunde gebe ich Ihnen anheim. Nur so viel: sind Sie bei Sonnenuntergang nicht bei mir gewesen, so geht übermorgen früh ein Bericht an die Behörden nach New Orleans ab.«
Wellingham hatte offenbar nur verstanden, daß der Weg offen vor ihm liege; denn scheu schlich er an der Gräfin vorbei dem Ausgange zu. Die Gräfin und Lowcastle folgten ihm. Als er aufs Deck hinaustrat, standen Ghastly und Niels wieder vor ihm. Er beachtete sie nicht.
»Rudert den Herrn nach seinem Landhause hinüber,« befahl die Gräfin, »er ist plötzlich erkrankt. Für seine Sicherheit seid ihr verantwortlich.«
Wellingham hörte nichts, sah nichts. Er fühlte nicht, wie er in die Jolle hinabgeleitet wurde, und nahm Platz, ohne zu bemerken, daß es nicht sein eigenes Boot sei, das ihn heimwärts tragen sollte.
Als die Jolle sich von der Pandora trennte, sahen die Gräfin, Lowcastle und Simpson über den mondbeleuchteten Wasserspiegel hin dem eilfertig dahingleitenden Boote nach.
Erst nach einer langen Pause bequemte die Gräfin sich zu der Bemerkung: »Ich vermute, bis morgen macht er sich hinlänglich mit seiner Lage vertraut, um angesichts eines unabwendbaren Verhängnisses sein Gaukelspiel mit dem erheuchelten Wahnwitz aufzugeben.«
»Sie werden ihn nicht wiedersehen,« versetzte Lowcastle düster und noch unter dem vollen Eindruck des Erlebten.
»Er kommt,« erklärte die Gräfin zuversichtlich, »Leute seines Schlages besitzen nicht den Mut zu einem Angriff auf sich selbst.«
»Verzweiflung ist eine unberechenbare Triebfeder,« wendete Simpson ein.
»Sie bringt nicht leicht um den Verstand, oder ich selbst wäre längst zu dem geworden, was die Menschen von mir argwöhnten,« erwiderte die Gräfin gereizt.
»Sie mißdeuten die Beweggründe, die mich in meinem Verfahren leiteten,« hob Lowcastle an, doch die Gräfin unterbrach ihn:
»Jetzt nichts davon. Ich dächte, es wären der Erregungen genug gewesen. Bat ich um Ihre Zeugenschaft bei meiner Zusammenkunft mit dem Ruchlosen, so geschah es, um Ihnen Gelegenheit zu geben, sich ein unverfälschtes Bild von meiner Gemütsverfassung zu entwerfen. Ist die Angelegenheit mit diesem Mac Lear erledigt, so kommt das zwischen uns Schwebende zur Sprache und zum Austrage. Einmal zusammengeführt, dürfen wir nicht voneinander scheiden, bevor sonnenhelle Klarheit herrscht.«
»Ihre ungeahnten Enthüllungen verleihen Ihren zuweilen befremdenden Entschlüssen einen ganz anderen Hintergrund –«
»Ich wiederhole meine Bitte, alles auf sich beruhen zu lassen, bis ich selbst die Stunde der Abrechnung für gekommen erkläre.«
Sie waren unten eingetroffen. Heitere Stimmen drangen zu ihnen auf den Gang heraus.
»Abermals ein anderes Bild aus meiner Pandorabüchse,« bemerkte die Gräfin mit fliegenden Lippen. »Wie verschieden ist es von dem, das eben vor uns vorüberrollte. Dort Tod, Fluch, Jammer und Elend; hier überschwengliche Jugendhoffnungen. Was sind Jugendhoffnungen? Der erste beste, feindselige Hauch verweht sie.«
Sie öffnete die Tür und vor ihnen saßen in lebhaftem Gespräch Maud, Sunbeam und Peldram beieinander. Die beiden Schlangenkinder schliefen längst.
Beim Eintritt der Schiffsherrin und ihrer Begleiter erhoben sich die jungen Leute. Von heimlicher Besorgnis erfüllt, suchten sie in deren Zügen zu lesen. Sie entdeckten nichts in ihnen, als den Widerschein des Wohlgefallens an der freundlichen Gruppe, die sie in ihrer Vereinigung bildeten. Mit Verwunderung vernahmen sie, daß Mitternacht längst vorüber sei. Die Zeit war ihnen wie im Fluge verstrichen.
Beim Abschied sprach Peldram in aufrichtiger Weise der Gräfin seinen Dank für den ihm gewordenen Vorzug aus.
Diese zuckte die Achseln. Ablehnend fügte sie hinzu: »Warten Sie das Ende ab, bevor Sie von genossenen Vorzügen sprechen.«
Wie ein eisiger Hauch streiften diese Worte die jungen Gemüter. Als man voneinander schied, da geschah es unter einem peinlichen Zwange. Sandten die Herzen das trauliche »Auf Wiedersehen!« empor, so stockte es auf den Lippen, bevor es laut wurde.
Eine halbe Stunde später lagen die beiden Jachten still. Nur der schwere Schritt der auf und ab wandelnden einsamen Deckwachen war vernehmbar. Ein matter Lufthauch strich durch die straff gespannten Takelagen. Wohlgefällig spiegelte der Mond sich in den regungslosen Fluten des Pontchartrain.