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Der Tag, den Gregor für die Zusammenkunft der Melvilles bestimmt hatte, war angebrochen, einer jener lieblichen, sommerlich-warmen Tage, wie sie den amerikanischen Herbst, gleichviel ob im Norden oder im Süden auf der Tropengrenze, gewissermaßen charakterisieren. Was Gregor vor diesem Termin an Hindernissen zu überwinden, was er an reiflich erwogenen Anordnungen zu treffen gehabt hatte, wie viele Briefe er hierhin und dorthin entsendete, wußte nur er allein, konnte kein anderer ahnen.
Seine ganzen geistigen Kräfte spannte er an, um Mittel zu ergründen, die ihre strafende Wirkung nicht versagten. Von finsterem Haß beseelt, vollführte er seine Nachforschungen mit der geräuschlosen Regsamkeit, mit welcher die Spinne das Netz für die von ihr ins Auge gefaßten Opfer webt. Was die Zukunft ihm dann brachte, ob innere Befriedigung, ob lebensfrohes Aufatmen, ob Reue, es kümmerte ihn nicht, wenn nur der Bann wich, der seit seinem ersten Besuch auf der Plantage, seitdem er die erste verbürgte Kunde von dem Leben Gilberts empfing, in erhöhtem Grade sein Sinnen und Denken umdüsterte. Senkte sich demnächst eine andere Last auf sein Gemüt, so war er der Mann dazu, sie auf sich zu nehmen, und ohne einen Laut oder Blick der Klage bis an sein Lebensende mit sich herumzuschleppen. Und eine Ahnung sagte ihm, daß er vor einem Wendepunkt seines Daseins stehe, nicht alles mehr so bleiben könne, wie es bisher gewesen war.
Auf demselben Wege fuhr er heute, auf dem er zu seiner Zeit dem Pedlar begegnete und Thusnelda in verwegenem Übermute seine Kraft und Gewandtheit auf eine gefährliche Probe stellte. Das Fuhrwerk zogen heute nicht die beiden edlen Falben, sondern zwei kräftige Mietspferde, die vor dem offenen viersitzigen Reisewagen in gemächlichem Trabe sich einherbewegten. Bei ihm befanden sich Stocton und ein älterer Herr mit vornehmem Äußeren und feinen Manieren. Hinten auf einer breiten Gepäckbank hatte Singsang mit seinen Vorratskörben Platz gefunden.
Ein zweiter ähnlicher Wagen folgte in einiger Entfernung. In diesem saßen Marianne, Thusnelda und Frank, der vor einigen Tagen erst zu seiner Mutter gestoßen war und erstaunt in seinem Vater denselben Pedlar wiedererkannte, der einst in dem Gasthofe seine herzliche Teilnahme erweckte.
Gewiß wäre Ursache vorhanden gewesen, mit heiterer Zufriedenheit der jüngsten Ereignisse zu gedenken, allem es schien, als ob der undurchdringliche Ernst Gregors, der in letzter Zeit noch eine Steigerung erfuhr, sich auf alle übertragen habe, die in näherem Verkehr mit ihm standen. Fielen in dem vorderen Wagen nur gelegentlich kurze Bemerkungen, die sich auf gleichgültige Dinge bezogen, so vermochte Frank mit seinem sprühenden Jugendmut nur hin und wieder seiner Mutter wie Thusnelda, der einst so bewunderten und jetzt mit Entzücken als Verwandte begrüßten kühnen Reiterin, ein erzwungenes Lächeln zu entlocken. Obwohl immer neue harmlose Gespräche anknüpfend, weilten die Gedanken aller fortgesetzt in der nächsten Zukunft, die ihnen wie mit einem düsteren Schleier verhangen erschien.
Wie Gregor als Thusneldas Beschützer und Vertreter die Reise angetreten hatte, so war Frank von Gilbert mit den erforderlichen Vollmachten versehen worden, und nur unter den dringendsten Vorstellungen hatte er es durchgesetzt, daß Gilbert mit Rücksicht auf sein körperliches Befinden davon abstand, an dem Familientage auf der Plantage sich zu beteiligen.
Durch die Wahl des Ortes, wo man übernachtete, hatte Gregor es zu ermöglichen gewußt, daß sie auf der Plantage zur frühen Stunde eintrafen. Denn noch glitzerten in schattigen Winkeln nach dem nächtlichen schweren Herbstnebel Tautropfen auf Gras und Kraut, als Gregor dem japanischen Baldachin gegenüber die Pferde anhalten ließ, den Kutschenschlag öffnend, zur Erde sprang und die beiden Begleiter beim Aussteigen zuvorkommend unterstützte.
Gleich darauf traf der andere Wagen ein. Auch hier forderte Gregor zum Aussteigen auf. Die beiden Wagen blieben im Wege; dagegen riet er den Kutschern, auszuspannen, die Pferde mit Futtersäcken zu versehen und im Schatten der Bäume auf geeigneter Stelle unterzubringen. Darin verfolgte er ebenfalls einen bestimmten, wohlüberlegten Zweck: bis zum letzten Augenblick sollte Miß Sarah im Ungewissen über die Zahl und die Persönlichkeiten der auf der Plantage einkehrenden Gäste erhalten werden. Er selbst führte die ganze Gesellschaft nach dem hinlänglich Schutz gewährenden Baldachin hinüber, wohin Singsang bereits mit seinen Vorräten vorausgeeilt war. Er hatte eben Stocton, Thusnelda, Frank und den fremden Herrn gebeten, zurückzubleiben und seiner ferneren Mitteilungen zu harren, als er der schwarzen Susanna ansichtig wurde. Eine Strecke abwärts stand sie hinter einem sie bis an die Schultern verbergenden Strauch, mit beiden hochgeschwungenen Armen ihn zu sich winkend. Irgendeine harmlose Kunde von ihr erwartend, schritt er hinüber, und als er vor ihr eintraf, da erstaunte er über die triumphierende Bosheit, die sich auf ihren schwarzen Zügen ausprägte.
»Master Gregor,« hob sie ungestüm an, ohne auf seinen freundlichen Gruß zu achten, »Sie sind ein großer, lieber Herr; Ihnen verrate ich alles; Großmutter meint, das sei ein guter Gedanke. Tag und Nacht hab ich gelauert, aber der Slowfield, das schreckliche Untier, ist erst gestern abend gekommen –«
»Schon gestern?« fiel Gregor überrascht ein.
»Gestern abend, Master Gregor, gestern, kurz vor Dunkelwerden. Da habe ich gehorcht, was der und Miß Sarah miteinander redeten, und erstaunliche Dinge waren es, und nur wenig Gutes dabei. Von ihnen hörte ich, daß Master Gregor heute komme; da bin ich hierher gelaufen, als ich den Wagen rasseln hörte. Aber noch viel mehr redeten sie, so viel, daß ich nicht alles im Kopf behalten konnte. Etwas weiß ich doch: den Master Gregor nannten sie einen elenden Kunstreiter. Von dem Kapitän Stocton sagten sie, er wäre längst verfault; der könne nicht mehr kommen. Miß Sarah meinte, sie traue dem Frieden nicht, und Tote seien schon eher aufgestanden. In ihrer Stimme lag's, daß sie furchtbar wütig –«
»Weiter, weiter, Susanna,« munterte Gregor freundlich auf, als die Negerin stockte und sichtbar ihr Gedächtnis anstrengte, »was du mir erzählst, ist sehr wichtig und mehr, als ich erwartete. Besinne dich, ob sie nicht von anderen Verstorbenen sprachen, die wieder aufgewacht seien.«
»Gewiß, Master Gregor,« fuhr Susanne mit frischem Mute fort, »das Untier Slowfield sagte deutlich, der Master Gilbert – Großmutter hat ihn genau gekannt – lebe noch; da schrak Miß Sarah erstaunlich. Was sie dann redeten, war so bunt durcheinander, wie die roten und gelben Maiskörner in einer Röstpfanne, daß ich's nicht auseinander finden kann. Ich vermute, die beiden haben Arges im Sinn; da wollte ich dem Master Gregor raten, ihnen nicht zu trauen. Ich habe mich ordentlich geängstigt, so giftig lachte Miß Sarah, und der Slowfield redete wie eine Katze, wenn sie die Krallen einzieht. O, Master Gregor, die beiden sind sehr böse Menschen.«
»Das ist alles, was du erlauschtest?« fragte Gregor nachdenklich.
»Alles, alles, was ich im Kopfe behalten habe,« antwortete Susanna, die große schwarze Hand auf die Stelle legend, auf der ihr ehrliches Herz fröhlich pochte.
»Gut, Susanna,« versetzte Gregor, dem armen Geschöpf leicht auf die Schulter klopfend, »so will ich dir meinerseits anvertrauen, daß ich sehr dankbar für deine Mitteilungen bin, und unbelohnt soll es dir ebenfalls nicht bleiben. Nun höre genau auf mich und handle pünktlich nach meinen Worten. Zunächst haben die beiden in dem Herrenhause Lügen gesprochen, denn der Master Gilbert liegt beinah ebensolange auf dem Meeresboden, wie du alt bist –«
»Hab's mir gedacht, Master Gregor,« warf Susanna verschmitzt ein, »wer einmal gestorben ist, kann nicht mehr aufwachen.«
»Recht so, Susanna, du bist eines der klügsten Negermädchen, die ich je sah. Jetzt aber gehe zu deinen Großeltern zurück, oder wohin du willst, nur den Herrschaften da unter dem Baldachin bleibst du fern. Verstehst du? Wenn sie dich rufen und um dieses und jenes befragen, so verrätst du nichts von dem, was wir miteinander verhandelten. Das ist nämlich ein großes Geheimnis, und Unglück brächte es, erführe es außer uns noch ein anderer. Gehe also; bevor ich heute abreise, sehen wir uns, und dann sollst du keine Ursache haben, dich über meinen Geiz zu beklagen.«
Fröhlich lachend und ohne sich um die unter dem Baldachin Versammelten zu kümmern, hinkte Susanna davon. Sinnend blickte Gregor ihr nach.
»Ich wandle auf unsicherem Boden,« sprach er vor sich hin, »selbst da, wo ich es am wenigsten erwarte, droht Verrat. Wenn das arme Geschöpf mit seinen Enthüllungen vor uns alle hintrat, und Thusnelda – entsetzlich! Nein, meines Bleibens ist nicht hier; fort, fort –«
Wie um ferneren peinlichen Betrachtungen auszuweichen, kehrte er sich hastig um, und in seiner gewohnten zuversichtlichen Haltung begab er sich nach dem Baldachin zurück. Einige entschuldigende Worte richtete er dort an den in seiner Begleitung gekommenen Herrn, dann bot er Marianne den Arm, um sie ins Herrenhaus zu führen.
Als sie sich verabschiedeten, thronte bange Erwartung auf allen Zügen, und die Hände reichte man sich, als hätte es einem Lebewohl auf Nimmerwiedersehen gegolten. Nur Gregor schien einem Anfluge von Heiterkeit nachzugeben, wie jemand, der nach langem Kreuzen auf unbegrenzter Wasserwüste endlich den ersehnten festen Boden unter den Füßen fühlt.
Schweigend legten sie die Strecke bis zum Vorgarten des Herrenhauses zurück. Marianne, die seit vielen Jahren zum ersten Male die alte Heimat wiedersah, kämpfte gegen Tränen. Es erschütterte sie der Anblick des heillosen Verfalls einer Stätte, auf der einst Friede und Glück sich dauernd niedergelassen zu haben schienen. Als sie aber gleich darauf eine freie Aussicht auf das verödete und verwilderte Negerdorf gewann, in dem sie unzählige Male von alt und jung zutraulich begrüßt und angeredet wurde, da stützte sie sich schwerer auf Gregors Arm, um die Sicherheit ihrer Bewegungen zu bewahren. Gregor entging nicht, wie sie nach Fassung rang. Um ihr Zeit zur Beruhigung zu verschaffen, schlug er einen Umweg ein.
»Ja, Marianne, es hat sich vieles hier geändert,« bemerkte er, indem sie, um den verwilderten Rasenplatz herumschreitend, einen vollen Anblick des Hauses mit der verwitterten und wirr überwucherten Veranda erhielten, »es mußte wohl so kommen. So es aber ein versöhntes Geschick nicht anders bestimmt, grünt aus den Ruinen wieder frisches, fröhliches Leben. Zeige dich also stark, und was du auch erfahren magst: klammere dich stets an die Überzeugung an, daß keine Szene von mir hervorgerufen, kein Wort gesprochen wird, das ich vorher nicht reiflich erwog und berechnete. So wirf auch die Scheu ab, wenn die Notwendigkeit an dich herantreten sollte, über Dinge dich zu äußern, die dir peinlich sind. Vergiß nicht, es handelt sich um den Vorteil deiner Kinder, um die Sicherstellung von deren Zukunft, dann auch wohl ein wenig um deine und Stoctons Lage, die immerhin eine Verbesserung erfahren kann.«
»Wir haben uns daran gewöhnt, dich für uns denken und entscheiden zu lassen,« versetzte Marianne schwermütig, »wir kennen deine Treue, deine unbegreifliche Umsicht; so wird es mir auch gelingen, deinen Wünschen in allem zu entsprechen.«
Gregor lachte geräuschlos und fuhr dann fort: »Vorwärts, vorwärts müssen wir blicken, und ich hoffe, es dauert nicht mehr lange, bis du und Stocton die Plantage, wenn auch in kleineren Verhältnissen, wie einen Phönix aus der Asche erstehen laßt.«
»Wir?« fragte Marianne mit einem Ausdruck, von welchem schwer zu entscheiden, ob er freundliche Hoffnungen oder trübe Entsagung in sich barg, »wir sollten in die Lage geraten –«
»Ich verspreche nichts; allein bevor die Nacht hereinbricht, hoffe ich euch in der Lage zu sehen, die Plantage übernehmen zu können, um so mehr, weil ihr nur mit Gilbert euch zu einigen habt, und der wird schwerlich geneigt sein, das ihm lieb gewordene Strandhaus aufzugeben. Thusneldas Ansprüche können und sollen erst nach dem Tode ihres Vaters geltend gemacht werden; daraus erwachsen euch ebenfalls keine Schwierigkeiten. Außerdem ist durch mich oder vielmehr durch unser gemeinsames Wirken glänzend für sie gesorgt.«
»Gregor,« hob Marianne wieder zagend an, »mich ergreift Bangigkeit bei dem Gedanken, daß Charles und ich, die wir nur Sehnsucht nach Ruhe kennen, uns in eine lebhafte und geräuschvolle Tätigkeit stürzen sollen. Die freundliche Zurückgezogenheit, in der ich alle diese Jahre lebte, ist mir zu sehr Gewohnheit geworden, und von Charles weiß ich, daß er sich nur noch für stilles Wirken im Kreise seiner Familie erwärmt.«
»Umstände ändern vielleicht die Anschauungen,« wendete Gregor ein, »und wie oft fügt sich alles anders, als wir voraussetzen. Es war überhaupt eine beiläufige Bemerkung. Zuvörderst Erfolg und dann Ausnutzung desselben. Doch komm jetzt,« fuhr er freundlich fort, die Richtung nach der Veranda einschlagend, »Du bist ja auf alles vorbereitet, wirst daher deine Ruhe bewahren. Irre ich nicht, so werden wir schon erwartet. Ich entdeckte wenigstens zwei Gesichter, die dort in dem Eckfenster über die Blumen hinweg zu uns herüberspähten.«
Gleich darauf trafen sie vor dem Hause ein, und gedämpft über gleichgültige Dinge zueinander sprechend, stiegen sie nach der Veranda hinauf.