Balduin Möllhausen
Die beiden Jachten
Balduin Möllhausen

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Zehntes Kapitel.

Die Schenke der Frau Holiday. Die Schlangenkinder. »Stallmeister« und »Küster«

Obwohl erst Oktober, herrschte doch echtes Herbstwetter im Staate New York. Eine nebelfeuchte Atmosphäre lagerte auf der Riesenstadt und deren Umgebung. Es hatte eben elf Uhr geschlagen. Die Wirkung des versteckten Mondes reichte gerade so weit, daß die Masten der auf beiden Ufern des Stromes ankernden Schiffe sich als schwarze Schatten von dem tiefgrauen Hintergrunde abzeichneten. Hier brannte eine Laterne, dort eine. Die oberhalb der eigentlichen Stadt auf dem Ufer hinführende Straße war vereinsamt. Nur selten wurden Schritte und Stimmen laut, wenn Matrosen und Werftarbeiter sich von den spärlich zerstreuten Schenken auf den Weg nach ihren Schiffen oder den wenig einladenden Schlafstellen begaben. Eine häßliche, abgelegene Gegend war es, die sogar im hellsten Sonnenschein nur Arbeiter oder kalt berechnende Spekulanten und Geschäftsleute anmuten konnte. Lagerschuppen, Kohlenmagazine und Holzplätze wechselten mit elenden Baulichkeiten ab, in denen Aufseher ein wenig beneidenswertes Dasein führten, lichtscheue Gestalten ihr nächtliches Unterkommen suchten oder fuseligem Whisky über die Maßen zugesprochen wurde.

Eben zitterten ferne Glockenschläge durch die verdichtete Atmosphäre herüber, als beinah auf dem äußersten Ende des die Straße einsäumenden Kais ein von zwei Männern stromaufwärts gerudertes Boot von seinem Kurse abwich und dem durch Balkengerüste erweiterten Ufer sich näherte. Bald darauf verstummte der Ruderschlag, und aus dem tiefen Schatten des Gerüstes tauchten oben auf der Plattform zwei Gestalten auf. Nachdem sie die letzte Stufe der Treppe erstiegen hatten, neigte die eine sich noch einmal über den Rand dem Wasser zu.

»Lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden,« sprach ein tiefes Organ hinunter, »wir mögen in einer halben Stunde zurück sein: es kann aber auch drei, vier dauern.«

»Well!« tönte eine jugendliche Stimme herauf, und ohne Zeitverlust schritten die beiden Gestalten von dem Kai hinunter und über die an diesem hinlaufende Straße fort.

»Eine unheimliche Umgebung,« brach Simpson endlich das Schweigen.

»Ich hoffe, Sie sind Ihrer Sache gewiß, daß wir uns der Mühe nicht umsonst unterziehen,« versetzte die Gräfin.

»So gewiß, wie es nur möglich ist, wenn man sich durch Augenschein von allen Verhältnissen überzeugte,« erwiderte Simpson; »sucht gerade hier jemand Auskunft über irgend etwas, so handelt er weise, die späte Abendstunde zu wählen. Einen solchen Eindruck gewann ich wenigstens bei meinem Kundschaften. Nach zehn Uhr soll ein ganz anderer Menschenschlag hier wirken und weben, als vorher.«

»Sie sind stets bedachtsam,« meinte die Gräfin, »einem anderen als Ihnen möchte ich mich schwerlich zu dieser abenteuerlichen Wanderung anvertraut haben. Höchstens Ghastly oder Niels.«

»Ich glaubte, Sie hinlänglich auf das wenig Einladende dieser Gegend vorbereitet zu haben,« erwiderte Simpson: »im übrigen gehen die Menschen hier einer dem anderen gern aus dem Wege.«

»Sorgen Sie nicht. Ich dächte, wir wären gefährlichere Bahnen gewandelt, ohne daß uns viel Schaden daraus erwuchs.«

Eine Strecke legten sie wieder schweigend zurück. Die Straße erreichte ihr Ende. An diese schloß sich ein anscheinend wüster Platz an, auf dem eine Reihe niedriger Bauwerke sich erhob. Die ersten, an denen sie vorüber kamen, schienen unbewohnt zu sein. Erst aus dem dritten oder vierten fiel durch vier kleine Fenster trübes Licht ins Freie hinaus. Vor der Haustür blieben sie stehen. Einige Augenblicke suchte Simpson in der Tasche; dann flammte unter seinen Händen ein Schwefelholz auf, und dieses emporhebend, las er auf einem schmalen Brett oberhalb der niedrigen Tür: »Restauration und Trinkhalle von Holiday«.

»Wir sind am Ziel,« sprach er, das Schwefelholz zur Seite werfend, »recht lebendig ist's ebenfalls noch da drinnen, und schwerlich in einer freundlichen Weise. Ziehen Sie vor, umzukehren, so stehe ich zu Befehl. Ich setze dann die Nachforschungen später allein fort –«

»Nein, nein,« unterbrach die Gräfin ihn, »wir kamen nicht den weiten Weg, um unverrichteter Sache abzuziehen. Wie es auch da drinnen aussehen mag, der Auftrag des Toten muß erfüllt werden.«

Simpson öffnete die Tür. Durch diese gelangten sie auf einen finsteren Flur. Ein schmaler Lichtstreifen belehrte sie über die Lage des Einganges zu den Räumen, aus denen wüstes Durcheinanderreden zu ihnen herausdrang; gleich darauf wich unter Simpsons Druck die angelehnte Tür nach innen.

Der erste Anblick der sich der ihm auf dem Fuße folgenden Gräfin bot, war wenig Vertrauen erweckend. Ein umfangreicher Raum mit niedriger Decke lag vor ihnen. Rötlichem Nebel ähnlich schwebten in ihm ätzender Tabaksqualm, der Duft fuseligen Branntweins und das Licht mehrerer trübe schwelender Lampen. Acht oder zehn kleine Tische, deren farblose Platten von verflossenen Jahrzehnten erzählten, standen unregelmäßig geordnet umher. Um sie reihten sich auf einfachen Schemeln und Bänken gruppenweise Männer jeglichen Alters. Aus der Bekleidung auf ihr Gewerbe zu schließen, wäre schwer gewesen, einen so hohen Grad von Verschiedenartigkeit unter sich wie in Farbe und Abgenutztheit wiesen die einzelnen Stücke auf. Ähnlich verhielt es sich mit den Kopfbedeckungen, die fast durchgängig in allen erdenkbaren Stellungen, nur nicht in der gehörigen, auf den wenig gekämmten Häuptern thronten. Eine gewisse Gleichmäßigkeit verriet sich dagegen in dem rohen Ausdruck der bärtigen und unbärtigen Gesichter, wie in dem Eifer, mit dem man hier unsaubere Karten handhabte, dort geräuschvoll oder die Stimmen vorsichtig dämpfend zueinander sprach, die vollen und halbvollen Gläser an die Lippen hob, oder endlich den langstieligen oder kurzen Tonpfeifen bläuliche Dampfwolken entlockte, wie es in den Kneipen niedrigster Sorte gang und gäbe.

Beim Eintritt der beiden Fremden blickten die meisten auf. Argwohn spiegelte sich in ihren Zügen, hier und da stockte auch ein Gespräch, dessen Inhalt nicht für weitere Kreise bestimmt sein mochte. Beruhigte es indessen einigermaßen, daß man in Simpson einen Seemann erkannte, so befremdete um so mehr, in seiner Begleitung eine Frau zu sehen, die trotz des unscheinbaren Regenmantels und des lackierten Matrosenhutes in Haltung und Bewegung eine mit den Sitten vornehmer Kreise vertraute Dame verriet.

Wenn auch von neugierigen Blicken verfolgt, so blieben die beiden Gäste doch von belästigenden Reden verschont, als sie nach der offenen Tür des Nebengemaches hinüberschritten. Dort waltete hinter einem mit Flaschen und Gläsern bedeckten Schenktisch eine vierschrötige Frau ihres Amtes als Wirtin. Zu ihr herantretend, fragte Simpson, ob zwei verspätete Wanderer kurze Rast bei einem stärkenden Trunk finden könnten.

Die Wirtin legte ihre brennende Tonpfeife vor sich nieder, strich mit den fettigen Händen über das ergraute Scheitelhaar und maß die Fremden mißtrauischen Blickes vom Kopf bis zu den Füßen hinunter. Offenbar empfing sie einen günstigen Eindruck, denn ihr Gesicht legte sich in verbindliche Falten, indem sie antwortete: »In meinem Hause mag rasten und trinken, wer Lust hat, und so lange es ihm beliebt. Nehmen Sie Platz, und wenn innerhalb zweier Minuten Sie nicht eine Herzensstärkung vor sich sehen, die zu trinken der Präsident von Washington sich nicht zu schämen brauchte, so will ich zum letzten Male den Pfropfen aus einer Ginflasche gezogen haben.«

Mit dem letzten Wort schob sie die Pfeife wieder zwischen die Zähne, worauf sie sich dem über einer Spiritusflamme singenden Blechkessel zukehrte.

Simpson spähte um sich. Das Gemach, in dem sie sich befanden, war kleiner, als das erstere. Außerdem wurde es beengt durch die Schenkvorrichtungen. Nur drei Tische hatten Raum gefunden. Vor einem davon saßen zwei Männer in eifriger Unterhaltung, die aber bei dem Eintritt der Fremden stockte. Besser gekleidet, als die in dem Hauptgemach Anwesenden, zeichneten sie sich außerdem auch durch eine gewisse Haltung aus. Den augenscheinlich Vornehmeren hätte man mit Rücksicht auf die langen Reitstiefel, den olivenfarbigen kurzen Phantasierock und den schief auf dem stark geölten, dunklen Lockenhaar thronenden Zylinderhut beim ersten Hinblick für einen Stallmeister gehalten. Dazu paßten ein kühn nach oben gedrehter Schnurrbart nebst langem Zwickelbart, die dem hageren, lederfarbigen Gesicht einen ans Komische grenzenden martialischen Ausdruck verliehen.

Sein Gefährte, der mindestens um einen Kopf kleiner war, bot dagegen das Bild eines halbverhungerten Dorfküsters, das nur durch die beiden schwarzen Bartfleckchen unterhalb der merkwürdig langen, spitzen Nase gestört wurde.

Bild: Max Vogel

Der Eintritt der beiden Fremden schien beiden unbequem zu sein. Denn nicht genug, daß sie in Schweigen versanken, bemäntelten sie ihren Verdruß dadurch, daß sie die Gläser an die Lippen hoben und, langsam schlürfend, über sie hinweg die Ursache der Störung argwöhnisch betrachteten.

Die Gräfin und Simpson hatten unterdessen Platz genommen.

»Wir scheinen in keine sonderlich berühmte Gesellschaft geraten zu sein,« bemerkte die Gräfin mit unterdrückter Stimme, und sie sandte einen kalten Blick durch die offene Tür in das belebtere Vorzimmer und darauf zu den beiden seltsamen Herren hinüber.

»Einmal hier, müssen wir das Beste davon machen,« erwiderte Simpson. Er faßte die vierschrötige Wirtin schärfer ins Auge und fügte hinzu: »Wenn die Frau da die Witwe des armen Schiffskochs ist, so möchte ich glauben, daß er in der Erde glücklicher daran sein dürfte, als lebte er noch in Partnerschaft mit ihr.«

»Aber die Kinder, die Kinder,« versetzte die Gräfin lebhafter, als es sonst ihre Art war, »was mag aus ihnen geworden sein? Und sein letzter Wille lautete doch dahin, daß wir uns ihrer erbarmen sollten.«

»Die sind längst aus den Grenzen des Erbarmens herausgewachsen,« erklärte Simpson beschwichtigend. »Ich meine, wenn Sie die Grüße des Toten an die Frau selber bestellen, so haben Sie Ihre Aufgabe erfüllt.«

In diesem Augenblick trat die Wirtin zu ihnen an den Tisch. Anstatt die ungewohnten Gäste durch eine hinter dem Schenktisch mit Gläserspülen beschäftigte, schlaftrunkene Magd bedienen zu lassen, trug sie selber ihnen das Verlangte zu. Es trieb sie die Neugierde, mehr von den beiden Fremden zu erfahren.

Simpson legte den geforderten Preis vor sie auf den Tisch und fragte: »Frau Holiday, wie ich vermute?«

Die Wirtin zuckte die Achseln und antwortete mit einer Erhabenheit, die sie der zweifelhaften Stallmeistergestalt abgelauscht zu haben schien: »Sagten Sie Drunmoore, so möchten Sie ins Schwarze getroffen haben. Doch Sie beziehen sich darauf, daß draußen auf dem Schilde Holiday geschrieben steht, und das besagt nichts. Eine Witwe Holiday hat freilich vor langen Jahren hier gewohnt; nachdem sie aber alles verwirtschaftet hatte und nicht mehr aus oder ein wußte, kaufte ich ihr den ganzen Kram samt der Firma ab, und für die bezahlte ich fünf Dollars extra. Hätt's freilich nicht nötig gehabt, denn Drunmoore klingt verhenkert viel feiner, als Holiday; allein die Kundschaft hatte sich einmal an Holiday gewöhnt, da wollte ich durch 'ne Änderung keine Ursach' zur Verwirrnis geben, und wie sich herausstellte, war meine Spekulation eine richtige. Denn meine Wirtschaft ernährt ihren Mann; da höre ich ebenso gern auf ›Mutter Holiday‹ wie auf Frau Drunmoore.«

»Aber sind Sie in der Lage, uns mitzuteilen, ob die Frau Holiday noch lebt und wo sie zu finden ist?« fragte Simpson.

»Nicht 'nen Strohhalm weiß ich von ihr,« beteuerte die Wirtin, ihren Ausspruch durch eine ansehnliche Rauchwolke aus dem Kalkstummel bekräftigend, »höchstens, daß sie noch lebt und sich durchhungert. Indes mit Verlaub, Herr: fragt man nach jemand, der schon halb zu den Gestorbenen zählt, muß man auch 'nen Grund dazu haben.«

»Ohne Zweifel,« erklärte Simpson, der verabredetermaßen das Wort führte, »Ihnen ist sicher nicht fremd, daß Holiday, ein Schiffskoch, vor Jahren verscholl?«

»Mit seinem Schiff zugrunde ging,« berichtigte die Wirtin, »wer sollte das besser wissen, als jemand, dem 's die Witwe selber anvertraute? War nebenbei eine rechtschaffene Natur, dieser Holiday, und wäre der heimgekehrt, möcht's heut anders mit seiner Frau stehen. Vielleicht kannten sie ihn selber?«

»Wir kannten ihn nicht, allein wir hörten durch einen dritten von ihm. Dem hatte er nämlich einen Gruß an Weib und Kinder aufgetragen, und da der Weg uns gerade nach New York führte, übernahmen wir es, den der Witwe zu überbringen.«

»'ne mächtig lange Zeit für 'nen Gruß,« meinte die Wirtin; »würden Sie statt dessen der Holiday ›'ne Tasche voll Geld‹ zutragen, möcht's ihr lieber sein. Doch ich sag's abermals: wo Sie die Holiday suchen sollen, weiß ich ebensowenig, wie die Herrschaften selber.«

»Wie ich erfuhr, war der sterbende Koch sehr besorgt um seine Kinder,« versetzte Simpson nach einem mit der Gräfin gewechselten Blick des Einverständnisses, »schon allein aus Achtung vor dem Toten möchten wir seinen Kindern von ihm erzählen. Vielleicht hörten Sie Näheres über die?«

»Ich hörte wohl hin und wieder einmal von ihnen, aber nicht viel Gutes,« hob die Wirtin an, wurde aber durch ein Geräusch unterbrochen, mit dem die Flurtür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Dann folgten lärmende Willkommrufe, die sich mit dem Namen Susanna mischten. Einige Sekunden starrte sie sprachlos vor Erstaunen in das Vorzimmer, und die Fäuste auf die breiten Hüften gestemmt, erklärte sie mit dem Ausdruck des Zweifelns: »Man sollt's nicht glauben! Bei Gott – das übersteigt alles Natürliche!«

Bei diesen Kundgebungen hatten die beiden seltsamen Herren, die so lange unter der Maske gänzlicher Teilnahmlosigkeit dem zwischen der Wirtin und ihren Gästen geführten Gespräch lauschten, einen blinzelnden Blick gewechselt. Leise sprachen sie einige Worte zueinander. Dann strich die Stallmeisterfigur die Bartspitzen, wogegen das Küstergespenst die Fliege auf seiner Oberlippe sanft betupfte; und argwöhnischer noch, als bisher, überwachten sie die ihnen offenbar unbequemen Fremden.

Die Gräfin und Simpson waren mit den Augen den Blicken der Wirtin gefolgt, und vor sich sahen sie ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen, dessen im Wachstum wohl etwas zurückgebliebener schlanker Körper in den Falten eines weiten, ärmlichen Kattunrocks verschwand. Statt eines Gurtes hielten ihre Hände den Rock vor sich zusammen, und zwar mit einer Anmut, die im grellsten Widerspruch zu der häßlichen, unsauberen Umhüllung stand. Schärfer sahen die Gräfin und Simpson auf die wunderliche Erscheinung hin, und innige Teilnahme ergriff sie, als sie in ein Antlitz schauten, dem die holdeste der Grazien ihr Gepräge aufgedrückt zu haben schien. Nur durch eine beinah krankhafte Hagerkeit wurde dessen rührende Schönheit beeinträchtigt, wogegen tiefe Glut des Unwillens über die ihr zugeschleuderten rohen Scherzreden ihm wieder erhöhte Reize verlieh. Dunkel von Haar, das sie in Flechten um ihr Haupt geschlungen hatte, und mit schwarzen Augen rief die junge Fremde durchaus den Eindruck einer Südländerin hervor, wozu sich eine Gewandtheit der Bewegungen gesellte, die mit der eines von der Tropensonne gepflegten jungen Leoparden hätte verglichen werden können.

Ohne rechts oder links zu schauen, eilte sie zwischen den Tischen des Vorzimmers hindurch, und bevor die Gräfin und Simpson ein rechtes Bild von ihr gewonnen hatten, stand sie vor der Wirtin, in bittendem Tone die Frage an sie richtend, ob sie noch arbeiten dürften.

»Seid ja vor einigen Tagen erst hier gewesen, und da verursachtet ihr beinah eine Schlägerei,« antwortete die Wirtin rauh.

»Sie erlaubten uns zwei Tage in jeder Woche,« hieß es ängstlich zurück.

»Und so spät in der Nacht?« fuhr die Wirtin fort.

»Wir konnten nicht anders, wir mußten,« erklärte das Mädchen, und wie in Erinnerung eines peinlichen Ereignisses drangen Tränen in die großen, melancholischen Augen.

»Vorwärts denn in des Henkers Namen,« polterte das Weib unwirsch, »aber das beschwör' ich mit 'nem Dutzend fester Eide: gibt's abermals 'ne Höllenwirtschaft, so seid ihr zum letzten Male hier gewesen.«

Das Mädchen kehrte sich ab, und nicht achtend der ihm geltenden tollen Zurufe, verschwand es gleich darauf durch die Flurtür. Die Wirtin aber wendete sich den beiden neuen Gästen zu, und die Stallmeistergestalt übersehend, die, um schärfer zu hören, beide Hände wie Fledermausflügel an die Ohren hielt, führte sie aus: »Ich wiederhol's, es ist zum Erstaunen. Wir reden von den Holidays, und da kommen ihre Anhängsel wie gerufen. Das Mädchen und ihr Bruder sind nämlich die Enkel von dem verschollenen Schiffskoch. Seine älteste Tochter war die erste, die nicht gut tun wollte, und das ist nunmehr schon an die siebzehn Jahre her, wenn ich mich recht entsinne. Anstatt der Mutter zur Hand zu gehen, hielt sie es mit einem Spieler, einem nichtsnutzigen Vagabonden, und der war weit übers Wasser gekommen – von Italien, hieß es. Ein schöner Mann war er immerhin, und mit dem brannte sie eines Tages durch. Viele Jahre verstrichen, und man hörte nichts mehr von ihr, bis ihre beiden Kinder plötzlich einmal des Abends hier waren und die Leute nach Noten belustigten. Was aus der Mutter geworden ist, weiß ich nicht – da sind sie,« lenkte sie der Gräfin Aufmerksamkeit wieder in das Nebengemach, und hinübersehend erblickte diese das Mädchen, jetzt aber in Begleitung eines Knaben, der augenscheinlich ein jüngerer Bruder war.

Beide waren in Trikot gekleidet, das, vielfach geflickt und ausgebessert, nebenbei durch seine unbestimmte, ursprünglich rosa Farbe von langem Gebrauch auf nicht immer sauberen Stätten zeugte. Um die Hüften hatte jedes einen enganschließenden roten Schurz geschlungen, auf dem noch einige Flittern früherer Tage und erblindete Tressen sichtbar waren. Und so boten sie in ihrem Aufzuge ein Bild beklagenswerten, zum Spott reizenden Elends. Was einst dazu angefertigt worden war, dem Auge zu schmeicheln, war jetzt nur noch geeignet, das tiefste Mitleid wachzurufen. Dieser Eindruck wurde erhöht, wenn man die schmächtigen Glieder betrachtete, die, obwohl sehnig, verständlich von einem Leben des Entbehrens und Leidens erzählten. Mit ihren auffällig schönen, südlichen Gesichtern hätte man die beiden Geschwister mit abgezehrten Kupidos im Bettlerkleide vergleichen, den eigentümlichen Zug um die jugendlich roten Lippen dagegen als Ausdruck verheimlichten Trotzes, nie schlummernden Mißtrauens und damit Hand in Hand gehender Furcht deuten mögen.

Bild: Max Vogel

Als sie in ihrer jämmerlichen Verkleidung über die Schwelle schritten, wurden sie wiederum mit rohen Scherzreden und widerwärtig aufmunternden Zurufen begrüßt. Sie ließen sich indessen dadurch nicht beirren. Vor den Schänktisch hintretend, nahmen sie von der mit ihren Gewohnheiten vertrauten Wirtin vier leere Flaschen in Empfang, die, nach ihrer Form zu schließen, ursprünglich Champagner enthalten haben mochten. Dann schafften sie dadurch etwas Raum um sich her, daß sie die Flaschen in Form eines Rechteckes aufstellten und als Untersatz für die Füße eines gewöhnlichen amerikanischen, durch Querleisten verstärkten Stuhles benutzten. Nachdem Susanna, wie das Mädchen hieß, sich von der Festigkeit des Bauwerks überzeugt hatte, erstieg sie den luftigen Sitz, wo sie mit Sicherheit die seltsamsten Gliederverrenkungen auszuführen begann. Bald auf den Händen stand sie, Beine und Oberkörper in Schlangenwindungen um die Arme verschränkend, bald auf dem Kopf oder vielmehr Genick und die schlanken Glieder ineinander verflechtend. Den Übungen des Mädchens folgten die des Knaben, worauf beide zugleich den Stuhl bestiegen und, mit unerklärlicher Sicherheit auf dem schwanken Gestell das Gleichgewicht bewahrend, sich durcheinander wanden. Ihre Physiognomien, obwohl zu einem matten Lächeln verzogen, bewahrten dabei fortgesetzt eine ängstliche Ruhe, als hätte jemand mit der Peitsche hinter ihnen gestanden, um jeden Fehlgriff, jedes Stören des Gleichgewichts sofort nachdrücklich zu strafen. Ob Beifall ihre Anstrengungen lohnte, ob zur Ermunterung die tollsten Versprechungen auf sie hereinregneten: sie blieben unempfindlich, schienen unter einem bösen Banne zu leben, gegen den sich aufzulehnen ihnen der Mut und wohl noch mehr die Kraft fehlte.

Wie alle übrigen Anwesenden, beobachteten auch die Gräfin und Simpson die Schlangenkinder mit gespannter Aufmerksamkeit. Doch nicht Ergötzen an derartigen Schaustellungen ließ sie deren unnatürliche Bewegungen mit ernster Teilnahme verfolgen; es webte in ihnen vielmehr der Gedanke an die unsäglichen Qualen, denen die beklagenswerten Geschöpfe schon im zartesten Kindesalter unterworfen gewesen sein mußten, um eine Geschmeidigkeit, wie die bewiesene, überhaupt zu ermöglichen. Mitleidig suchten sie die dunklen Augen der Ärmsten, die so seltsam kalt, sogar ausdruckslos blickten, als hätten sie keine höhere Sehkraft besessen, als die einer Gliederpuppe, die sich unter den Händen eines launenhaft spielenden Kindes lautlos zu den tollsten Stellungen bequemt. Und diese beiden, unter Martern herangereiften Wesen sollten die Nachkommen Holidays, des ehrlichen Schiffskochs sein, desselben Mannes, der aus seinem einsamen Grabe in der fernen Wasserwüste so ergreifend um Erbarmen für die Seinigen gefleht hatte!

Sie konnten es nicht fassen. In ihrer Teilnahme achteten sie am wenigsten auf die beiden wunderlichen Herren, für die sie selbst so lange ein Gegenstand argwöhnischer Aufmerksamkeit gewesen waren. Um einen vollen Anblick der Schlangenkinder zu gewinnen, hatten diese sich erhoben und die ungünstigen Plätze im Hintergrunde aufgegeben. Offenbar war ihnen darum zu tun, ihre Neugierde hinter der Maske kalter Gleichgültigkeit zu verheimlichen, denn der zweifelhafte Stallmeister nahm ihre leeren Gläser und trat, diese nach Gauklerart vor sich im Kreise wirbelnd und wieder auffangend, neben den Schenktisch hin, wogegen das Küstergespenst durch das Hinwerfen einer Silbermünze grämlich einen neuen Doppeltrunk bestellte. Dann kehrten beide sich der Mitte des Zimmers zu, wo das Geschwisterpaar sich nunmehr in ihrem Gesichtskreise befand. Doch je länger sie das Paar beobachteten, in um so höherem Grade machte sich in den Zügen namentlich des Stallmeisters der Ausdruck innerer Befriedigung geltend. Allmählich ging dieser in den einer zügellosen Gier über, der zunächst die Bartspitzen unter den beweglichen langen Fingern zum Opfer zu fallen drohten.

So war eine Viertelstunde verstrichen, als die Geschwister sich vor der lärmenden Gesellschaft verneigten und Stuhl und Flaschen dahin brachten, von woher sie sie genommen hatten, worauf der Knabe mit einem Teller von Tisch zu Tisch ging, um die ihnen zugedachten kleinen Geldbeträge einzusammeln. Susanna war unterdessen hinausgeschlüpft, kehrte aber nach kurzer Frist in ihrem Kattunrock wieder zurück. Es war ersichtlich, es widerstrebte ihr, sich länger in dem jämmerlichen Gauklerkleide zu zeigen, zumal ihre Erscheinung der rohen Gesellschaft wiederholte Gelegenheit zu den häßlichsten Scherzreden bot. Auf ein Wort von ihr begab ihr Bruder sich ebenfalls hinaus, um, während sie selber das Einsammeln fortsetzte, seinen verschlissenen Anzug überzuwerfen.

 


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