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Die Sonne war bereits der östlichen Prärie entstiegen. Wie ein dichtes Diamantengewebe ruhte der schwere nächtliche Tau auf Gräsern und Halmen. Indem die ersten Wärme spendenden Strahlen der nahe dem Erdboden lagernden feuchtkalten Luftschicht begegneten, schien die Ebene zu dampfen. Wie aus milchweißem Gewässer ragte der obere Teil des Wagens aus dem Nebelschleier hervor. Eine kleine Herde alter Büffelstiere hatte eine kurze Strecke weiter oberhalb das Flußbett gekreuzt. Gemächlich einherwandernd, rief es den Eindruck hervor, als ob sie schwimmend im Bade ihre Riesenleiber kühlten. Plötzlich standen sie still. Die sanfte westliche Luftströmung mußte ihnen die Witterung von den blutigen Resten des von den Wölfen zerfleischten Stammesgenossen zugetragen haben; denn in drohendes Brüllen ausbrechend, begannen einzelne den Erdboden zu scharren und sich schwerfällig durcheinander zu winden. Beim ersten Ton der unwirschen Tiere war Gregor aufgesprungen. Leicht überzeugte er sich, daß das Geräusch der grollenden Nachbarschaft vollständig harmlos war. Er griff daher zur Büchse, um die günstige Gelegenheit zur Beschaffung eines frischen Fleischvorrates sich zunutze zu machen, als die ergrimmten Tiere verstummten, ihre Bewegungen einstellten, die mächtigen Körper emporwarfen und die Nüstern dem Winde entgegenspreizten. Indem Gregor noch zweifelte, ob sie durch die Nähe eines Wolfes oder eines Menschen beunruhigt worden, hoben sie die kurzen Schweife mit den flatternden Büscheln und polternd stürmten sie davon.
Er sann noch über die Ursache der auffälligen Bewegung nach, als die Stimme der kleinen Thusnelda zu ihm herüberdrang und ihn an das Trostlose seiner Lage erinnerte. Schnell eilte er um den Wagen herum, und unter das Zeltdach schlüpfend, sah er das Kind, wie es mit offenen Augen dalag und an der zwischen seine Fäustchen geklemmten Haarsträhne ungeduldig zerrte. Sein zweiter Blick galt der jungen Mutter. Sie hatte sich augenscheinlich die ganze Nacht hindurch nicht gerührt; denn noch ruhten die Unterarme verborgen in den Falten der Decke.
Jäher Schrecken bemächtigte sich seiner. Seine Bestürzung war so groß, daß er, wie an allen Gliedern gelähmt, eine Weile auf den Knien liegen blieb, bevor er wagte, den ihm zunächst befindlichen Arm bloß zu legen und die schmale weiße Hand zu berühren. Entsetzt fuhr er zurück. Die Hand war unheimlich kalt.
Nachdem er seine Besinnung einigermaßen zurückgewonnen hatte, überzeugte er sich durch einen neuen zaghaften Griff, daß die Armgelenke bereits erstarrt waren. Trotzdem konnte, wollte er nicht glauben, daß das Leben, dessen neuem Erblühen er abends zuvor noch mit so viel Zuversicht entgegensah, entflohen sei. Zögernd, wie um eine Schlummernde nicht zu wecken, hob er nunmehr den Schleier empor, und ein mit tiefem Stöhnen vereinigter Ausruf des Jammers entschlüpfte seinen Lippen, als er in ein marmorbleiches Totenantlitz blickte. Wohl ruhte ein Ausdruck himmlischen Friedens auf den leicht geschlossenen Lidern, wohl lag zutage, daß der Heimgang im Schlafe ohne jeglichen Kampf erfolgte; doch welche Wirkung konnte das auf ihn nur ausüben, in dessen Ohren es wie mit betäubenden Posaunentönen dröhnte: »Tot, tot! Unwiederbringlich verloren! Dahin, um nie mehr zurückzukehren! Verstummt, um nie mehr ein Wort freundlicher Ermutigung von sich zu geben!«
Da weinte das der Nahrung harrende Kind, und bestürzt kehrte er diesem seine Aufmerksamkeit zu. Ungeduldiger noch zerrte es an dem lichten Haar, die Empfindung in ihm erzeugend, daß es der Toten Schmerz verursache. Behutsam löste er das feine Haargewebe von den kleinen Fingern, es zugleich sorgfältig aus deren Bereich bringend; dann aber, nachdem er die Kleine bequemer gebettet hatte, ergriff ihn neue Angst. Wenn auch sie aus Mangel an richtiger Pflege starb, so war er ganz allein in der traurigen Einöde. Denn mochte sie immerhin seine ganze Kraft, seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, ihn zwingen, sich gleichsam aufzureiben, so besaß er in ihr doch eine Gefährtin, wußte er in seiner Nähe ein, wenn auch nur hilfloses menschliches Wesen.
Gewissenhafter noch, denn je zuvor, bereitete er der kleinen Waise den gewohnten Frühtrunk. Ängstlich beobachtete er, wie sie mit kräftigen Zügen die Nahrung zu sich nahm, mit lieblicher Ahnungslosigkeit um sich sah und spielend nach den ihr gereichten Kieseln griff, und jetzt erst wälzte sich das Bewußtsein der ihm zugefallenen Verantwortlichkeit mit ganzer Schwere auf seine Seele. Sanft verhüllte er das noch immer schöne Antlitz der Toten, und gebeugt wie unter einer erdrückenden Last schlich er wieder um den Wagen herum. Dort ließ er sich auf die Deichsel nieder, und gegen wilde Verzweiflung ringend, suchte er zunächst seine Gedanken zu ordnen.
»Wie soll das werden, wie soll das werden!« sprach er in seiner Verzweiflung vernehmlich vor sich hin. »Gilbert, Gilbert, eine schwere Verantwortlichkeit hast du auf dein Gewissen geladen. In den Tod ließest du die arme zarte Edith jagen, in den Tod dein eigenes hilfloses Kind, und mir wälztest du eine Aufgabe zu, die zu erfüllen meine Kräfte nimmermehr ausreichen.« Seine Betrachtungen stockten. Ein Ausdruck tiefer Erbitterung gelangte auf dem gebräunten, jugendfrischen Antlitz zum Durchbruch. Fester legten sich seine Zähne aufeinander und gleichsam zischend entwanden sich die Worte den geöffneten Lippen, indem er rückhaltlos seinen gehässigen Empfindungen nachgab.
»Noch lebe ich, noch bin ich gesund,« hieß es da bedrohlich, »und sollte es mich das Leben kosten, ich will tun, was in meinen Kräften steht. Mein Ziel soll sein, Rechenschaft von dir zu fordern. Vergeltung will ich üben, indem ich dir ein Bild vor Augen führe, angesichts dessen ich jetzt selber vor Jammer sterben möchte. Deine Tochter aber, mein Erbe – nein, nimmermehr sollst du sie wiedersehen, und wärest du imstande, ihr das höchste irdische Glück zu bieten. Was ich litt, was ich selber leide, das soll dir nicht vergessen sein. Ich lebe ja noch, will leben, will dein Kind retten, Edith, oder gemeinschaftlich mit ihm zugrunde gehen!«
Mit den letzten Worten sprang er empor. Sein Antlitz trug nur noch unbeugsamen Trotz zur Schau. Die letzte Spur knabenhaften Zagens war von ihm gewichen, um starrem Manneswillen und Mannesmut seine Stelle einzuräumen.
Er kehrte sich dem Zeltdach zu. Deutlich erkannte er die Gestalt der Toten durch die sie verhüllende Decke hindurch. Ein Schauder durchrieselte ihn, während seine Züge sich wie im Krampf verzerrten und die Zähne sich knirschend aufeinander rieben. Es schwebte ihm vor, daß er derjenigen, die so lange seine treu anhängliche Gefährtin gewesen, den letzten Liebesdienst zu erweisen, sie gegen die Angriffe der Wölfe zu sichern habe. Ratlos spähte er um sich. Im weitesten Umkreise dasselbe Tierleben, wie am vorhergehenden Tage, und doch meinte er, daß die Prärie noch viel öder geworden sei. Sein Blick streifte die Überreste des am vergangenen Tage erlegten Büffels. Es befremdete ihn, daß sieben oder acht Wölfe, anstatt unersättlich das blutige Gebein zu benagen, dasselbe scheu umschlichen, oder, in sicherer Entfernung sitzend, lüstern betrachteten. Er entsann sich des seltsamen Benehmens der Büffel, die er beim Verlassen seines Lagers beobachtete, und sein Argwohn ward rege. Allmählich entdeckte er eine unbestimmte Bewegung neben der Tierleiche. Die Ursache derselben zu erkennen, hinderte ihn indessen die Entfernung. Sein erster Gedanke war, daß ein größeres Raubtier Besitz von der Beute ergriffen habe, dann aber hätten dessen äußere Formen sich deutlicher auszeichnen müssen. Zweifelnd spähte er noch hinüber, als plötzlich eine menschliche Gestalt sich aufrichtete und anscheinend mühsam nach dem nahen Flußbett hinüberschritt. Nach Haltung und Bekleidung zu schließen, war es kein Eingeborener, aber auch kein weißer Jäger oder Wüstenwanderer. In ihren Bewegungen offenbarte sich sogar eine gewisse Scheu, die er auf die Nähe der Wölfe glaubte zurückführen zu dürfen.
»Auf alle Fälle ein menschliches Wesen,« dachte Gregor, und erleichtert aufatmend fügte er in der Erregung sprechend hinzu: »Und wäre es das elendeste Geschöpf, so befände ich mich doch nicht mehr allein.«
Da er durch das stark qualmende Feuer das Kind gegen Raubtiere hinlänglich geschützt wußte, griff er zur Büchse und schritt schnell auf den rätselhaften Fremden zu. Dieser hatte unterdessen das Strombett verlassen. Auf dem äußersten Uferrande stand er und sah, offenbar von Zweifeln befangen, Gregors Ankunft entgegen.
Noch immer wußte Gregor nicht, was er aus der seltsamen Erscheinung machen sollte. Erst als diese sich auf ihn zu bewegte und dadurch die zwischen ihnen bestehende Entfernung um so schneller verminderte, erkannte er einen Chinesen. Derselbe hob, bevor er noch in Sprechweite getreten war, beide Arme empor, und mit flehendem Ausdruck und dem eigentümlichen chinesischen Akzent tönte es zu Gregor herüber: »Ein armer verhungerter Mann bittet um Barmherzigkeit! Ich bin ehrlich und treu; ich will dienen und arbeiten. Rette den armen gequälten Chinamann; sonst nimm deine Büchse und schieße ihm eine Kugel durch den Kopf.«
Gregor antwortete nicht gleich, sondern benutzte die Zeit bis zu ihrem Zusammentreffen, das Äußere des Hilfe Flehenden zu prüfen. Ein weitärmeliger, hemdenartiger blauer Rock fiel ihm bis über die Knie nieder. Unter diesem lugten bauschige Beinkleider hervor, an die genähte Zeugstrümpfe und wunderlich dicksohlige Schuhe sich anschlossen. Seinen Kopf bedeckte eine runde Filzmütze mit schmaler, ringsum aufgeschlagener Krämpe und beschattete dürftig ein gelbes, schlitzäugiges Mongolengesicht, von denen das Alter abzulesen, einem mit den Kindern des Reiches der Mitte wenig Vertrauten sicher schwer geworden wäre. Gregor gewann nur den Eindruck, daß es von abschreckender Häßlichkeit war. Die zu der Nase in einem stumpfen Winkel liegenden kleinen Augen aber dienten am wenigsten dazu, den ersten Eindruck abzuschwächen, dagegen meinte er neben großer Angst unzweideutige Gutmütigkeit in dem schüchternen Blick zu entdecken.
»Wie kommst du so ganz allein in diese Wildnis und obenein ohne jegliches Mittel, das Leben zu fristen?« fragte Gregor, und in seiner Freude reichte er dem Chinesen die Hand.
»Das ist eine lange, böse Geschichte,« antwortete dieser etwas ermutigt, »die Menschen haben mich geschlagen auf den Tod und beraubt –«
»So wollen wir uns nach meinem Wagen begeben,« fiel Gregor in seiner Besorgnis um die kleine Thusnelda ein, »während des Gehens spricht es sich nicht schlechter, und dort ist meine Anwesenheit sehr notwendig. Im übrigen magst du unbesorgt sein. Willst du mir treu dienen, soll es dein Schade nicht sein. Du mußt dich nur entschließen, anstatt an den Missouri zu ziehen, mich nach Kalifornien zu begleiten.«
»Mein Weg führt nach Kalifornien,« fiel der Chinese befangen ein, »bin nur davongelaufen in dieser Richtung. Sie wollten mich umbringen, mein Geld haben sie geraubt, ich bin sehr arm.«
»Um so besser,« erklärte Gregor befriedigt, »bist du arm und hungrig, so bist du der Mann für mich, und dienst du mir treu, so teile ich mein letztes Stück Brot mit dir. Doch vertraue mir zunächst an, wie du gerade hierher verschlagen wurdest. Irgendeine Ursache muß auf alle Fälle vorliegen. Was bist du und woher kommst du?«
»Ich bin ein Künstler,« antwortete der Chinese etwas selbstbewußter, »Tsung-Tsang ist mein Name. Ich habe viel gelernt. Die Menschen sagen, ich verstände mehr, als Brotessen.«
»Welche Kunst erlerntest du?«
Tsung-Tsang holte aus seinem Ärmel ein Paketchen Zigarettenpapier hervor, riß drei der zarten Blättchen ab, und jedes auf beiden Enden zusammenfassend, drehte er es in der Mitte zusammen, wodurch es die Form eines Schmetterlings erhielt. Einen Fächer zog er aus den Falten seines verschlissenen Rockes, und denselben öffnend, warf er die drei Papierchen empor, sie mittels gemächlicher Schwingungen des Fächers während des Gehens in der Schwebe erhaltend. Abwechselnd hinauf und hinunter wirbelten sie in der stillen Atmosphäre, ohne jemals aus dem Bereich seiner Gewalt zu geraten, hinauf und hinunter und immer ein wenig voraus mit munteren Bewegungen, wie wirkliche Schmetterlinge. Durch einen matt triumphierenden Seitenblick überzeugte er sich, daß Gregor ihn erstaunt betrachtete, und ohne sein Papierchen außer acht zu lassen, begann er zu erzählen:
»Ich gehe eine Stunde und keines fällt auf den Erdboden. Ich kann auch sechs Dinger nehmen. Wohin ich gehe, fliegen sie voraus. Aber ich verstehe noch mehr,« und während des seltsamen Spiels schienen seine Gewandtheit und Kraft zu wachsen und etwas mehr Zuversicht offenbarte sich in seiner Haltung, »vielmehr. Ich werfe mit Messern und treffe auf zehn Ellen einen Kupferzent. Ich lasse Bäumchen wachsen und blühen in einer Viertelstunde –«
»Säh' ich dich nicht mit den Dingern hantieren, würde ich dich für einen Lügner halten,« bemerkte Gregor ungläubig.
»Ich spreche die Wahrheit,« beteuerte Tsung-Tsang, »und alles zeige ich meinem großmütigen Freunde; auch wie ich mit zwölf Bällen spiele, meinen Körper winde, wie eine Schlange, und einen Brief durchs Fenster im vierten Stock sende, daß er mitten auf den Tisch fällt. Meine Eltern waren berühmte Künstler, die erzogen einen Mann aus mir. In meiner Heimat gab's nicht viel Geld zu verdienen; da waren meine Künste nichts Neues. Aber ein Amerikaner lernte mich kennen und meinte, ich könne reich werden, wenn ich mit ihm zöge. Er versprach mir viel Geld, und ich folgte ihm in die Fremde. Da vermietete er mich bald hier, bald dort in Theater und Zirkus gegen hohe Bezahlung, und die Menschen erstaunten über meine Kunst. Ich dagegen war zufrieden, wenn ich jeden Monat meinen Lohn erhielt. So sparte ich sechzehnhundert Dollars in drei Jahren. Damit konnte ich in Kanton leben wie ein vornehmer Herr, und beschloß daher, in meine Heimat zurückzukehren. In New-York verabschiedete ich mich von meinem Geschäftsfreunde; der Krieg war ohnehin im Gange und mit den Vorstellungen war's vorbei. Ich hätte zu Schiff reisen können, aber ich berechnete die Kosten und zog vor, über Land nach San Franzisko zu gehen. Dort gibt's alle Tage Gelegenheit nach Kanton. Am Missouri, wo die Emigranten sich sammelten, vermietete ich mich bei einer kleineren Gesellschaft als Koch. Anfänglich gab's keine Ursache zum Klagen. Als wir aber erst so weit waren, daß es zu spät war zur Umkehr, behandelten sie mich wie einen Hund. Sie stießen und schlugen mich und nannten mich einen verfluchten Chinamann. Geduldig ertrug ich alles. Je unbarmherziger sie wurden, um so freundlicher und gefälliger diente ich ihnen. Ich hoffte, in San Franzisko würde die Qual ihr Ende erreichen. Auch meine Künste zeigte ich ihnen; da schworen sie, ich sei vom Teufel besessen und verdiene gehangen zu werden. Aber sie trachteten nach meinem Gelde und suchten nur nach einer Ursache, mich zu berauben.
Acht oder neun Tage ist es her, da schlugen sie mich wieder unbarmherzig. Ich mußte es ertragen. Ich war allein, und sie zählten acht Männer und drei Frauen, und was sie redeten, war schlecht; auf sechs Worte kam immer ein Fluch. Da sagte ich, ich sei ihnen im Wege, ich wollte mich von ihnen trennen und einen anderen Wagenzug erwarten, sie möchten mir nur einen kleinen Vorrat Lebensmittel verkaufen. Dafür nannten sie mich einen Verräter. Neue Schläge mußte ich hinnehmen; auf die Erde warfen sie mich und mein Haar schnitten sie ab, damit ich verlacht werde, wenn ich meinen Landsleuten unter die Augen trete. Als mein Zopf unter der Schere knirschte, geriet ich in Verzweiflung. Ich zog mein Messer. Ich wußte nicht, was ich tat, aber verletzt habe ich niemand. Nur drohen wollte ich. Da schlugen und traten sie mich, daß ich besinnungslos liegen blieb, und mich verhöhnend, raubten sie mir meine ganzen Ersparnisse.«
Hier übermannte ihn der Gram um das verlorene Geld, das er so lange als die erste Staffel zu seinem Glück betrachtet hatte. Er fing die beweglichen Papierchen mit dem Fächer auf, zerknitterte sie in krampfhaft geschlossener Faust und warf sie zur Seite, worauf er den Fächer wieder auf seinem Körper barg.
»Auch der Wurm liebt sein Leben, und um das meinige zu retten, entfloh ich, sobald es Nacht geworden war. Bis dahin hatte ich still gelegen, daß sie meinten, es sei vorbei mit mir. Hätten sie mich am folgenden Morgen lebend vorgefunden, so wäre ich sicher umgebracht worden. Wie ich hier gehe und stehe, lief ich davon und den nächsten Bergen zu. Dort hielt ich mich versteckt, bis meine Peiniger aus der Nachbarschaft verschwunden waren. Eine neue Karawane zog vorüber, aber ich wagte nicht, zu ihr zu gehen. Ich glaubte, die bei derselben befindlichen Menschen würden nicht besser sein, als die anderen. Wer hätte mir getraut, wenn ich meine Erlebnisse erzählte? Und doch konnte ich nicht allein in dieser Wildnis bleiben. Ich mußte verhungern, verdursten. Da hoffte ich, mit braunen Menschen zusammen zu treffen, die vielleicht Mitleid mit mir haben würden, wenn ich ihnen meine Zauberkünste zeigte. Ich ging also den Weg zurück, den ich gekommen war. Dabei quälte mich der schrecklichste Hunger; denn die Wurzeln, die ich ausgrub und verzehrte, halfen mir nicht mehr, als daß ich gerade das Leben behielt. Um nicht zu verdursten, blieb ich in der Nähe des Flusses; da konnte ich mich verbergen, wenn Menschen sich näherten, denen ich nicht traute. Doch Menschen und Wagen erschienen nicht mehr. Die letzten Leute sah ich gestern. Ein Weib war's und ein Mann. Die ritten in großer Eile –«
»Daß sie in ihrer Eile das Genick brechen möchten,« warf Gregor zähneknirschend ein, »denn meine Pferde ritten sie, und was sie sonst noch mit sich führten hatten sie mir gestohlen.«
»Sie lachten und sangen,« erzählte Tsung-Tsang lebhaft weiter, »und auch vor ihnen fürchtete ich mich, so daß ich bis zum Einbruch der Dunkelheit mein Versteck in dem Flußbett nicht verließ. Dann setzte ich meine Wanderung fort Schritt für Schritt die ganze Nacht hindurch, und als es wieder Tag wurde, sah ich einen toten Büffel vor mir, an dem die Wölfe herumzerrten, und dahinter einen Wagen. Wiederum ergriff mich Angst. Doch der Hunger war so groß, daß ich's nicht länger ertragen konnte. Was auch daraus werden mochte, ich mußte essen. Ich schlich nach dem Büffel hin, von dem die Wölfe bei meiner Annäherung zurückwichen, und wie die Tiere zuvor getan hatten, nagte ich an den rohen Fleischresten und trank dazu aus dem Flusse. Als ich Ihrer ansichtig wurde, glaubte ich abermals, es sei zu Ende mit mir. Sie aber sind ein guter Mann. Freundliche Worte sprechen Sie zu mir, dafür will ich Ihnen als Knecht treu dienen.«
Georg blieb stehen. Eine kurze Strecke trennte sie nur noch von dem Wagen, von dem er in der letzten Zeit kaum einen Blick gewendet hatte.
»Wenn du hältst, was du versprichst,« kehrte er sich dem Chinesen zu, »so betrachte ich mein Zusammentreffen mit dir als ein Glück. Einzeln geht jeder von uns in dieser Einöde zugrunde. Bleiben wir dagegen beisammen, so mögen wir die ersten kalifornischen Ansiedelungen noch vor dem Hereinbrechen des Winters erreichen. Jetzt beantworte mir zunächst eine Frage: Verstehst du ein kleines Kind zu pflegen, daß es mir erhalten bleibt?«
»Ich verstehe alles,« antwortete Tsung-Tsang, »geben Sie mir die geringsten Mittel, und ich pflege Ihr Kind, wie ich's einst mit meinen jüngeren Geschwistern getan habe.«
»Ich glaube dir. Nun komm; nimm dich des Kindes an, als ob es dein eigenes wäre, und es soll dir nicht unbelohnt bleiben. Vorher aber müssen wir gemeinschaftlich ein traurig Stück Arbeit verrichten.«
Mit den letzten Worten setzte er sich so schnell in Bewegung, daß der Chinese nicht gleichen Schritt mit ihm zu halten vermochte und erst etwas später vor dem Zeltdach eintraf.
»Sieh her, Tsung-Tsang,« redete Gregor ihn alsbald an, »da liegt die Mutter neben ihrem Kinde. Beide schlafen, die Mutter, um nie, nie wieder zu erwachen. Zuvor wirst du dich ein wenig durch Speise und Trank kräftigen; nachher hilfst du mir, die arme Verstorbene sanft in die Erde legen. Schaufel und Hacke befinden sich im Wagen, da wollen wir tun, was unsere Pflicht ist.«
Tsung-Tsang stand da und starrte regungslos auf die Tote nieder. Ihr stilles, noch immer liebliches, marmorbleiches Antlitz, zumal im Gegensatz zu dem rosigen Gesichtchen der schlummernden Kleinen, übte sichtbar einen tiefen Eindruck auf ihn aus. So verrann eine Minute in Schweigen; dann ergriff er zutraulich Gregors Hand.
»Ich habe genug da hinten gegessen,« sprach er traurig, »jetzt kann ich arbeiten; geben Sie mir die Geräte –«
»Recht so,« unterbrach Gregor ihn bewegt, »du bist ein braver Mann, und gehst du gleich ans Werk, ist's um so besser. Denn Zeit verlieren dürfen wir nicht. Jede verlorene Stunde kann verhängnisvoll für uns alle werden. Komm, wir wollen die Geräte hervorsuchen, und getreulich wechseln wir ab. Während der eine schaufelt, beschäftigt der andere sich hier und vor dem Feuer –«
Das Weinen des plötzlich erwachten Kindes unterbrach ihn. Als er es emporheben wollte, kam Tsung-Tsang ihm zuvor, und mit stiller Freude beobachtete Gregor, wie derselbe die Kleine auf den Arm nahm und durch Worte und Bewegungen leicht beruhigte. Ohne Säumen begaben sie sich nach dem Feuer hinüber, und Gregors Hoffnung, seinen Schützling am Leben zu erhalten, wuchs in demselben Maße, in dem Tsung-Tsang sich mehr und mehr als seiner Aufgabe gewachsen auswies. Alles ging ihm von Händen, als ob er sich in seinem Element befunden habe, und eine Freude verriet der seltsame Bursche an dem zarten jungen Leben, daß es Gregor tief rührte. Schien er doch alle Leiden, Entbehrungen und Verluste vergessen zu haben, so eifrig war er bestrebt, dem kleinen blauäugigen Antlitz ein Lächeln zu entlocken.
Eine Stunde war verronnen. Die Kleine saß auf einem von Decken hergestellten Lager und vergnügte sich mit bunten Kieseln. Die beiden neuen Gefährten hatten ihr Frühmahl beendigt und schickten sich an, ein Werk zu beginnen, dessen Gregor fortgesetzt wie einer ihn erdrückenden Last gedachte. Etwa zwanzig Ellen vom Uferrande steckte er eine Fläche ab, auf der Tsung-Tsang ohne Zeitverlust mit der seiner Rasse eigentümlichen Geschäftigkeit die Erde auszuheben begann.
Gregor begab sich unterdessen zu der Toten hinüber. Lange kniete er neben ihr unter dem Zeltdach, die Blicke starr auf das bleiche Antlitz gerichtet; Träne auf Träne rann über seine gebräunten Wangen.
Mit verschränkten Armen trat er dann vor das spielende Kind hin und düsteren Blickes betrachtete er es. Erst als Thusnelda lächelnd zu ihm emporsah, glitt es wie ein Abglanz herzlichen Wohlwollens über seine ernsten Züge. Er bückte sich, und mit der Hand über die feinen weißlichen Locken hinstreichend, sprach er wie unbewußt: »Du gehörst jetzt mir allein. Wir trennen uns nicht mehr voneinander.«
Lallend verriet die liebliche Kleine ihre Zuneigung zu ihm. Leise klopfte er ihre rosigen Wangen und festen Schrittes begab er sich zu Tsung-Tsang hinüber, der sich bereits bis über die Knie in das nachgiebige Erdreich hineingearbeitet hatte.
Schweigend beteiligte er sich an dem Werk. Eine Stunde und länger schafften beide unermüdlich. Erst nachdem sie auf dem einen Ende der Gruft Stufen ausgestochen hatten, um das Hinabtragen der stillen Schläferin zu erleichtern, verließen sie die Tiefe.
Sie legten die Tote auf eine Decke, und behutsam, wie um eine Schlummernde nicht zu wecken, betteten sie Edith in ihr einsames Grab.
Als Gregor noch mit Widerstreben der Aufgabe gedachte, sie mit Erde zu überschütten, eilte Tsung-Tsang in das Flußbett hinab, wo hier und da Weidengestrüpp aus dem Ufer hervorwucherte. Von diesem schnitt er, was ihm erreichbar, ab, und die schwanken, mit herbstlich gefärbtem Laub behangenen Zweige nach dem Grabe hinübertragend, bedeckte er die Tote mit einer schützenden Lage. Sanft ließen sie nunmehr die Erde auf die Entschlafene niederrieseln. Auf die erste mäßig starke Sandschicht folgten wieder Zweige und alles am Wagen entbehrliche Holzwerk. Zwischen dieses wurde eine Anzahl aus dem Flußbett herbeigeschaffter Steine festgeklemmt, um den Wölfen das Scharren unmöglich zu machen, dann erst füllten sie die Grube vollständig aus. Den sich über derselben wölbenden Hügel belegten sie mit Rasen. Auf ein dem Wagen entnommenes Brett schnitzte Gregor den Namen und Sterbetag der Toten, und das befestigte er ihr zu Häupten in der Erde.
Die Mittagsstunde war unterdessen verstrichen und westlich neigte sich die Sonne. Während Gregor ans Werk ging, den Wagen zur Weiterreise herzurichten, beschäftigte Tsung-Tsang sich damit, den vorhandenen Fleischvorrat in schmale Streifen zu schneiden und zum Dörren an das Leinwandverdeck zu befestigen. Was irgend entbehrlich, wurde, um den Wagen zu erleichtern, entfernt, und als die Sonne in die Scott-Bluffs hinabtauchte, da meinten die beiden Gefährten, alle Vorkehrungen getroffen zu haben, um mit Zuversicht die Weiterreise anzutreten zu können.
Bei Tagesanbruch spannten sie die Pferde ein. Einen letzten langen Blick senkte Gregor auf den einsamen Grabhügel; dann ergriff er die Zügel, zugleich lehnten die Pferde sich in die Geschirre. Wie er, schritt auch der Chinese neben dem Wagen einher, abwechselnd die kleine Waise tragend, oder sie unter dem aufgeschürzten Verdeck hindurch mit erheiternden Spielereien in guter Laune erhaltend.
Eine halbe Stunde waren sie gewandert, als sie eine sanfte Bodenerhebung überschritten. Auf deren höchsten Punkt hielt Gregor die Pferde an. Schwermütig blickte er östlich.
Tsung-Tsang war neben ihn hingetreten. Als er gewahrte, daß Gregors Blick sich allmählich verfinsterte, wies er mit dem ausgestreckten Arm gen Osten.
»Der eine schläft in der Prärie, der andere im Gebirge, mancher auf dem Boden des Meeres,« sprach er zutraulich. »Ruhen sie da schlechter, als in einem Garten? Meine Gebeine möchte ich freilich – wenn es irgend angeht – im Reich der Mitte begraben lassen, so erheischt es die Sitte. Wenn ich gestorben bin, verscharren Sie mich indes, wo es Ihnen gefällt; bei dem Kinde bleibe ich, solange ich atme.«
Gregor sah durchdringend in des wunderlichen Burschen zwinkernde Schlitzaugen und erwiderte ernst: »Auch ich mag sterben. Was aus meinem Körper wird, kümmert mich wenig. Das Kind aber sollst du nicht von dir lassen, bis es mit eigenem Willen von dannen geht.«
Er blickte wieder nach dem Grabe hinüber. Wie unbewußt zog er seinen Hut.
»Schlafe wohl, Edith,« sprach er mit bebenden Lippen, »dein Kind ist mein Eigentum geworden. Mein Wünschen und Hoffen steht hinter dessen Wohlfahrt zurück.«
Wie zum Gelöbnis reichte er dem Chinesen die Hand und hastig griff er zu Zügel und Peitsche. Westlich stand sein Sinn; westlich über alle Fährnisse hinweg; bis der Ozean ihm endlich Halt gebot.