Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Grün schimmert die weite Ebene zwischen der Sierra Nevada und den kalifornischen Küstengebirgen; blau wölbt der wolkenlose Himmel sich darüber hin; es zittert die Atmosphäre unter dem Einfluß der goldig herniederstrahlenden Sonne. Hier und da tritt ein Hain in den Gesichtskreis; scheinbar ein Hain, denn in Wirklichkeit drängen sich daselbst Obstbäume in umfangreichen Gärten zusammen und bilden eine Art Vorhang. So auch vor der Hazienda des begüterten Don Cristobal. Zu Hunderten und Tausenden werden Rinder, Pferde und Schafe nach allen Richtungen, umschwärmt von berittenen Vaqueros, in der Faust, statt der Peitsche, den zusammengerollten wurfbereiten Lasso. – – –
Rechts von der Hazienda, einsam im Schatten dicht belaubter und mit Früchten beladener Bäume lag ein schmuckes Häuschen. Heute, an dem echt kalifornischen prächtigen Spätsommernachmittage, standen Tür und Fenster offen, so daß man von draußen beinahe die ganze Wohnung zu überblicken vermochte. Aus einem größeren Zimmer bestand sie und zwei kleineren Nebengemächern. Als Küche diente eine Art Kamin zur ebenen Erde in ersterem, der zur rauhen Winterszeit zugleich zum Heizen benutzt wurde. Trotz der einfach weißgekalkten Wände und des tennenartig hergestellten Fußbodens herrschte eine gewisse behagliche Üppigkeit in allen Räumen. Teppiche, wenn auch von weniger kostbarem Gewebe, bedeckten den harten Estrich, bunt überzogene Matratzen mit zusammengerollten, farbenreichen mexikanischen Decken vertraten nach alter kalifornischer Sitte Sofa und Bett. Was sonst noch an Möbeln vorhanden, war ziemlich einfach von rohem Holz hergestellt worden, so ein großer Tisch, mehrere Stühle, Schemel und Bänke, wie ein offenes Gerüst, welches als Schrank und Vorratskiste benutzt wurde. Nur das kleine Nebengemach, in das man vom Wohnzimmer aus unter zwei aufgeschürzten bunten Decken hindurch sah, hatte eine andere Ausstattung erhalten. Da erblickte man zunächst zwei zierliche, schwarzlackierte und mit Bronzemalerei geschmückte Rohrstühle, einen ähnlich gearbeiteten Wiegenstuhl, einen nicht allzu hohen polierten Tisch und ein Schränkchen, das in ihrem Boudoir aufzustellen eine Senatorstochter sich nicht hätte zu schämen brauchen. Wer aber in das luftige Gemach eintrat, der wurde noch besonders überrascht durch den Anblick eines kleinen Bettes, das eigens für eine Märchenprinzessin hergestellt zu sein schien. Außerdem stand in dem einen Winkel ein sinnig zusammengefügtes schlankes Gerüst, das eine Anzahl seidener und wollener Kleider mit reichem Besatz trug, augenscheinlich für ein Mädchen von fünf bis sechs Jahren berechnet. Auf eine so jugendliche Bewohnerin deuteten auch die Spielereien, die peinlich geordnet auf einer fein gewebten Strohmatte umherstanden und durchgängig von der Kunstfertigkeit und der eigentümlichen Geschmacksrichtung der schlitzäugigen »Kinder des himmlischen Reiches der Mitte« zeugten. –
Die erste Hälfte des Nachmittags war verstrichen, und wer sich um diese Zeit dem Häuschen genähert hätte, der wäre vielleicht überrascht gewesen durch den Kontrast, den zwei aus dem Inneren ins Freie herausdringende Stimmen zueinander bildeten. Die eine, abwechselnd gurgelnd und krächzend, schien zuweilen vor lauter Wohlwollen ganz ersticken zu wollen, wogegen die andere, fein und silberhell, den Mutwillen und die glückliche, fröhliche Sorglosigkeit eines verzogenen Kindes verriet. Wer noch näher heranschlich, würde in erhöhtem Grade erstaunt gewesen sein über die seltsame Szene, die sich durch die offene Tür den Blicken bot.
Vor dem Tisch auf der Bank kniete ein wunderliebliches Kind, die kleine Bewohnerin des übermäßig verschwenderisch ausgestatteten Nebengemachs. Ein hellblau wollenes Kleidchen mit rotem Schnurbesatz umhüllte den kleinen Körper, daß die runden Arme bis fast zu den Schultern, die nicht minder runden Beinchen bis zu den Knien hinauf unbedeckt blieben. Die zierlichen Füße steckten in Schuhen von feinem bronzeglänzenden Saffian. Vor der Kleinen auf dem Tisch lag eine Anhäufung steifer Karten, deren jede mit einem kräftig gemalten Buchstaben versehen war. Zwischen diesen störten und suchten die runden Händchen eifrig, während derselbe Eifer aus den sich rastlos regenden Augen hervorleuchtete.
Der Kleinen gegenüber saß eine mittelgroße behäbige Gestalt, die man auch ohne die runde Filzmütze, den weiten Kittel von blauem Baumwollstoff, die dicksohligen Atlasschuhe und den beinah zwei Ellen langen Zopf als einen Sohn des himmlischen Reiches erkannt hätte, so scharf war in dem gelben, breiten Gesicht der mongolische Schnitt ausgeprägt. Auch er war emsig beschäftigt, und zwar mit Nadel und Faden, aus rot- und blaugestreifter Seide ein neues Kleid für den kleinen munteren Hausgeist anzufertigen.
»Fertig!« rief die kleine seidenlockige Gelehrte nach einer längeren Pause der Stille aus, und sich zurücklehnend, betrachtete sie ihr Werk mit großer Befriedigung, »sieh zu, ob es richtig ist.«
Gehorsam lehnte der Chinese sich über den Tisch und las gutmütig lächelnd: »Singsang ist schön.«
»Gut,« fügte er sprechend hinzu, »wenn wir so fortfahren, schreiben und lesen wir beide bald besser als ein Advokat. Jetzt lege einmal deinen eigenen Namen.«
Es folgte wieder eine Pause der Stille. Die kleinen Hände suchten und ordneten, die großen stichelten aus Leibeskräften, und abermals hieß es: »Fertig,« woran sich ein tiefer Seufzer der Überanstrengung schloß.
»Thusnelda ist häßlich,« las Singsang, in welche Form der edle Name Tsung-Tsang durch des Kindes Machtspruch entstellt worden war. Ergötzt schüttelte er sein weises Haupt und riet schmeichelnd: »Nunmehr lege den Namen unseres allerbesten Freundes.«
»Ich soll mich tot arbeiten?« fragte Thusnelda lustig. »Nichts da, Singsang; jetzt wird gespielt. Wir wollen Kunststücke machen.«
Singsang sah entzückt über die Brille hinweg auf das liebliche Kind, schraubte die schmalen schwarzen Brauen hoch nach der Stirn hinauf und antwortete mit erheucheltem Ernst: »Nein, Thusnelda, das geht nicht. Gregor hat es verboten, da müssen wir gehorchen. Er sagt, du dürftest keine Seiltänzerin werden.«
»Singsang, es werden Kunststücke gemacht; Gregor ist nicht da,« erklärte Thusnelda eigenwillig.
»Wenn er nicht da ist, dürfen wir es um so weniger,« belehrte Singsang bittend.
»Unsinn. Wenn ich es ihm erzähle, lacht er. Gregor schilt mich noch lange nicht. Entweder wir machen jetzt Kunststücke oder ich warte, bis du schläfst und schneide dir den Zopf ab. Es ist überhaupt ein falscher Zopf. Nicht halb so lang wäre er, hättest du nicht die schwarzen Seidenfäden eingeflochten.«
Singsang lachte in sich hinein, daß der ganze behäbige Körper wackelte, und antwortete, ohne die Blicke zu erheben, über die regsamen Hände hinweg: »Und schnittest du mir zwei Zöpfe ab, so handelte ich dem Befehl Gregors nicht entgegen.«
Wie eine Wiesel glitt Thusnelda von der Bank, und auf Singsangs Schoß kletternd, legte sie den einen Arm um seinen Nacken, und sein rundes dickes Haupt an sich ziehend, streichelte sie ihm mit der freien Hand zärtlich die Wange.
»Lieber, guter, schöner Singsang, ich bitte dich so sehr, tu mir den Gefallen und mache Kunststücke mit mir,« flehte sie mit ihrer süßen Stimme.
»Ich kann nicht, ich darf nicht,« röchelte Singsang förmlich vor Behagen.
»Ist das dein letztes Wort?«
»Mein allerletztes Wort.«
»Singsang, du bist häßlich, du bist ein Scheusal, und tust dennoch, was ich dir anbefehle,« erklärte Thusnelda trotzig, indem sie von des alten Burschen Schoß sprang. Schnell glitt sie hinter ihn, und in die Falten seines Kaftans greifend und die Stuhllehne als Leiter benutzend, kletterte sie gewandt auf seinen Rücken, wodurch Singsang gezwungen wurde, mit wahrhafter Duldermiene die Arbeit einzustellen. Gleich darauf stand sie auf seinen Schultern.
»Willst du jetzt Kunststücke mit mir machen?« fragte sie drohend, und herausfordernd verschränkte sie die Arme.
»Komm herunter, liebes Kind, komm herunter. Bedenke nur, wenn du fielest,« bat Singsang kläglich.
»Ja, fallen, Singsang. Versprich jetzt, meinen Willen zu tun, oder ich falle wirklich und schlage mir ein großes blutiges Loch mitten auf der Stirn.«
»Nun ja denn, ich verspreche es,« beteuerte Singsang in seiner Not, denn schon allein der Gedanke an die Möglichkeit einer Verwundung seines Lieblings erfüllte ihn mit Entsetzen.
Er legte die Arbeit vor sich auf den Tisch, und wiederum die Arme nach oben streckend, wartete er, bis Thusnelda seine Hände ergriffen hatte, und auf ein Zeichen von ihm sprang sie auf seine Knie.
»So,« meinte er mit einem Seufzer, »wenn Gregor böse wird, ist's nicht meine Schuld.«
»Haha!« spöttelte Thusnelda lustig, »Gregor tut mir nichts. Der kann mich nicht einmal böse ansehen.«
»Dir schadet's nichts, lieber schöner Singsang.«
»So wollen wir wenigstens zuvor dies neue prachtvolle Kleid anpassen, auch dein Haar ein wenig kämmen.«
»Nichts da, Singsang. Du willst nur, ich soll darüber die Kunststücke vergessen. Vielleicht nachher, wenn wir uns müde gespielt haben.«
Singsang erhob sich. Bedächtig legte er die schweren Schuhe ab, daß er in seinen blauen Leinwandstrümpfen dastand. Thusnelda hatte unterdessen nicht nur die Schuhe ausgezogen und in verschiedene Richtungen davon geschleudert, sondern auch die kurzen roten Strümpfe, und leuchtenden Blickes überwachte sie, wie Singsang sich niederlegte und, die Ellenbogen auf den Fußboden stützend, die Unterarme emporhielt. Gewandt den linken Fuß in die nächste offene Hand stellend, gab sie sich einen Schwung, und mit einem lustigen Ausruf den rechten nach sich ziehend, fand sie für denselben auf der anderen Seite einen ähnlichen Halt.
Lachend und jubelnd duldete sie, daß Singsang die Arme nunmehr ganz nach oben ausstreckte, sie hinauf und hinunter wiegte und schließlich ihr gestattete, das Gewicht des Körpers dem einen Fuß allein anzuvertrauen. Dabei lobte er den kleinen Wagehals über die Maßen und belehrte ihn, daß, wenn er das Gleichgewicht verlieren sollte, er sich nur fallen zu lassen brauche, um von ihm sanft aufgefangen zu werden.
Nach diesen Vorübungen streckte er auch die Füße empor, sie den Händen so weit nähernd, daß Thusnelda, wie auf einer Brücke, im Kreise herumzuschreiten vermochte. Hin und wieder schwankte sie wohl ein wenig, dagegen besaß Singsang eine solche Sicherheit der Bewegungen, daß sie mit seiner Hilfe das Gleichgewicht schnell wieder zurückgewann und die eigene Kunstfertigkeit jubelnd pries.
Die erste Übung schloß damit ab, daß Singsang, die kleinen Füße in den Händen, die Arme nach oben lang ausstreckte, sich zunächst in eine sitzende Stellung emporrichtete und endlich ganz erhob. Ein Weilchen gönnte er der Kleinen die Freude, die Zimmerdecke zu betasten. Dann ließ er sie plötzlich vor sich niedergleiten, um sie in seiner Brusthöhe wieder aufzufangen, und im nächsten Augenblick hing sie an seinem Halse, das gelbe Mongolengesicht küssend und klopfend und ihren Singsang den schönsten Mann der Welt nennend, daß dem alten Burschen die Tränen der Rührung in die Augen drangen.
Doch die Kleine war unermüdlich. Kaum daß sie Singsang Zeit gab, ihre wirren Locken zu kämmen, zu bürsten und mit einem hellblau seidenen Band zu umschlingen.
Gregor, der eigentliche Hausherr, befand sich um diese Zeit noch eine Strecke abwärts. Mit Cristobal, seinem Brotherrn, und gefolgt von einigen Arrieros, war er gleich nach dem Mittagessen fortgeritten, um eine Anzahl Pferde in Augenschein zu nehmen, die man in eine Einfriedigung getrieben hatte. Unter diesen befand sich ein dunkelbrauner fünfjähriger Hengst von hervorragender Kraft und Schönheit, der weder Sattel noch Zaum jemals getragen hatte. Ohne Brandzeichen, also herrenlos, wild bis zur Bosheit und Tücke und mißtrauisch gegen jeden Menschen, namentlich berittene, weilte er in dem weiten Tale bald bei dieser, bald bei jener Herde. Seine Freiheit zu bewahren kostete ihn bei seiner Schnelligkeit und dem nie schlummernden Argwohn kaum noch Anstrengung, zumal man längst für vergebliche Mühe hielt, die so oft fehlgeschlagenen Versuche, seiner habhaft zu werden, zu erneuern. Als aber die Kunde auf der Hazienda eintraf, daß er unbedachtsam, vielleicht auch in einem instinktartigen Gefühl seiner Unantastbarkeit, mit anderen Pferden in den Korral, eine hohe, widerstandsfähige Umzäunung, gegangen, die alsbald hinter ihm geschlossen wurde, packte Cristobal und Gregor eine Art Fieber. Nach kurzer Beratung kamen sie überein, alles mögliche aufzubieten, das ebenso berüchtigte wie schöne Tier in ihre Gewalt zu bringen.
Der Reichtum Cristobals verriet sich schon allein in den großen kostbaren Pferden, die seine Begleiter sowohl, wie er selber ritten. Trotzdem verschwand er fast mit seiner kurzen Gestalt neben Gregor, der auch im gemächlichen Schritt auf seinem Renner saß, als ob er mit ihm verwachsen gewesen wäre. Überhaupt hätte schwerlich jemand in ihm den lang aufgeschossenen knochigen Burschen wiedererkannt, der vor fünf Jahren in der Prärie, nach Entdeckung des Todes seiner geliebten Verwandten, trostlos und verzweifelnd in die Zukunft schaute. Ein Mann war er geworden von tadellos schönem Körperbau. Jede Muskel an ihm, jede Bewegung verriet ungewöhnliche Kraft und Gewandtheit. Sein von halblangen dunkelbraunen Locken umwalltes und von einem breitrandigen schwarzen Sombrero überschattetes Antlitz war von auffallender Schönheit, die durch den Sonnenbrand und den noch jugendlich weichen dunklen Vollbart einen erhöhten Charakter des Männlichen erhielt.
Sie waren in der Nachbarschaft des von Vaqueros bewachten Pferchs eingetroffen, als Cristobal eine Unterhaltung anknüpfte.
»Gregor,« begann er schmeichelnd, »der Hengst ist ein Pferd, das ich zum eigenen Gebrauch in meinem Stalle haben möchte; gelingt es Ihnen, den Burschen zu bändigen und reitfromm zu machen, trägt's Ihnen fünfzig Dollars ein.«
»Um Geld verkaufe ich mein Leben nicht,« antwortete Gregor ruhig; »ich stehe bei Ihnen in Lohn und Brot, das genügt. Sie wünschen, den Hengst gebrochen zu sehen, da ist es meine Pflicht, den Versuch zu wagen. Es wäre ja nicht der erste, den ich bemeisterte. Freilich, ein Satan von seiner Sorte ist mir noch nicht unter die Hände gekommen.«
»So wäre es vielleicht ratsam, ganz davon abzustehen?« meinte der Haziendero gutmütig. »Caramba, so viel liegt mir nicht an der Bestie, daß ich deshalb das Leben des ersten Reiters Kaliforniens aufs Spiel setzen möchte.«
In Gregors Augen leuchtete es geheimnisvoll auf. Es war wie das Zucken eines Blitzes.
»Sennor,« erwiderte er etwas lebhafter, »Sie wissen, Pferde liebe ich über alles. Seit meiner Kindheit bin ich mit ihnen verbrüdert gewesen. Ich lernte beinahe früher reiten, als gehen. Meine Neigung zu den Pferden wuchs in demselben Maße, in dem ich selber reifte und erstarkte, in demselben Maße, in dem man mich davon abzubringen suchte. Ich kenne keinen höheren Genuß, als ein edles Tier, das mir an Kräften weit überlegen, in meinen Sklaven zu verwandeln. Um solchen Genuß rechte ich nicht mit ein wenig Gefahr. Trifft mich ein Unglück,« und um seine Lippen zuckte leiser Spott, »so werden Sie sich des Kindes annehmen, es jedoch nie von meinem Singsang trennen.«
»Das geschieht, ja, das geschieht,« beteuerte der Kalifornier eifrig; »Caramba, schon allein um des lieblichen Mädchens selber willen möchte ich es in meine Familie aufnehmen. Aber noch einmal, Gregor, besinnen Sie sich –«
»Was ich mir einmal vorgenommen habe, führe ich aus,« fiel Gregor gelassen ein, »ich will entweder der Erste sein in meinem Fach, oder gar nichts.«
»Sie hätten statt des schweren spanischen Sattels einen englischen mitnehmen sollen. Sie kommen leichter heraus, wenn es zum Stürzen und Überschlagen kommt.«
»Auch ein englischer hindert mich noch. Der glatte Pferderücken bleibt am sichersten.«
Der Pferch lag vor ihnen. Cristobal und Gregor schwangen sich aus den Sätteln und überließen ihre Pferde einem herbeieilenden Vaquero. Vier Arrieros hatten unterdessen ihre Stellung vor dem Ausgange des Pferchs eingenommen, und zwar auf jeder Seite zwei in angemessener Entfernung voneinander, so daß die freigegebene Herde zwischen ihnen hindurch mußte. Jetzt waren sie damit beschäftigt, die Lassos vom Sattelknopf zu lösen und mit einer und einer halben Windung in der rechten Faust zu ordnen.
Gregor lehnte sich mit Armen und Kopf auf das oberste Riegel der Einfriedigung. Aufmerksam betrachtete er den berüchtigten Hengst, der, wie in Vorahnung ihm drohender Freiheitsentziehung, Kopf und Schweif erhoben, in einem eigentümlich federnden langsamen Trab zwischen den anderen Pferden unruhig umherstreifte und den heißen Atem schnaubend von sich stieß. Ein schönes, ein edles Geschöpf; aber aus seinen großen klaren Augen funkelte es wie aus denen eines Raubtiers, das sich von den Jägern eingekreist sieht. Doch auch Gregors Augen hatten plötzlich einen anderen Ausdruck angenommen. Indem er jede einzelne Bewegung des stolzen Tieres scharf überwachte, wie um aus denselben Schlüsse auf dessen Gemütsart zu ziehen, glühten sie förmlich in Begeisterung.
»Ich denke, es wird gehen,« sprach er nach einer langen Pause zu dem neben ihm stehenden Cristobal, und etwas heiser klang seine Stimme vor Erregung. Dann entledigte er sich der Jacke, der weiten Calzoneros oder Reitbeinkleider und Schnallsporen nebst Stiefeln, worauf er weiche Mokassins anlegte und gamaschenartig geformte steife Leder um die Unterschenkel befestigte. Ebenso entkleidete er sich des Hutes, an dessen Stelle ein Tuch fest um seinen Kopf windend. Im übrigen bestand seine Ausrüstung nur aus einer vom rechten Handgelenk niederhängenden kurzen, aber scharfen Geißel von geflochtenem Rohleder; ferner aus einem einfachen Kandarenzaum, dessen Gebiß nach innen zu mit einer runden Eisenplatte versehen war, darauf berechnet, beim Anholen der Zügel den Gaumen schmerzhaft zu pressen und den Rachen des Pferdes aufzusperren. Einen letzten prüfenden Blick warf er auf den Hengst, und sich den Arrieros zukehrend, erklärte er, bereit zu sein.
Alsbald entfernten die Vaqueros die Schutzwehr vor dem Eingang des Korrals, wogegen die Arrieros ihre Pferde etwas weiter zurückdrängten und die Schleifen der Lassos durch langsame Schwingungen in Kreisform öffneten. Auf ein Zeichen Cristobals überstiegen einige Vaqueros auf der entgegengesetzten Seite die Einfriedigung und trieben mit Peitschengeknall und Schreien die Herde dem Ausgange zu.
Einige alte Stuten verließen den Pferch gemächlich. Gleich darauf folgten die übrigen Pferde in schärferer Gangart; doch in der Erwartung, den Hengst sich gewaltsam zwischen sie drängen und den Arrieros Gelegenheit geben zu sehen, die Lassos um sein erhobenes Haupt zu werfen, fand man sich getäuscht. Selbst nachdem die letzten Nachzügler ins Freie galoppiert waren, trabte er noch immer wild schnaubend und Hals und Kopf bald rechts, bald links herumwerfend auf dem nunmehr leeren Platze umher. Plötzlich aber wirbelte er blitzschnell auf derselben Stelle herum, und in der nächsten Sekunde stürmte er mit langen Sätzen aus der Einfriedigung und zwischen den Arrieros hindurch. Zugleich aber legte sich von jeder Seite eine mit unglaublicher Sicherheit geworfene Schlinge um seinen Hals. Um indessen den schweren Stoß, der dem Tier das Genick ausrenken konnte, zu mäßigen, folgten die beiden Reiter eine kurze Strecke nach, und das lose Ende des Lassos um den Sattelknopf windend, gelang es ihnen leicht, den sich hoch aufbäumenden Gefangenen zu Boden zu werfen. Noch einmal raffte er sich empor. Wild schlug er um sich, und gerade diese vorhergesehene Gelegenheit benutzten die beiden anderen Arrieros, durch geschickte Würfe der Lassos auch seine Hufe zu fesseln. Krachend stürzte er zu Boden. Doch auch jetzt noch kämpfte das entsetzte Tier mit aller Macht um seine Freiheit; allein indem die Pferde der Arrieros sich mit voller Wucht in die straffen Lassos lehnten, erlahmte seine letzte Kraft schnell, bis es endlich im Gefühl des Erstickens wie verendend dalag.
Jetzt erst trat Gregor vor den angstvoll keuchenden und röchelnden Gefangenen hin. Wiederholt strich er ihm mit der Hand über Stirn, Augen und Nüstern, seine Berührungen mit besänftigenden Worten und Tönen begleitend. Zugleich lockerte er die ihm die Luftröhre zuschnürenden Schlingen, worauf er aus dem Mähnhaar dicht vor dem Widerrist zwei starke Flechten wand und durch deren Vereinigung eine feste, schleifenähnliche Handhabe herstellte. Ihm den Zaum überzustreifen, kostete jetzt kaum noch Mühe. Ebenso gelang es leicht, die Lassos zu öffnen und ganz zurückzuziehen. Trotzdem rührte er sich nicht. Betäubung schien sich seiner bemächtigt zu haben. Gewaltig schlugen seine Seiten, aber freier und voller entwand der Atem sich wieder den gespreizten Nüstern. Alle, die bisher mit ihm beschäftigt gewesen, hatten sich zurückgezogen. Nur Gregor stand gebückt neben ihm, in beiden Fäusten die Zügel zusammen mit der Mähnhaarschleife, und seinen Kopf scharf überwachend. Mit atemloser Spannung beobachteten ihn Cristobal und dessen Leute. Keiner wagte einen Laut von sich zu geben, aus Besorgnis, des jungen Pferdebändigers mit sichtbarer Überlegung eingeleitetes Verfahren störend zu durchkreuzen. Dieser ließ unterdessen fortgesetzt seine besänftigende Stimme ertönen, jedoch ohne sichtbare Wirkung. Sobald er aber, um ihn zu ermuntern, mit der Fußspitze des Hengstes Kreuz berührte, sprang dieser, wie von einer Bogensehne geschnellt, empor, und was sich nunmehr entwickelte, spann sich mit einer solchen Schnelligkeit ab, daß die Augen kaum noch die einzelnen Bewegungen zu verfolgen vermochten. Wie Gregor auf den Rücken des Pferdes gelangte, war nicht zu unterscheiden gewesen. Man gewahrte eben nur, als dasselbe sich aufbäumte und mit einem mächtigen Satze nach vorn schoß, daß er oben saß. Nach diesem ersten Sprunge stand es indessen wieder wie festgewurzelt. Am ganzen Körper zitternd und wütend auf die Kandare beißend, schien es zu überlegen, wie es der ungewohnten Last sich entledigen könne. Plötzlich aber verfiel es in förmliche Raserei. Nach hinten und nach vorn schlug es aus; dann folgte wieder Bäumen und Drehen auf derselben Stelle. Bald den einen, bald den anderen Fuß des Reiters suchte es mit den Zähnen zu packen, und als es durch das Zaumeisen daran gehindert wurde, warf es sich mit vollster Wucht zur Erde. Doch ebenso schnell stand Gregor auf der gegen die Hufe geschützten Seite, in beiden Händen wieder die Mähnhaarschleife. Indem aber der Hengst, wähnend seine Last abgeworfen zu haben, wieder emporsprang und zu wilder Flucht ansetzte, sah man Gregor eine Sekunde fast horizontal oberhalb seines Rückens schweben, und sich gleichzeitig ähnlich einem Panther, der in genau berechnetem Sprunge seine Beute erreichte, an ihn anzuschmiegen.
»Caramba!« kehrte Cristobal sich seinen Leuten zu, die dem davonstürmenden Reiter mit stummer Bewunderung nachsahen, »jetzt hat's keine Not mehr. Der Hengst bricht entweder tot unter ihm zusammen, oder er reitet ihn binnen einer Stunde uns hier im Schritt vor. Ich kenne den Gregor. Hätte es nimmer geglaubt, was in ihm steckte, als er vor vier Jahren auf der Hazienda vorsprach. Santa Maria! Dergleichen muß angeboren sein. So kann's wenigstens keiner lernen.«
Niemand antwortete, in so hohem Grade fesselte der ebenso verwegene wie gewandte Reiter die allgemeine Aufmerksamkeit. Und der Hengst schien in der Tat mehr einherzufliegen, als den Erdboden mit den Hufen zu berühren. Dabei gewahrte man, daß Gregor hin und wieder die Peitsche schwang, offenbar um dadurch die gänzliche Erschöpfung des geängstigten Tieres zu beschleunigen. Bald zwischen auseinanderstäubenden Rinderherden, bald zwischen weidenden Pferden hindurch ging es in rasendem Lauf, und immer wieder schwang Gregor seine Geißel, bis Roß und Reiter in der Ferne beinah verschwanden. Endlich aber änderten sie die bisherige Richtung der Flucht, und mit einem Jubelruf begrüßte es Cristobal, als sie dem Gebirge zu einen weiten Bogen beschrieben. Langsamer wurden darauf des abgehetzten Pferdes Bewegungen und schwerfälliger, bis es nur noch einherzuschwanken schien und nach Ablauf einer weiteren halben Stunde zu Cristobals Entzücken im Schritt dem Korral sich näherte. Doch welche Wandlung war mit dem stolzen Tier während dieses Rennens auf Tod und Leben vorgegangen! Es rief den Eindruck hervor, als hätte die letzte Lebenskraft den prachtvollen Körper verlassen gehabt. Triefend, gleichsam in Schweiß gebadet, atmete es wie im Fieber. Weit spreizten sich die Nüstern vor der ihnen entströmenden heißen Luft. Blut mischte sich mit den Schaumflocken, die an den Kandarenbügeln sich immer wieder erneuerten, weit quollen die todesmatt blickenden Augen aus ihren Höhlen hervor.
Gregor, anfänglich kaum minder heftig erregt als das ihn tragende Tier, hatte seine Ruhe bereits zurückgewonnen. Nur tiefer gerötet war sein Antlitz noch; innere Befriedigung prägte sich auf ihm aus, indem er die Bewegungen des Hengstes unablässig überwachte.
Vor Cristobal eingetroffen, sprang er zur Erde. Liebreich sprach er zu dem förmlich stumpf dareinschauenden Tier. In die Nüstern hauchte er ihm zärtlich, über Stirn und Augen strich er wieder, sanft und schmeichelnd klopfte er den schaumbedeckten Hals, als hätte er es für das ihm zugefügte Leid um Verzeihung bitten wollen.
»Wird er's überstehen?« fragte der Haziendero mit unverkennbarer Achtung, während die übrigen Männer ehrerbietig und seiner ferneren Anordnungen harrend zu dem finsteren jungen Zentauren emporsahen.
»Ich hoffe es,« antwortete Gregor ruhig, ohne sich in den Liebkosungen stören zu lassen. »Jetzt mag ihn jeder reiten; ob morgen noch, muß abgewartet werden. Ich selber werde auf alle Fälle mit ihm fertig. Für heute ist mein Werk getan,« und er verneigte sich höflich vor Cristobal.
Dieser drückte ihm die Hand, ihn in seiner Begeisterung mit den zärtlichsten Namen und überschwänglichsten Lobeserhebungen überschüttend. Eine Weile überwachten sie noch gemeinschaftlich die Pflege des sich nur langsam erholenden Hengstes; dann stiegen sie zu Pferde und in langem Galopp ritten sie nach der Hazienda zurück. – – –
Gregor brachte sein Dienstpferd auf der Hazienda unter und begab sich durch die Gärten nach seinem einsam gelegenen Häuschen hinüber. Unter dem Arm trug er ein Paketchen Zeitungen, die Cristobal ihm zuvorkommend mitgegeben hatte. Aus dem Obstgarten tretend, lag sein bescheidener Wohnsitz vor ihm; nur noch wenige Schritte und er unterschied das glückliche Lachen Thusneldas und Singsangs kosende Stimme. Zugleich machte sich auf seinen Zügen eine eigentümliche Wandlung bemerkbar. Der undurchdringliche Ernst milderte sich zur Innigkeit. Wie unbewußt beschleunigte er seine weiteren Bewegungen; vorsichtig aber vermied er, seine Annäherung zu verraten. So gelangte er unbemerkt auf die Vorderseite des Hauses. Dort blieb er stehen und mit herzlichem Wohlwollen überwachte er durch die offene Tür die liebliche Szene, welche sich vor seinen Blicken in dem hellen Zimmer abspann.
Mit der Würde und dem ganzen Stolze eines Mandarins wandelte Singsang langsam im Kreise herum. In der rechten Hand führte er einen Fächer von mäßigem Umfange, mittels dessen er ein halbes Dutzend Papierschmetterlinge in der Schwebe erhielt. Vor ihm bewegte Thusnelda sich mit der natürlichen Anmut einer kleinen Elfe einher. Sie schwang ebenfalls einen Fächer und sandte die von Singsang absichtlich vernachlässigten Papierchen immer wieder hoch empor. Das seidenlockige Haupt in den Nacken geworfen, hatte sie nur Blicke für das lustige Spiel, wogegen Singsang seine Aufmerksamkeit zwischen den Schmetterlingen und der zärtlich geliebten Kleinen teilte, mit überschwänglichen Lobpreisungen die mutwilligen Bemerkungen lohnte, die Thusnelda bald diesem, bald jenem von ihr emporgewirbelten Papierchen nachrief.
Bei diesem Anblick gelangte in Gregors Zügen mehr und mehr ein Ausdruck von Rührung zum Durchbruch; und wer weiß, wie lange er sich an dem freundlichen Bilde ergötzt hätte, wäre nicht eins der Papierchen, von einem unberechneten Luftzuge getroffen, aus seiner Bahn gewichen und seitwärts davongeflogen. Hell auflachend stürmte Thusnelda ihm nach, um es vor dem Niedersinken zu erhaschen; zugleich wurde sie Gregors ansichtig. Ebenso schnell flog der Fächer zur Seite, jubelnd eilte sie auf ihren kleinen nackten Füßen hinaus und im nächsten Augenblick hing sie, von Gregor emporgehoben, an seinem Halse, den Hut von seinem Kopfe werfend, ihn herzend und küssend, und schließlich ihre Hände in seine wilden Locken vergrabend, sie hier und da lang ausreckend.
»Gregor, lieber Gregor, du bist so sehr lange fortgeblieben,« plauderte sie fröhlich, »hättest du nur dein Pferd wieder mitgebracht, um mich reiten zu lassen, ich reite zu gern!« Dann nach der offenen Haustür hinüber: »Singsang, komm schnell hierher! Sieh, wie der Gregor erhitzt ist – schnell, Singsang, gib mir ein Tuch!« und da Singsang sich beeilte, ihren Befehl auszuführen, begab sie sich ans Werk, Gregors feuchte Stirn zu trocknen und im kindlichen Übermut auch die übrigen Teile seines Gesichtes aus Leibeskräften zu reiben.
Gregor duldete die an Mißhandlung grenzende Fürsorge, wie etwa der Löwe das Zausen und Beißen eines Schoßhündchens, wogegen Singsang stolz auf beide hinsah, als wäre er die sie belebende Kraft gewesen.
»Ihr habt wieder halsbrechende Künste getrieben,« bemerkte Gregor endlich erkünstelt ernsthaft.
Schnell preßten die kleinen Hände das Tuch auf seinen Mund und lustig beteuerte das feine Stimmchen: »Nein! Nein! Nein!«
Gregor sah auf Singsang. Dieser neigte zustimmend sein rundes Haupt. In Gregors Augen erwachte es wie Unwille, und das Tuch sanft von seinen Lippen fortschiebend, fragte er wiederum: »Thusnelda, ihr habt halsbrechende Künste –«
Das Tuch schloß wieder seinen Mund und lachend tönte es von den kleinen Rosenlippen: »Ja, ja, ja! Aber der Singsang hat keine Schuld! Ich habe ihn gezwungen. Ich sagte, ich wollte mir ein großes blutiges Loch in die Stirn schlagen,« und Gregor war entwaffnet.
»Ich konnte es ihr nicht abschlagen,« erklärte Singsang weinerlich.
»Ist ja nichts Neues,« schnitt Gregor ab, was er weiter hinzufügen wollte, und die Kleine auf dem Arm, begab er sich nach der Haustür hinüber: »ich gönne ihr ja gern jede Freude, aber wir müssen darauf achten, daß sie nicht zu große Vorliebe dafür gewinnt. Sie ist zu gut, um in öffentlichen Schaustellungen ihren Beruf zu finden. Nein, Singsang, das wäre ein Unglück; dergleichen dürfen wir nicht dulden.«
Singsang verneigte sich höflich, und während Gregor sich neben dem Tisch niederließ und mit der auf seinen Knien stehenden Kleinen plauderte und tändelte, stellte er zunächst die durch das Spiel etwas gestörte Ordnung in der Umgebung wieder her. Unter kleinen Scheinkämpfen bekleidete er Thusneldas Füße, dann beeilte er sich, Feuer anzuzünden und Vorkehrungen zu dem gemeinschaftlichen Mahl zu treffen. Kaum eine halbe Stunde dauerte es darauf, da saßen alle drei vor dem gedeckten Tisch und sprachen den schmackhaft zubereiteten Speisen nach Herzenslust zu.
Thusnelda nahm den Ehrenplatz am oberen Ende ein. Zu beiden Seiten von ihr saßen Gregor und Singsang, mit gleicher Aufmerksamkeit ihren Liebling bedienend, ihm wehrend, wo er des Guten zuviel zu tun gedachte, zärtlich aufmunternd, wo die den jungen Jahren mehr entsprechenden Milchspeisen weniger munden wollten.
In dem Kinde, das sie mit unsäglicher Mühe und Geduld in den widrigsten Lagen und unter den schwierigsten Verhältnissen am Leben erhalten hatten, war ihnen ein Schatz erwachsen, der ihnen um so teurer war, je mehr sie um ihn sorgten und je inniger das kleine Herzchen sich an sie anschmiegte. Sie förmlich eifersüchtig überwachend, hatten sie sich nie dazu entschließen können, Thusnelda zum Zweck der Erziehung anderen Händen anzuvertrauen. Sie mußten sie täglich sehen, sie um sich haben zu jeder Stunde. Wenn aber Singsang sich hoch und teuer vermaß, die mütterliche Pflege vollständig zu ersetzen, so traute Gregor sich zu, die spätere Ausbildung mit gutem Gewissen übernehmen und ausführen zu können.
In gewohnter freundlicher Weise verlief das Mahl. Ein Stündchen wurde noch verplaudert und die Zeit war da, in der Thusnelda sich zur Ruhe zu begeben pflegte.
Wie eine zärtliche Mutter führte Singsang sie in ihr Zimmer. Wie eine Mutter fortgesetzt von allen möglichen und unmöglichen Dingen erzählend, bediente er sie, bis er sie endlich zwischen ihren Pfühlen und seidenen Decken gebettet sah. Dann ließ er sich neben ihrem Lager auf einem Stuhl nieder. Das rosa Moskitonetz hatte er aufgeschürzt, und unter diesem hindurch wehte er mit dem von ihm unzertrennlichen Fächer dem kleinen Engelsangesicht Kühlung zu. Damit nicht zufrieden, forderte Thusnelda ihn gebieterisch auf, nach alter Weise seine Stimme zum einschläfernden Gesange ertönen zu lassen. Und er sang in der Tat. Glich seine Stimme aber mehr dem Gurgeln eines über hinderndes Gestein hinwegsprudelnden Bächleins und unterschieden seine Melodien sich nur wenig von der einer gackernden Henne oder einer schnarrenden Säge, so übten sie doch auf Thusnelda die beabsichtigte Wirkung aus. Ihre Augen schlossen sich, in langen, ruhigen Zügen entwand der Atem sich der kleinen Brust. –
Gregor hatte zu einer Zeitung gegriffen und sich in diese vertieft, Spalte auf Spalte las er, ohne viel Teilnahme zu verraten. Sobald sein Blick aber die den politischen Nachrichten folgenden Anzeigen streifte, fuhr er plötzlich wie im Schrecken empor. Als hätte er seinen Augen nicht getraut, näherte er das Blatt der Lampe.
»Fünfhundert Dollars Belohnung! Wo ist Edith Melville? Wo ist ihr Kind? Darauf bezügliche Auskunft wird erbeten New-Orleans unter Adresse X. Y. Z. Postrestante. Alle dadurch verursachten Kosten werden außerdem umgehend ersetzt,« las er halblaut. Die Hand mit der Zeitung sank auf seine Knie, wie betäubt starrte er auf dieselbe hin.
»Also dennoch,« lispelte er im Übermaß seiner Erregung vor sich hin, »nachdem ich mein ganzes Dasein, meine ganze Zukunft daran setzte, es dem Leben zu erhalten, nachdem ich mich daran gewöhnte, es als mein Eigentum zu betrachten, soll das Kind mir geraubt werden. In eine Schule will man es bringen, in der es den Grundsätzen seiner Mutter entfremdet wird. Untreu soll ich dem heiligen Versprechen werden, das ich einst einer armen Märtyrerin gab. Nach langen Jahren hält man es endlich für der Mühe wert, die schamlos Verachtete und Verstoßene wieder an sich zu ziehen. Sucht nur, sucht! Die Mutter ist euren Ränken auf ewig entrückt, und ihr Kind – nein, nimmermehr sollt ihr mein Erbe mir entreißen; nimmermehr Gewalt über ein unschuldiges Herz gewinnen; nimmermehr sollt ihr, anstatt der Rache und der Vergeltung anheimzufallen, eines unverdienten holden Lohnes euch erfreuen.«
Als Singsang bei Gregor eintrat und zu ihm aufsah, erriet er scharfsinnig, daß nicht alles so war, wie es hätte sein sollen. Bevor er eine Frage zu stellen vermochte, ergriff Gregor seine Hände, und sie pressend, als hätte er sie zermalmen wollen, zog er ihn nach dem Tische hin, wo sich beide einander gegenüber niederließen.
»Singsang,« begann er ungesäumt, und er wies auf die Anzeige hin, »da liegt der Beweis, daß man Thusnelda von uns nehmen möchte. Längst ahnte ich dergleichen. Alle Hebel hat man in Bewegung gesetzt, um sie auszukundschaften; treffen wir keine Gegenmaßregeln, so ist sie für uns verloren. Noch ein Dutzend solcher Aufrufe wie dieser hier und es findet sich auch jemand, der uns oder vielmehr Thusnelda an unsere erbittersten Feinde verrät und ausliefert. Wir dürfen nicht länger in Kalifornien bleiben, noch weniger nach den östlichen Staaten zurückkehren. Aber die Welt ist groß; es wird wohl einen Winkel geben, in welchen jene Nachforschungen nicht dringen. Ja, Singsang, in nächster Zeit ziehe ich mit Thusnelda von hier fort. Wohin, das weiß ich selber nicht. Vorsicht, äußerste Vorsicht müssen wir aber walten lassen, soll unser aller Friede nicht durch ein schweres Verhängnis vernichtet werden. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst.«
»Alles verstehe ich,« antwortete Singsang, sein nichtssagendes gelbes Antlitz in die allerwohlwollendsten Falten kneifend, »wo die Gefahr waltet, daß Thusnelda uns geraubt werden könnte, verschwinden wir.«
»Recht so, Singsang, da verschwinden wir spurlos. Denn es können Ansprüche erhoben werden, vor welchen die unserigen zurückstehen müssen. Mich aber mit jemand in den Besitz des Mädchens zu teilen, zumal mit jemand, den ich verabscheue, hasse, verachte,« und wie giftige Pfeile schoß es aus Gregors Augen, während er die auf dem Tisch ruhende Hand krampfhaft ballte, »nein, nie geschieht das, und müßte ich Weltmeere zwischen uns und ihn legen, in den ödesten Wildnissen eine Zufluchtsstätte suchen. Doch ich habe einen Plan, Singsang, und heute erst ist er in mir erwacht, als ich einen Tiger in Pferdegestalt in ein Lamm verwandelte, ein Werk zustande brachte, welches jedem anderen das Leben gekostet hätte. Ja, Singsang, einen Plan, der, wenn er glückt, mich in die Lage versetzt, Thusnelda nicht allein in Sammet und Seide, sondern auch in Gold und Edelgestein kleiden zu können.«
Er säumte, während überschwängliche Begeisterung aus seinen Augen leuchtete, wie sonst nur geschah, wenn er mit einem wilden Pferde um dessen Sklaventum rang. Seine breite Brust hob und senkte sich gewaltig und mit einem tiefen Seufzer begann er von neuem: »Ja, Singsang, der Plan, der mir kam, erhielt eine greifbare Gestalt, als ich den Aufruf in dem elenden Papier las, und nicht um alle Schätze Kaliforniens gäbe ich den hin. Der birgt eine Rache, eine Vergeltung, wie sie nicht schneidender, vernichtender gedacht werden kann. Zwischen unseren Verfolgern und Thusnelda will ich eine Scheidewand errichten, die durch nichts mehr zu überbrücken ist. Sie selbst soll darunter nicht leiden. Im Gegenteil: ihren Frieden, ihr Glück will ich befestigen. Einen Schutzwall will ich um sie errichten, der stärker ist als Mauern und Ketten. Verachtungsvoll wird sie auf diejenigen herabblicken, die es wagen, ihr mit irgendwelchen Vorstellungen zu nahen. Glücklich, glücklich soll sie sein; mein Lohn aber wird blühen, wenn die Stunde gekommen, in der ich dem Elenden ins Ohr schreie: ›Sieh her‹«; – er schüttelte sich, wie eine böse Vision abwehrend, und mit seiner gewöhnlichen eisigen Ruhe fügte er hinzu: »Lassen wir für heut' das weitere; es ist zu sehr geeignet, uns zu verbittern. Anderes und Wichtigeres gibt es zu beraten. Wie lange wir noch hier verweilen, ich weiß es nicht, höchstens einige Wochen. Bis dahin bleibe ich für dich wie für alle anderen Gregor Melville; dasselbe gilt von Thusnelda. Ziehen wir fort, so erreicht das sein Ende im dritten Nachtquartier. Unter dem alten Namen legen wir uns zum Schlaf nieder, um folgenden Morgens als neue Menschen die Reise fortzusetzen. Von da ab heiße ich nur Gregor und Thusnelda ist meine Schwester. Merke dir das, Singsang: Thusnelda Gregor, also die Geschwister Gregor. Indem ich das bestimme, denke ich weit über die nächsten Jahre hinaus. Ein Ziel schwebt mir vor, und das werde ich erreichen, unbekümmert darum, wessen Haupt die Folgen bedrohen, wenn nur der Friede Thusneldas, der Tochter der armen verfolgten Schläferin in ferner Wildnis, ungestört bleibt.«
Drei Wochen später, da rüstete Gregor sich zum Aufbruch. Vergeblich hatte Cristobal versucht, ihn zum Bleiben zu bestimmen. Dann aber ging er ihm freundlich zur Hand, seinen Hausrat zu verwerten und ihm die Reise nach besten Kräften zu erleichtern.
In einem von zwei kräftigen Pferden gezogenen leichten Planwagen verließen Singsang und Thusnelda ihr bisheriges Heim. Gregor ritt neben dem Wagen. Des frohen Kindes Jubel erleichterte den Abschied von einer Stätte, an die sich nur freundliche Erfahrungen knüpften. Ihr nächstes Ziel war San Franzisko. Von dort aus sollte ein Schiff sie südwärts tragen.