Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Sechzehntes Kapitel.

Klein-Melvillehouse.

Einförmig dehnt sich die Südküste der Halbinsel Florida aus. Hier und da mit Waldungen bedeckt, die im allgemeinen den Charakter tropischer Breiten tragen, strichweise wieder nackt und kahl, oder landeinwärts übergehend in üppig tragende Felder und Wiesen und hinter diesen in umfangreiche Sumpfniederungen mit dazwischen gestreuten Savannen und oasenartigen tannenbewaldeten Bodenanschwellungen, bietet sie wenig, was geeignet wäre, das Auge länger zu fesseln.

Eine kurze Strecke entfernt von dem schroff abfallenden Meeresstrande, auf drei Seiten umringt von hohem Baumwuchs, aus welchem vereinzelte Palmenkronen hervorragen, erhebt sich ein einsames Haus nebst daranstoßender schuppenartiger Stallung. Von weißgestrichenen Balken und Brettern errichtet, kontrastiert es freundlich zu der tiefgrünen Vegetation, der die feuchte See-Atmosphäre eine gleichsam unverwelkliche Frische verleiht. Einstöckig, ist es nur auf eine geringe Zahl von Bewohnern berechnet. Eine drei Stufen hohe Veranda erstreckt sich nach Landessitte über dessen Vorderseite.

Um die Aussicht in vollerem Maße zu genießen, ist in dem sorgfältig gepflegten Vorgarten ein etwa zehn Fuß hohes Balkengerüst mit runder Plattform errichtet worden, über die ein achteckiges Schindeldach sich wölbt. Ein Anbau, ähnlich der Kommandobrücke eines Seedampfers, nach dem eine bequeme Treppe hinaufführt, lehnt sich an das Gerüst. Dieser ist nicht überdeckt. Auf der Plattform ermöglichen dagegen Zuggardinen von Segeltuch das Ausschließen scharfer Winde, des Regens und lästig werdender Sonnenstrahlen. Ein großer runder Tisch, mehrere Korblehnstühle, Sessel, und sonstige auf Bequemlichkeit berechnete Gegenstände zeugen dafür, daß die Plattform ein Lieblingsplatz des Besitzers des einsamen Heimwesens ist. Ein mit zierlicher Takelage versehener mastartiger Flaggenstock auf der anderen Ecke des Gartens verrät eine gewisse Vorliebe für das Seewesen. Obwohl der Sezessionskrieg beinahe vergessen, weht von dem Mast noch immer das alte Rebellenbanner. Dafür ist aber auch der Besitzer ein freier Amerikaner, der auch die Flaggen von Venezuela und Marokko und sonstiger Raubstaaten ungestört aufhissen darf, wenn es ihm Vergnügen bereitet.

Das ist Klein-Melvillehouse.


Eine leichte Brise wehte von dem Meere herein und erzeugte nach den heißen Mittagsstunden eine doppelt willkommene Kühle. Wie ausgestorben lag das Strandhaus. Fenster und Türen waren dem erquickenden Luftzuge geöffnet worden. Außer den Vogelstimmen in dem benachbarten Hain war kein Geräusch vernehmbar. Wie eine Störung des Friedens, der das stille Heimwesen umlagerte, erschien es daher, als aus dem Hause eine heisere, rauhe Stimme ins Freie drang, indem sie mit einem gewissen respektvollen Ausdruck sprach:

»Kapitän Melville, halb sechs Uhr. Wind südsüdwest. Feine Zeit draußen. Recht geeignet zu 'n paar Stunden auf der Kommandobrücke.«

Eine Antwort erfolgte nicht; dagegen ließ sich das Schurren eines zurückgeschobenen Stuhls vernehmen, dem alsbald langsame Schritte folgten. Eine Minute verrann; dann trat, schwer auf einen Bambusstab gestützt, ein langer hagerer Mann in grauleinenem Sommeranzuge auf die Veranda. Dort blieb er stehen, und den Strohhut vom Haupte nehmend, strich er das weiße, etwas gekräuselte Haar von Stirn und Schläfen zurück. Zugleich spähte er mechanisch auf das in seinem Gesichtskreise befindliche Meer hinaus. Er schien in der Ferne etwas zu suchen, denn wie Spannung prägte es sich in dem stark gebräunten hageren Antlitz aus, dessen untere Hälfte in einem weißen krausen Vollbart verschwand. Nachdem seine Blicke kurze Zeit etwas schärfer auf einem der entferntesten Eilande geruht hatten, fragte er über die Schulter ins Haus hinein: »Kit Kotton, hast du das Fernrohr?«

»Dem Kapitän zu Befehl,« tönte es aus dem Hintergrunde dienstlich zurück. Schwere Schritte wurden vernehmbar, und heraus trat ein Matrose, dem schwerlich jemand angesehen hätte, daß eine lange Reihe von Jahren vorübergegangen, seitdem er sich zum letzten Male über die Schanze eines Kriegsschiffes schwang. Auch sein Haar, das buschig unter einer weit nach hinten geschobenen schottischen Mütze hervorquoll, war mit Weiß gemischt, ebenso der ursprünglich schwarze Bart, der ihm bis auf die Brust niederreichte; dagegen hätte man in seinem lederartig verwitterten, etwas vollen Antlitz vergeblich nach weiteren Merkmalen der über sein Haupt hingerauschten fünfzig und einige Jahre gesucht. Wie einst auf dem »Seeigel«, schienen die Beinkleider von grauem englischen Leder auch heute nur mit Widerwillen sich dem Zwange eines um die Hüften geschnallten Riemens zu fügen, und wie damals waren auch heute die Ärmel seines blauwollenen Hemdes so weit aufgerollt, daß man ohne viel Unbequemlichkeit die wunderlichen Tättowierungen auf der eisernen Muskulatur zu bewundern vermochte. Das Fernrohr trug er in der linken Faust, ein Paket alter Zeitungen hatte er unter denselben Arm geklemmt, während die rechte Hand nachlässig mit der an messingener Kette von seinem Halse niederhängenden silbernen Bootsmannspfeife spielte.

»Kit Kotton,« fuhr Gilbert Melville nach einer Pause fort, »vergiß nicht die Zeitungen.«

»All right, Kapitän,« hieß es zurück, »wir mögen immerhin losmachen.«

Melville setzte sich nach Kit Kottons Worten in Bewegung. Die aufrechte Haltung ging dabei nicht verloren; dagegen verriet sich in der Art, in der er das Bambusrohr benutzte und die Füße voreinanderstellte, daß das Gehen ihm große Schwierigkeiten verursachte. Als er vor den drei Stufen eintraf, schob Kit Kotton die rechte Faust unter seinen Arm und zärtlich, wie eine Mutter ihr Kind bei den ersten Gehversuchen unterstützt, half er seinem Herrn in den Vorgarten hinunter. Dort zog er die Faust zurück, um die Führung erst wieder vor der Treppe des Gerüstes zu übernehmen.

Langsam schritten sie nach der Plattform hinüber. Dort stellte Kit Kotton einen Armstuhl so neben den Tisch, daß das Meer vor ihm lag. Melville ließ sich auf demselben nieder, worauf Kit ein eigentümlich geformtes Bänkchen mit schräger Rücklehne zur Rast unter seine Füße schob und das Fernrohr herrichtete.

Melville nahm es und spähte nach demselben Punkt hinüber, den er kurz zuvor von der Veranda aus ins Auge gefaßt hatte.

»Es war doch ein böser Tag da drüben, Kit Kotton,« sprach er, halb zu diesem gewendet.

»Ein böser, aber auch ein feiner,« versetzte Kit lebhaft, »und wenn je ein halb Hundert gesunder Jungen lustig mit ihrem Schiff auf den Meeresboden gingen, anstatt sich von den Nördlichen ins Schlepptau nehmen zu lassen, so geschah es an jenem gesegneten Tage.«

»Und ich, ihr Kommandant, lebe heute noch,« wendete Melville traurig ein, »und du nicht minder. Dir gönn ich's gern, Kit Kotton; ließest du mich aber in der Gesellschaft der anderen, war's um so viel besser.«

»Hab nur meine Pflicht erfüllt, und bereut hab ich's bis jetzt nie,« erklärte Kit anspruchslos.

»Und doch wäre mir viel Leid erspart geblieben.«

»Das behauptet der Kapitän schon an die zehn, zwölf Jahre, und ich wüßte nicht, daß dadurch etwas besser geworden wäre.«

»Das nicht, Kit Kotton, doch setz dich und nimm die Zeitungen zur Hand. Laß mich den Beweis hören, daß ich nichts verabsäumte, was dazu hätte dienen können, ein himmelschreiendes Unrecht zu sühnen, zu dem mich andere treulos aufstachelten.«

Kit schlug die Zeitungen auseinander. Unter den ihn ängstlich überwachenden Augen Melvilles suchte er eine Weile mit sichtbarem Widerstreben zwischen den zermürbten Blättern, dann las er geläufig, aber ausdruckslos:

»Fünfhundert Dollars Belohnung! Wo ist Edith Melville? Wo ist ihr Kind? Darauf bezügliche Auskunft wird erbeten New-Orleans X. Y. Z., Postrestante. Alle dadurch verursachten Kosten werden umgehend ersetzt.«

»Welches Blatt?« fragte Melville wie geistesabwesend.

»›New-Orleans Pickayune‹. Hier ist auch der ›Cincinnati-Advertiser‹ hier der ›San Francisco Miner‹ –«

»Nun ja, Kit, kaum eine größere Stadt gibt es auf dem Kontinent, in der wir den Aufruf nicht veröffentlichten, und immer vergeblich. Lebte sie noch oder das Kind, so hätten wir von ihnen hören müssen. Glaube mir, Kit, beide sind tot,« und die letzten Worte erstarben in kaum verständlichem Flüstern.

»Wir möchten wieder einmal etliche Aufrufe ablaufen lassen, vielleicht im Auslande,« riet Kit Kotton zuvorkommend.

»Wenn du meinst, kann es geschehen. Ich fürchte nur die neuen Aufregungen, und die befallen mich, sobald ich auf irgendetwas ängstlich warte. Ach, Kit, es ist alles vorbei. Ich steige mit dem Bewußtsein in die Erde hinab, in heilloser Verblendung anderen zu viel Einfluß auf mich eingeräumt zu haben. Der ganze Krieg war nicht wert, daß ein einziges Familienglück deshalb zerstört wurde; und wie viele wurden unbarmherzig vernichtet!«

»Ein feiner Tag war's trotzdem, Kapitän, und 'ne Schönheit bleibt's, wenn so viele herzige Maats auf beiden Seiten mit 'nem Hurra in den Tod gehen, als ob sie sich zu 'nem Rundtanz ordneten.«

»Ja, Kit Kotton, indem ich seewärts blicke, sehe ich nicht nur die beiden Unionsdampfer, gegen welche der Seeigel sich wehrte, wie ein angeschossener Panther, sondern ich höre auch den Donner der Geschütze –«

»All right, Kapitän, und 'ne Melodie erster Klasse war's, was sie aufspielten,« warf Kit begeistert ein.

»Wenigstens laut genug, Kit Kotton. Und mehr noch höre und sehe ich. Ich seh die Feuergarbe aus dem Schiff emporschlagen, hör das Rauschen in meinen Ohren, mit dem der Strudel uns dem Seeigel nach hinabriß und die Gegenströmung uns wieder nach oben warf. Ich meine sogar, den Griff deiner Faust an meinem Kragen zu fühlen; hättest du nicht so fest gepackt gehabt, läge ich jetzt da drüben bei den anderen. Wunderbar, wie im letzten entscheidenden Augenblick der Selbsterhaltungstrieb erstarkt und der Mensch mit aller Macht um sein elendes Dasein kämpft, im übrigen war viel Glück mit im Spiel.«

»Sehr viel Glück, Kapitän,« beteuerte Kit aus vollem Herzen, »zunächst der Gewittersturm, der wehte aus Nordwesten und kehrte die Dünungen südwärts, daß wir da drüben ziemlich komfortabel auf den Sand geworfen wurden. Dann die Schildkrötenjäger. Mochte es immerhin schwarzes und braunes Gesindel sein, das von den Plantagen ausgerückt, so waren wir doch gut genug bei ihm aufgehoben. Möglich ist's ja, daß ein studierter Doktor des Kapitäns Knochen regelrechter zusammengesplißt hätte, allein wir konnten froh sein, überhaupt jemand gefunden zu haben, der 'ne Kleinigkeit vom Verbinden verstand. Und als wir zehn Monate später auf hier hielten, war Friede im Lande und niemand hinderte uns, beizulegen und ein richtiges Seemannsheim zu begründen. Und dann, Kapitän, ist's auch eine große Sache, von wegen der Nachbarschaft der alten Maats und des Seeigel. Wenn ich so des Morgens 'nen Blick hinüber tue, wird mir gar komfortabel ums Herz, als ob mir jemand 'nen schönen Gruß zurufe.«

Müden Auges spähte Melville wieder über das still wogende Meer, in dem die schräge hereinfallenden Sonnenstrahlen sich gleichsam badeten. Plötzlich kehrte er sich dem alten Gefährten zu. Sein Antlitz hatte sich gerötet, eigentümlich glühte es aus seinen Augen, indem er anhob: »Kit Kotton, ich habe dich stets für einen treuen Freund gehalten. Außer Flora bist du der einzige Mensch, der mein vollstes Vertrauen besitzt. Dein Lohn wird sein, daß du nach meinem Tode eine Rente beziehst, gerade groß genug, um deinen Lebensabend in aller Behaglichkeit verbringen zu können –«

»Weiß alles, Herr,« warf Kit ein, um Melvilles Ideengang in andere Bahnen zu lenken, »viel zu gut sorgten der Kapitän –«

»Nein, Kit, gerade ausreichend und nicht drüber. Ich hätte mehr tun können, allein für dich wär's kein Segen. Deine gewohnte Lebensweise darf keine Unterbrechung erleiden, oder du bist unglücklich. Warte also alles getrost ab, und ich denke, du wirst nicht unzufrieden sein. Und so will ich heute abermals wiederholen, was ich schon unzählige Mal dir ans Herz legte: Wenn du merkst, daß es eines Tages zu Ende mit mir geht, so bringst du zunächst das Mahagonikistchen in Sicherheit; ebenso nimmst du alle meine Briefe und die Dokumente, die sich auf meinen letzten Willen beziehen, an dich, um sie Flora zu übermitteln, wenn sie nicht zur Hand sein sollte. Unser Haus schenkte ich dir bereits; du bist also in der Lage, jeden fremden Eindringling, und die werden nicht auf sich warten lassen, vor die Tür zu werfen. Du kennst die betreffende Gerichtsperson, die du hierher zu berufen hast, um alles gesetzlich bestätigen zu lassen.«

Darauf versank er in Nachdenken. Während seine Augen wieder das ferne Eiland suchten, überwachte Kit Kotton ihn eine Weile verstohlen. Dann blätterte er zwischen den Zeitungen nach irgendeinem Bericht, von dem er eine erheiternde Wirkung auf seinen Herrn erwartete.

Da neigte dieser sich ihm zu, als hätte er gefürchtet, belauscht zu werden, flüsterte er: »Rücke näher, Kit Kotton, ich muß dir noch etwas anvertrauen. Was du da sprichst, ist Unsinn. Denn ein ehrloser Trick war's immerhin, daß ich den Seeigel feige verließ. Das verzeihen die Maats, namentlich der eiserne Robinson, mir nie. Ich fühle schon jetzt die vielen vorwurfsvollen Blicke; dazwischen sehe ich liebe blaue Himmelsaugen – zwei Paar, Kit Kotton –«

»Unsinn selber, Kapitän,« fiel Kit in seiner Not grimmig ein, »und wenn der Doktor Hawkins Ihnen den nicht eintrichterte, will ich noch heutigen Tages kieloberst zur Hölle fahren.«

»Nicht doch, Kit,« lispelte Melville noch geheimnisvoller, »der Hawkins ist ein überaus gescheiter Arzt; der sieht mit einem Auge mehr, als wir beide mit unseren vier –«

»Wofür er zehntausendmal verdammt sein möge,« warf Kit wiederum unwirsch ein.

»Womit mir am wenigsten gedient wäre, Kit,« nahm Melville schnell das Wort, »du bist eine einfache Natur, die nicht halb soweit sieht, wie ein Mann, dessen Beruf es ist, die Menschen als Arzt zu betrachten. Aber Hawkins findet nicht deinen Beifall, da wollen wir ihn lieber ganz beiseite lassen. Nun sage mir eins, Kit, aber aufrichtig: Ist dir nicht längst etwas an mir aufgefallen?«

»Weiter nichts, Kapitän, als daß Sie von Tag zu Tag herzhafter aussehen.«

»Ich spreche nicht vom Aussehen, denn gerade hinter dem kräftigsten Äußeren verbirgt sich oft das furchtbarste Leiden. Ich meine, ob du nicht Seltsamkeiten an mir entdecktest, die im Laufe der Zeit schärfer hervortraten.«

»Zum Henker damit,« fuhr Kit bestürzt auf und seine Brust schnürte sich im Schrecken zusammen, »Sie haben überhaupt keine Seltsamkeiten, es können also auch keine anwachsen.«

»Weil du sie nicht sehen oder vielmehr nicht darüber sprechen willst.«

»Nein, Kapitän, ich kann's beschwören mit den heiligsten Eiden: Sie sind heut derselbe Mann, wie vor fünfzehn, zwanzig Jahren, und der Satan über jeden, der Sie eines anderen belehren möchte.«

»Nach deiner Meinung, Kit, aber glaube meinen Worten: ein furchtbares Gespenst schwebt mir vor, wo ich auch gehe und stehe, gleichviel, ob wachend oder schlafend –«

»Wofür derjenige, der es Ihnen vor Augen stellte, verdammt sein mag!« rief Kit aus, in seiner Verzweiflung jeden Zwang abwerfend und allein dem Drange seines ehrlichen Herzens folgend.

»Du bist ungläubig,« versetzte Melville, und stumpfer wurde sein Blick, hinfälliger seine ganze Erscheinung, »und doch liegt es in meiner Gewalt, dich mit wenigen Worten zu überzeugen. Also höre, sprich indessen nie zu einer sterblichen Seele darüber: wenn jemand, der es gut mit dir meint, das Gespenst des Wahnsinns vor dich hinstellte, wie würde dir zumute sein?«

»Fein, Herr, erstaunlich fein. Zuerst würde ich ihn mit meinen Fäusten verarbeiten, daß kein Knochen in seinem Körper unzerbrochen bliebe; dann würde ich ihn höflich fragen, ob das die Hiebe eines Verrückten wären.«

»Da hast du's, Kit. Als vollkommen gesunder Mensch würdest du ihn verlachen, wogegen es mir zu denken gibt, und darin liegt der Unterschied, ein böser Unterschied. Nein, Kit, ich vermag die Befürchtungen vor dem Gräßlichsten nicht abzustreifen, wie du eine Teerjacke.«

»Körperliche Schwäche, Kapitän,« erklärte Kit eifrig und der Angstschweiß perlte ihm auf der Stirn, »ständen Sie noch auf Ihren gesunden Füßen, möchte ich keinem raten, Ihnen mit solchen Verdächtigungen zu kommen. Aber einen geladenen Revolver werde ich überall neben Sie hinlegen; da wollen wir sehen, ob jemand wagt, Sie fernerhin zu beunruhigen.«

»Nein, Kit, das tue nicht. Im Gegenteil, du sollst mich stets im Auge behalten, jede Art von Waffe aus meinem Bereich schaffen. Ein Unglück ist bald geschehen und, unter uns, Kit, ich traue mir selber nicht. Jetzt noch eins, Kit, ich baue auf deine Gewissenhaftigkeit: sollte mein Zustand dir jemals bedenklich erscheinen, so daß fremder Beistand herangezogen werden muß, so verfährst du mit meinen Schriften, überhaupt mit meinem ganzen Eigentum, wie ich dir sagte, daß es nach meinem Tode geschehen sollte –«

»Aber in alles Guten Namen,« rief Kit flehentlich aus, »so weit ist's ja noch nicht, und es kommt auch nicht so weit, kann nicht so weit kommen, wenn es überhaupt noch 'nen Funken von Vernunft in der Welt gibt.«

Melville wiegte das Haupt ungläubig und sah unverständlich lispelnd vor sich nieder. Kit, in wachsender Verzweiflung, spähte ratlos um sich. Plötzlich erhellte sein Antlitz sich im Triumph. Er war einer riesenhaften rotbraunen Bulldogge ansichtig geworden, die gemächlich auf das Gerüst zutrabte; zugleich unterschied er von dem nahen Waldwege her lustiges Pfeifen.

»Da kommt Miß Flora selber!« rief er aus, den Arm in der Richtung des Gehölzes ausstreckend.

Wie ein elektrischer Schlag wirkte diese Kunde auf Melville. Seine erschlafften Züge spannten sich an. Indem er mit den Blicken der angedeuteten Richtung folgte, leuchtete überschwängliche Freude in seinen Augen auf, um indessen ebenso schnell wieder zu erlöschen.

»Kit,« flüsterte er ängstlich, »kein Wort von dem, was wir hier verhandelten, zu Flora. Sie würde sich entsetzen, ihr Vertrauen zu mir verlieren, mich gar fürchten. Hörst du, Kit? Ich verpflichte dich, mein Geheimnis treu zu bewahren. Muß ich vielleicht eine Kur über mich ergehen lassen, so kann es unter einem anderen Namen geschehen – nein, Kit – sie darf die Wahrheit nicht ahnen, oder mit unserem freundlichen Verhältnis ist es auf ewig vorbei.«

»Keine Silbe davon,« beteuerte Kit Kotton, und er seufzte erleichtert auf, »hab' überhaupt alles für leeres Gerede gehalten. In 'ner Minute und 'ner halben ist's vergessen.«

Während des letzten Teils des Gesprächs hatte die Bulldogge, deren mächtiges, zähnefletschendes Haupt ungefähr den dritten Teil des ganzen Körperumfanges betrug, die Treppe erstiegen und begrüßte, nach besten Kräften den anderthalb Zoll langen Schweif wedelnd, in täppischer Weise zunächst Kit Kotton, dann Melville. Selbstzufrieden legte sie sich darauf am Rande der Plattform nieder, und geräuschvoll über die aus dem furchtbaren Rachen hängende Zunge atmend, stierte sie nach der Stelle hinüber, auf der Miß Flora in ihren Gesichtskreis treten mußte. Melville und Kit Kotton sahen ebenfalls hinüber. Ihre Geduld wurde nur kurze Zeit in Anspruch genommen. Ein hellfarbiges Kleid und ein italienischer Strohhut schimmerten zwischen den letzten Sträuchern hindurch, und noch immer pfeifend und eine frischgeschnittene, mit einigen Blättern versehene Gerte munter vor sich schwingend, trat Miß Flora ins Freie. Ihr erster Blick galt der Plattform. Wohl in dem Bewußtsein, von dort aus überwacht zu werden, stellte sie das Pfeifen ein; dagegen fuhr sie fort, mit der Gerte vor sich in der Luft Kreise und Achten zu beschreiben.

Ja, Miß Flora selber war es, auf der die drei Paar Augen mit derselben Teilnahme ruhten, Miß Flora in vollster sechzehnjähriger Jugendanmut und mit einer Haltung, die Frohsinn, Unerschrockenheit, Sorglosigkeit und Entschiedenheit eigentümlich charakterisierten. In ihrer ganzen Erscheinung offenbarte sich eben, daß sie seit früher Kindheit verwaist und daher, vorzugsweise auf sich selbst angewiesen, ein gewisses Unabhängigkeitsgefühl sich zu eigen gemacht hatte. Zustatten waren ihr dabei gekommen ein hoher Grad von Scharfsinn und die Gabe, sich in Verhältnisse wie Personen zu fügen. Es wurde ihr dadurch erleichtert, spielend alle diejenigen Vorteile sich zunutze zu machen, welche ihr daraus erwuchsen, daß Melville sich des elternlosen Kindes annahm und für dessen Wohlfahrt Sorge trug. Der Zufall hatte sie ihm in den Weg geführt; da bedurfte es für ihn nur eines Blickes in die fröhlichen, unschuldigen braunen Augen, um den Entschluß zu reifen, aus dem kleinen Wesen eine Angehörige heranzubilden und alle die Liebe auf sie zu übertragen, die der eigenen Tochter zu erweisen ihm nicht vergönnt gewesen. In dem Städtchen, das man von dem einsamen Strandhause aus innerhalb einer guten halben Stunde mäßigen Ausschreitens bequem erreichte, hatte er sie bei einer achtbaren Lehrerfamilie zur Pflege untergebracht, und zwar mit der ausdrücklichen Bedingung, ihrem frischen, fröhlichen Mut keine Fesseln anzulegen, sondern ihr alle und jede mit der guten Sitte vereinbare Freiheit zu gewährleisten. Als nächste Folge durfte bezeichnet werden, daß Flora im allmählichen Heranreifen ihre Zeit zwischen dem Strandhause und der Stadt ziemlich regelmäßig teilte, hier so oft zu finden war, wie dort, auf beiden Seiten sich gleich heimisch fühlte, aber auch gleich herzlich willkommen geheißen wurde.

Durch ein Seitenpförtchen betrat sie den zierlich eingefriedigten Vorgarten und leichten Schrittes näherte sie sich der Kommandobrücke. Kaum mittelgroß, dagegen tadellos gewachsen, war alles an ihr Leben, Geschmeidigkeit und Grazie. Von der Brücke auf die Plattform tretend, nahm sie den Hut von ihrem mit prachtvollen kastanienbraunen Haarflechten umschlungenen Haupt, und neben Melville hinschlüpfend, küßte sie mit heiterem Gruß dessen Hand. Freundschaftlich begrüßte sie auch Kit Kotton, der sich höflich erhoben hatte, zum Überfluß Wasp, die täppische Bulldogge, deren Rachen vor freudiger Erregung den ganzen Kopf in zwei Hälften zu spalten drohte; dann erst ließ sie sich ihrem Wohltäter gegenüber auf den für sie herbeigeschobenen Korbstuhl nieder.

»Blackbird war bei mir,« begann sie ohne Säumen ihren Bericht, und als wären ihre roten Lippen der Urquell aller Weisheit gewesen, hingen die Blicke von Mann und Tier mit gleicher Aufmerksamkeit an denselben, »er gab mir den Zettel, da kaufte ich alles höchsteigenhändig ein. Für die nächste Zeit ist also noch keine Not in Klein-Melvillehouse zu befürchten. Blackbird war längst fort, als ich mich auf den Weg begab; trotzdem holte ich ihn bald ein. Ein Weilchen hielt ich gleichen Schritt mit ihm. Als er aber durch nichts zu bewegen war, seinen Mustang anzutreiben, ließ ich ihn zurück. Es kann zehn Minuten dauern, bevor er eintrifft, und noch länger, wenn es ihm einfallen sollte, den alten Gaul ein wenig grasen zu lassen.«

»Blackbird hat seinen eigenen Kopf, wie du im Besitz eigener flinker Füße bist,« bemerkte Melville, aus dessen Wesen beim Anblick der lieblichen Erscheinung mehr und mehr die Spuren des vorausgegangenen peinlichen Gesprächs mit Kit schwanden, »eh' der seinem Tier einen Schlag versetzt, bleibt er drei Stunden auf derselben Stelle halten. Wie du gesund aussiehst, kleiner Irrwisch. Hoffentlich bleibst du eine Woche bei uns.«

»Leider muß ich nach Hause,« hieß es munter zurück, »die guten alten Leute sind nämlich in Unkenntnis über die Richtung meines Ausfluges. Doktor Hawkins suchte mich auf. Er wollte hierher und bot mir an, mit ihm zu fahren. Ich schlug es natürlich aus; als ob ich meinen Weg nicht ohne ihn fände!«

»Wir dürfen ihn also heut noch erwarten?« fragte Melville mit schwer erheucheltem Gleichmut, denn schon allein die Erwähnung des Doktors beunruhigte ihn tief.

»Unbedingt,« antworte Flora lebhaft, »und schaden kann es nie, wenn der Hausarzt auch ohne ernsten Grund nach seinen Freunden sich umsieht. Von Hawkins will ich es nicht behaupten – ich verabscheue ihn nämlich – allein im allgemeinen wirkt der Anblick des Doktors, sofern er unser Vertrauen besitzt, beruhigend auf Gesunde wie auf Kranke.«

»Gewiß, gewiß,« bestätigte Melville mit eigentümlicher Hast, »ebenso fasse ich selbst es auf. Und wie oft ereignet es sich, daß der Arzt Symptome einer Krankheit entdeckt, lange bevor wir selbst eine Ahnung davon erhalten.«

»Sie befinden sich also wirklich vollkommen gesund?« forschte Flora, ihren Wohltäter etwas aufmerksamer betrachtend, als wäre in dessen Wesen ihr irgend etwas aufgefallen.

»Ich befinde mich in der Tat sehr wohl,« erwiderte Melville, »das schließt indessen nicht aus, daß es zuweilen recht empfindlich in meinen Gliedern zuckt. Da kommt Hawkins heut gerade wie gerufen – wenn er nur erst hier wäre! Sobald er erscheint – ich werde ihn hier oben empfangen – bist du so gut, mich allein mit ihm zu lassen. Vor Zeugen offenbart man nicht gern die kleinen Leiden, die von dem höheren Alter unzertrennlich sind, so lächerlich diese falsche Scham sein mag.«

»Ich werde unterdessen hier oben bleiben und auf die Befehle des Kapitäns warten,« bemerkte Kit Kotton dienstfertig, denn es beseelte ihn tiefe Scheu, seinen Herrn dem Doktor gewissermaßen auf Gnade und Ungnade zu überantworten.

»Nein, Kit,« versetzte Melville ruhig und ohne mit einer Miene zu verraten, daß er den alten Burschen durchschaute, »du wirst dir im Hause zu schaffen machen und Flora bei ihrer Besichtigung zur Hand gehen. Ob du dort weilst oder hier oben: trotz deines gesunden Menschenverstandes würdest du nicht den zehnten Teil von dem verstehen, was ich mit dem Doktor verhandle; dazu müßtest du Medizin studiert haben.«

Kit grinste sauersüß, rückte die Mütze unruhig hin und her und entgegnete zutraulich: »Wie der Kapitän befehlen. Ich meinte nur, daß ich zur Hand sein möchte, wenn der Doktor Anweisungen erteilt von wegen einer richtigen Pflege.«

»Wenn ich dir sage, wie es mit meiner Pflege zu halten ist, so genügt das,« erklärte Melville unmutig, »du machst überhaupt viel zuviel Aufhebens um Kleinigkeiten – aber da ist Blackbird,« und er lenkte die Aufmerksamkeit nach dem Waldwege hinüber, auf dem ein Reiter sich langsam in seinen Gesichtskreis schob.

»Schon?« rief Flora lachend aus, »ich glaube, der gute Blackbird übernachtete lieber auf offener Landstraße, bevor er seinen Mustang aus dem gemächlichen Schritt brächte.«

Kit schickte sich an, die Plattform zu verlassen, um die Vorräte zu prüfen, nach denen Blackbird ausgeschickt worden. Flora sah fragend auf Melville; als dieser das Haupt zustimmend neigte, eilte sie, von dem zurückbleibenden Wasp mit den Blicken verfolgt, Kit die Treppe hinunter nach. Gleich darauf befand sie sich an dessen Seite, ihm vertraulich zuraunend, daß der Doktor sie unnötigerweise geängstigt habe.

»Wenn der nur aus unserem Fahrwasser bleiben wollte,« erklärte Kit, sich förmlich windend unter dem Zwange, in seinen Mitteilungen Vorsicht walten zu lassen, »hab' nämlich die Meinung, daß ein Doktor an 'nem gesunden Menschen gerade so viel verdirbt, wie ein halb Dutzend gewissenhafter Pfleger an ihm ausflicken können.«

Flora betrachtete den alten Schiffskoch befremdet von der Seite. Sein feierliches Antlitz reizte sie zum Lachen und heiter versetzte sie: »Was willst du mit deinem Rabengekrächz? Laß den Kapitän leben, wie es ihm am meisten behagt; gerade darin liegt die wirkliche Arznei. In seiner Einsamkeit bietet ein Plauderstündchen mit dem Doktor ihm eine willkommene Unterhaltung, und die darf nicht verkümmert werden. Was hat der Ärmste sonst vom Leben – da ist Blackbird! Betrachte ihn. Hängt er nicht auf seinem Mustang, als wollte er das Ende aller Dinge erwarten?«

Kit, den sich langsam Nähernden im Auge, antwortete verdrossen: »Und doch besitzt er ein Gedächtnis zum Erstaunen. Noch soll er zum erstenmal etwas vergessen.«

Und wie Flora scherzhaft sagte, verhielt es sich: langsam, ganz langsam schlich der Mustang mit seinem Reiter herbei, und wie, in Haltung und Bewegungen, trugen sie auch im Äußeren eine auffallende Ähnlichkeit. Struppig waren die Häupter beider. Schwarzes Stirnhaar verschleierte ihre schläfrigen Augen. Wie den Kopf des Pferdes ein mit Muscheln besetzter Riemen, umschlang den des Indianers ein rotes Band, und verhältnismäßig gleich alt, beugten beide ihre Nacken unter der Zahl der Jahre. Aber runder und wohlgenährter war der braune Mustang, wogegen der Körper des betagten Seminolenkriegers nur aus Haut, Knochen und Sehnen zu bestehen schien.

Vor der Veranda, auf der Flora und Kit ihn erwarteten, hielt Blackbird seinen stumpf dareinschauenden Mustangveteranen an. Kalt, wie aus den Augen einer Wachsfigur, ließ er die Blicke über die beiden hingleiten, und deren Gruß mit einem kurzen Neigen des Hauptes erwidernd, begann er, die Vorräte aus seinem Quersack hervorzuholen und Kit darzureichen. Dieser war jetzt wieder Koch von seinem buschigen Scheitel bis zu den dicken Stiefelsohlen herunter. Abwechselnd lobte und tadelte er zu Floras Ergötzen, die bereitwillig dieses und jenes ins Haus hineintrug und ihm dadurch Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit dem Indianer bot.

»Blackbird,« bemerkte er gedämpft, während er diesem einen Beutel Mehl aus dem Quersack hervorziehen half, »der Satan ist wieder los. Wir erwarten nämlich den Doktor.«

Blackbirds Augen vergrößerten sich ein wenig. Einen finsteren Blick sandte er zu Kit nieder, indem er antwortete: »Das Mädchen mit den flinken Füßen sagte es mir auf dem Wege. Hawkins ein schlechter Medizinmann. Seine Worte sind Gift. Sie fressen am Herzen des Kapitäns, machen ihn zum Weibe.«

»Richtig, Blackbird,« gab Kit grimmig zu, »und wenn ich jemand wünsche, daß er sich das Genick dreimal breche, so ist's dieser Doktor mit seinen unstäten Vortoplichtern. Der kann nämlich keinen Menschen gerade ansehen, und geht das länger so weiter, so erleben wir ein Unglück an dem Kapitän. Jetzt höre: ist dieser Schurke von Doktor erst da, so beachte alles, was auf der Plattform vor sich geht. Ich selbst darf nicht hinaus; dir mißtraut dagegen niemand, da magst du die beiden wenigstens aus der Ferne überwachen.«

Blackbird gab ein zustimmendes Zeichen. Bevor Kit aber das Gespräch weiter zu spinnen vermochte, erschien Flora auf der Veranda, in lieblicher hausmütterlicher Weise die Herrschaft sich aneignend. Während sie darauf geschäftig in der sich regte und gefolgt von Kit Kotton, mit klirrenden Schlüsseln von Gemach zu Gemach, von Schrank zu Schrank eilte, wurde auf dem Waldwege das Rollen eines Wagens vernehmbar. Gleich darauf hielt in geringer Entfernung von der Garteneinfriedigung ein Einspänner, gelenkt von einem etwa siebenzehnjährigen Burschen, und zur Erde sprang Doktor Hawkins.

»Fahre langsam auf und ab,« befahl er dem Burschen, und einen argwöhnisch forschenden Blick nach der vereinsamten Veranda hinübersendend, schlug er die nächste Richtung nach der Kommandobrücke ein. In dem Bewußtsein, von Melville ängstlich beobachtet zu werden, erstieg er die Treppe mit bedachtsam zur Schau getragener Sorglosigkeit. Kaum aber trat er mit ausgestreckter Hand und einen heiteren Gruß auf den Lippen vor jenen hin, als er plötzlich erschrocken stehen blieb, einen durchdringenden Blick in Melvilles Augen senkte und, wie von seinen Empfindungen überwältigt, sich auf dem nächsten Stuhl niederließ.

»Mein armer Freund,« hob er nach einer kurzen Pause des Schweigens an, und seine gedämpfte Stimme zitterte anscheinend vor Wehmut, »wie muß ich Sie heute finden! Ich ahnte dergleichen, oder ich hätte meinen Besuch noch einige Tage aufgeschoben – Sie blicken seltsam, als ob Sie jemand fürchteten. Was ist vorgefallen? Fassen Sie Mut, teuerster Kapitän; vergessen Sie nicht, daß Ihnen jemand zur Seite steht, der, wenn auch nicht immer sichtbar, Sie stets im Auge behält, mit Treue und Gewissenhaftigkeit Ihren bedrohlichen Gemütszustand überwacht. Und dennoch – sollten Sie nicht das unbedingteste Vertrauen zu mir besitzen, sollten die leisesten Zweifel über meinen klaren Blick Sie beschleichen, so bekennen Sie es offen. Wähnen Sie nicht, daß ich mich dadurch verletzt fühle. Im Gegenteil, ich selbst empfehle Ihnen bereitwilligst einen anderen Arzt; denn gerade in zweifelhaften Fällen, wie der Ihrige, ist es streng geboten, die geringfügigsten Regungen peinlich zu berücksichtigen, sollen nicht unberechenbaren Folgen die Pforten geöffnet werden.«

Solange Hawkins sprach – und einem ruhigen Beobachter wäre nicht entgangen, daß er mit scharfer Berechnung eine rätselhafte und daher doppelt beängstigende Bemerkung an die andere knüpfte – hatte Melville mit sichtbarer Bestürzung in seinem Antlitz zu lesen getrachtet.

Sobald Hawkins aber schwieg, ergriff er dessen Hand und leise, wie besorgend, im Hause verstanden zu werden, sprach er: »Doktor, mein Vertrauen zu Ihnen ist ein unbedingtes. Sie sind der erste, der mich auf eine gräßliche Gefahr aufmerksam machte, der einzige, der keinen Anstand nahm, mich über meine Gemütsstimmung aufzuklären. Und ich sollte einen anderen zu Rate ziehen? Einem anderen das furchtbare Geheimnis anvertrauen, damit er es verbreite? Nein, Doktor, verlassen Sie mich nicht in meiner Todesangst. Sie sind es allein, der mir zu helfen vermag; wehren Sie dem Gespenst, welches mich unablässig umkreist und martert, dem Gespenst des Wahnsinns, der Furcht, von denjenigen, die in Treue zu mir stehen, bange gemieden und geflohen zu werden. Lieber tot als länger ein Opfer solcher Qualen. Wie sehr ich mich dagegen sträuben mag: immer mehr befestigt sich in mir die schreckliche Überzeugung, daß ich der unheimlichsten aller Erkrankungen rettungslos verfallen. Wie lange kann es nur noch dauern, bis das, was Sie entdeckten, vor jedermann offenkundig daliegt?«

»Es wäre ein Verbrechen, mit der Wahrheit vor Ihnen zurückhalten zu wollen,« versetzte Hawkins, und seine seltsam stechenden Blicke bohrten sich förmlich in Melvilles Augen ein, »denn nur dadurch, daß Sie vertraut mit der Gefahr, ist es mir möglich, gemeinschaftlich mit Ihnen dieselbe zu bekämpfen und vielleicht zu besiegen, bevor sie einen bis zur Unheilbarkeit sich steigernden Umfang gewinnt. Wie starren Sie jetzt wieder ausdruckslos! Das darf nicht sein, muß unterdrückt werden, wenn es auch nicht mit einem Schlage beseitigt werden kann. Indem ich Sie beobachte, kann ich leider nur zu dem Glauben hinneigen, daß Ihr Gedächtnis bereits gelitten hat –«

»Nein, noch nicht,« unterbrach Melville ihn schaudernd, »wenn es nur ganz sterben wollte! Aber es lebt in furchtbarer Frische, und das ist die unerschöpfliche Quelle meines Trübsinns. Was mußte ich alles erfahren! Wie schwebt jedes verhängnisvolle Ereignis meinem Geiste mit entsetzlicher Klarheit vor! Wie gellen Flüche und bittere Vorwürfe mir Tag und Nacht in den Ohren!«

»So müssen wir das Unsrige tun, die allerdings berechtigten Eindrücke zu mildern,« versetzte Hawkins zuversichtlich. »Trachten Sie zunächst, alles, was Sie beängstigt, so oft wie möglich fest ins Auge zu fassen, um sich an den Anblick gewissermaßen zu gewöhnen. Vergegenwärtigen Sie sich den bluttriefenden Seeigel, der da drüben auf dem Meeresboden liegt, bis Sie ihn wirklich vor sich zu sehen meinen; vergegenwärtigen Sie sich die verglasten Augen der tapferen Bemannung, die ohne ihren Kommandanten von dannen mußte, bis dieselben ihre Schrecken für Sie verloren haben. Vergegenwärtigen Sie sich aber auch mutig das holde Wesen, welches einst zu Ihnen gehörte, seitdem in unbekannter Ferne verscholl, und das liebe, herzige kleine Kind –«

»Halten Sie ein, Doktor, halten Sie ein!« ächzte Melville, und sein fahles, in Schweiß gebadetes Antlitz erstarrte gleichsam, »ich ertrage es nicht – ach, diese Augen – die Liebe einer Heiligen –«

Sanft verweisend unterbrach ihn Hawkins, indem er die Hand auf seine Schulter legte.

»Sie müssen durchaus meine Ratschläge befolgen, oder ich stehe für nichts,« sprach er eindringlich, und wie um Tränen der innigsten Teilnahme zu erzeugen, blinzelte er heftig mit den regsamen Lidern. »Ganz verwischen lassen die bösen Eindrücke sich zwar nie; dagegen vermögen wir bei etwas ernstem Willen uns bis zu einem gewissen Grade mit denselben zu befreunden.«

Nachdem Hawkins geendigt hatte, beobachtete er sein unglückliches Opfer eine Weile lauernden Blickes. Melville saß da, wie dem Leben nicht mehr angehörend. Den Nacken gebeugt, stierte er vor sich nieder. Es war ersichtlich, Hawkins Aufforderung hatte Zweifel in ihm wachgerufen, welche zu bekämpfen er unter Aufbietung aller Kräfte sich bestrebte.

»Wünschen Sie die Prüfung Ihres Gemütszustandes einige Tage aufzuschieben, so bin ich gern dazu bereit,« brach der Doktor endlich das dumpfe Schweigen, »zugleich aber muß ich darauf hinweisen, daß ein derartig ernstes Gespräch sich nur so lange empfiehlt, wie es Ihnen noch verständlich. Später verbietet es sich von selbst.«

Melville sah empor. Unter dem Einfluß des seine körperlichen und geistigen Leiden hinterlistig ausnutzenden Verräters hatte der einst so verwegene Mann die letzte Willenskraft verloren.

»Fragen Sie, Doktor,« sprach er leise, als ob sein Todesurteil zu erwarten gewesen wäre, »machen Sie mit mir, was Sie wollen. Allem unterwerfe ich mich, nur die letzte Hoffnung rauben Sie mir nicht.«

»Freundliche Hoffnungen anregen möchte ich,« erklärte Hawkins unter heftigem Augenzwinkern, »Hoffnungen, an deren Hand es Ihnen möglich, die finsteren Dämonen des Wahnsinns erfolgreich zu bekämpfen. So befremdet mich zunächst, daß Sie einer Ihnen sehr nahestehenden Dame, einer gewissen Miß Melville, sich störrisch fernhalten, sogar Ihr Leben vor derselben verheimlichen. Ferner, daß Sie bisher nie die Neigung verrieten, nach Ihrem väterlichen Stammsitz zurückzukehren. Sie entsinnen sich der Tante Sarah?«

Wie seinen Ohren nicht trauend, sah Melville in Hawkins Augen.

»Was wissen Sie von der?« fragte er verstört.

»Viel, sehr viel,« antwortete Hawkins freundlich besänftigend, »und zwar durch Sie selbst. Oder erinnern Sie sich nicht, mehrfach darauf bezügliche Anmerkungen fallen gelassen zu haben?

»Ich?« rief Melville ungläubig aus, während sein geängstigter Geist in der Vergangenheit suchte.

»Sie selbst, mein armer Freund. Doch ich sehe, wie es damit steht; mehr, als ich fürchtete, entschwand Ihrem Gedächtnis, so auch, daß Sie bei meinem letzten Besuch mir anvertrauten, weder in brieflichem noch in sonstigem Verkehr mit der Schwester Ihres Vaters zu stehen. Und doch glaube ich, einzelnen Ihrer Andeutungen entnehmen zu dürfen, daß gemeinschaftliche Interessen zwischen Ihnen schweben. Sie bedienten sich mehrfach der Bezeichnung ›Dokument‹, wofür mir allerdings eine nähere Erklärung fehlt. Lege ich darauf aber hohen Wert, so darf Sie das nicht befremden. Ich muß vor allem die Ursachen der schwarzen Gedanken ergründen, die Ihren Geist peinlich beschäftigen! nur dann erst bin ich fähig, wohltätig wirkende Entscheidungen für Sie zu treffen. Sollte es sich also empfehlen, Sie wieder in Beziehung zu jener rätselhaften Dame zu bringen, so wäre ich mit Freuden bereit, die Rolle eines Vermittlers –«

»Unter keiner Bedingung geschieht das,« fiel Melville leidenschaftlich ein und matte Röte breitete sich über sein Antlitz aus, »nein, Doktor, ich habe gebrochen mit meiner Vergangenheit, gebrochen mit der väterlichen Heimstätte, gebrochen mit allen, die mir einst nahestanden und mittelbar oder unmittelbar zu meinem Dahinsinken beitrugen. Nein, von keinem will ich hören, keinen will ich wiedersehen, an keinen mehr erinnert werden. Da ich unbewußt so viel verriet, nehme ich keinen Anstand, vor Ihnen auch fernerhin mich frei darüber zu äußern.«

Durch krampfhaftes Zucken der Lider verheimlichte Hawkins die Befriedigung, die in seinen Augen aufleuchtete, und das Haupt nachdenklich wiegend, hob er an: »Als Sie eines Schriftstückes erwähnten, mich des Behälters, in dem Sie es aufbewahren, gewann ich den Eindruck, als ob es in Ihrer Gewalt läge, ein ansehnliches Vermögen flüssig zu machen. Ich würde alles als ein mir nicht gehörendes Eigentum in meiner Brust verschlossen gehalten haben, allein Ihr Zustand fordert gebieterisch, nichts unversucht zu lassen, den eigentlichen Urquell Ihres Leidens genau kennen zu lernen.«

»Also auch von dem Mahagonikasten sprach ich,« erwiderte Melville bestürzt, »unglaublich! Freilich, nur ich allein kann meine eigensten Geheimnisse verraten haben, Gott sei Dank, bei Ihnen ruhen sie sicher genug; und so mag ich Ihnen weiter beteuern – und augenblicklich ist mein Geist vollkommen klar – weder bei der Tante Sarah, noch in den rätselhaften Vermögensverhältnissen ist irgendeine böse Beunruhigung meines Gemütes zu suchen. Besäße ich aber die Macht, gemeinschaftlich mit jener Feindin in Melvillehouse Millionen zu erheben, so würde ich, um jeder Versuchung zu widerstehen, lieber das Schriftstück verbrennen und Hungers sterben, bevor ich deshalb auch nur ein Wort an jemand richtete, der die Haupttriebfeder war zu meinem Verderben. Anders wäre es, wenn meine arme, hingeopferte Frau und unsere Tochter noch lebten. Dann wollte ich mich allerdings nicht müßig finden lassen –« er brach ab, und wie in der Besorgnis, zu viel gesagt zu haben, sah er befangen in Hawkins' Antlitz.

»Und dennoch würde eine Verbesserung Ihrer äußeren Lage, die Möglichkeit, Ihren Wohnsitz zeitweise zu wechseln und größere Reisen mit aller Bequemlichkeit zu unternehmen, unzweifelhaft einen wohltätigen Einfluß auf Ihre Gemütsverfassung ausüben,« erklärte Hawkins teilnahmvoll.

»Ja, fort von hier,« unterbrach Melville den Doktor in Todesangst, »fort von einer Stätte, auf der ich so lange namenlos litt, fort, bevor das Ärgste auf mich hereingebrochen ist – aber heimlich, Doktor, ganz heimlich, so daß niemand die wahre Ursache meiner Entfernung ahnt« – und seine Stimme sank zu schwer verständlichem Flüstern herab – »Sie sind erfinderisch, Doktor; wir können vorgeben, ich habe eine Badereise unternommen, gleichviel, wohin. Nur die Wahrheit dürfen die zu mir Gehörenden nicht ahnen, vor allen Dingen nicht Flora, das liebe, zutrauliche Kind.«

Bei diesem Vorschlage leuchtete hinter den zwinkernden Lidern Hawkins' heimlicher Triumph auf. Indem Melville aber flehentlich zu ihm emporsah, begegnete er nur dem einzigen Ausdruck tiefen Mitleids und herzlicher Teilnahme.

»Ihre Bereitwilligkeit begrüße ich als ein günstiges Symptom,« begann er ernst; »daß Ihre bedrohliche Gemütsstimmung vorzugsweise auf eine Überreizung der Nerven zurückzuführen ist. So kann ich auch nur billigen, wenn Sie alles als tiefes Geheimnis bewahrt haben möchten.«

Melville hatte das Haupt tief gebeugt. Zu den Schweißtropfen, welche auf den Schläfen perlten, gesellten sich Tränen, die in seinen trostlos blickenden Augen zusammenliefen. Er gewahrte daher nicht, daß Hawkins ihn überwachte, wie wohl geschieht, wenn das durch chemisches Verfahren bewirkte Gefrieren des Wassers die Aufmerksamkeit fesselt. Und wie dem Wasser künstlich Leben und Beweglichkeit genommen wird, sollte ja hier der erschöpft um sein Bewußtsein kämpfende Geist in Erstarrung und Nacht versenkt werden. Ähnlich aber, wie Hawkins sein unglückseliges Opfer, beobachteten ihn selber von dem Hause aus Kit Kotton und Blackbird, während Flora arglos in dem Wohnzimmer ihres Wohltäters waltete.

Endlich richtete Melville sich wieder empor. Auf seinem entstellten Antlitz prägten sich Angst und Zweifel aus. Als wäre von diesen allein nur noch Rettung zu hoffen gewesen, hingen seine Blicke gespannt an Hawkins' Lippen.

»Da ist Kit Kotton,« sprach er schüchtern, »er ist der einzige, der mein Unglück ahnt. Ihn möchte ich mit mir nehmen. Im Laufe der Jahre gewöhnte ich mich an seine Bedienung. Er kennt meine Eigentümlichkeiten; überall würde er mir fehlen. Auch sprach ich zuweilen über mein Befinden mit ihm. Bliebe er zurück, so würde er mein heimliches Davongehen richtig deuten, nichts ihn hindern, zu Flora und anderen seine Mutmaßungen zu offenbaren.«

»Zu ihm sprachen Sie darüber?« erwiderte Hawkins, die Brauen runzelnd, »das ist allerdings sehr bedauerlich. Glücklicherweise sind solche einfachen Naturen leicht zu beruhigen, sogar vom Gegenteil der Wahrheit zu überzeugen. Es bedarf nur, daß Sie die letzte Zeit Ihres Zusammenseins mit ihm dazu benutzen, den etwa in ihm wachgerufenen Verdacht wieder zu ersticken. Denn gegen seine Begleitung muß ich strengen Widerspruch erheben, Beständen Sie dennoch darauf, so könnte ich die Verantwortlichkeit für die Zukunft nicht übernehmen. Ich würde es sogar als meine Pflicht betrachten, mich gänzlich zurückzuziehen –«

»Nein, Doktor, das dürfen Sie nicht,« fiel Melville mit einem ergreifenden Ausdruck der Verzweiflung ein, »nein, Sie dürfen mich meinem Schicksal nicht überlassen – schon allein der Gedanke daran macht mich erbeben – da – jetzt hämmert es wieder in meinen Schläfen – retten Sie mich, Doktor, wenn noch ein Funke von Mitgefühl in Ihnen wohnt.«

»Nicht doch, teurer Freund,« riet Hawkins nunmehr dringend, »bedenken Sie, wir mögen von dem Hause aus beobachtet werden. Sogar der Hund hier blickt befremdet zu Ihnen auf. Jede neue Aufregung vergrößert die Gefahr – mein Gott, wie blicken Sie wieder stumpf und unheimlich! Sehen Sie aufs Meer hinaus, welches Sie so lange trug, Sie in der Blüte der Jahre und der Kraft kennen lernte. Fassen Sie Mut, mein armer Freund, erleichtern Sie mir die schwere Aufgabe und sagen Sie sich auf kurze Zeit von jemand los, dessen Anblick Sie nur peinlich an dieses oder jenes erinnern würde,«

»Wohin wollen Sie mich führen?« fragte Melville befangen, wie in Sorge, durch Neugierde sich Tadel zuzuziehen.

»An einen Ort, wo Sie sich wohl und zufrieden fühlen werden. Den Namen nenne ich nicht. Er möchte Ihnen entschlüpfen und Sie wären nicht sicher, von Kit Kotton aufgesucht zu werden, und das darf nicht geschehen. Nur so viel: in ländlicher Einsamkeit finden Sie die reichste Augenweide und eine Ihrem Zustande entsprechende liebevolle Begegnung. Glauben Sie mir, ich wählte das Beste für Sie.«

»Aber dann bald,« bat Melville dringend, »so bald wie möglich; ich fühle, wie diese Ungewißheit in meinem armen Kopfe arbeitet und bohrt.«

»Ihren schnellen Entschluß begrüße ich ebenfalls als ein günstiges Zeichen. Wer weiß, ob es nach drei Tagen noch ebenso ist. Bestimmen wir daher vorläufig den morgigen Nachmittag. Ein Wagen wird Sie abholen. Sie selbst haben nur nötig, dafür zu sorgen, daß Kit und der Seminole nicht daheim sind. Sie sind ja noch klar genug, um irgendeinen Vorwand zu erfinden, unter welchem Sie beide nach der Stadt schicken.«

»So muß ich ohne Kit Kottons Beistand meine Reisevorkehrungen treffen,« bemerkte er nach einer Pause eintönig, »und was soll ich da mitnehmen?«

»Vorläufig nur das Allernotdürftigste zum täglichen Gebrauch,« antwortete Hawkins, und lauernder wurde der Blick hinter den regsamen Augenlidern. »Zum heimlichen Packen bleibt Ihnen ohnehin keine Zeit und Gelegenheit.«

»Aber Geld?«

»Wollen Sie einige hundert Dollars zu sich stecken, so tun Sie es unbesorgt; im übrigen genügt zu größeren Auslagen meine Bürgschaft. Am ratsamsten ist es für Sie, jede Sorge um materielle Dinge ganz abzustreifen, und für das, was Sie hier zurücklassen, bietet Kit Kotton gewiß ausreichende Sicherheit. Nur wenn Sie irgend etwas besitzen, worauf Sie besonderen Wert legen, vielleicht Andenken oder Briefschaften, welche pietätvoll selbst zu überwachen Sie sich gewöhnten, so tun sie gut, sich auch fernerhin nicht davon zu trennen. Da – Ihr Gesichtsausdruck wechselt wieder. Ich lese in Ihren Zügen Furcht, daß dieses oder jenes in fremde Hände fallen könnte. Gestehen Sie offen: habe ich recht?«

Melville sah verstört in Hawkins Augen. In seinem Blick offenbarte sich erwachendes Mißtrauen, für jenen ein verständliches Zeichen. Eine Weile ging er mit sich zu Rate, dann antwortete er erzwungen sorglos: »Jeder Mensch besitzt Dinge, die er ungern verliert. In den meisten Fällen sind es gerade die wertlosesten Gegenstände, die durch Erinnerungen geheiligt sind. So ergeht es mir.«

»Um so mehr Grund, sich nicht davon zu trennen,« versetzte Hawkins gelassen, »doch handeln Sie, wie es am meisten Ihren Neigungen entspricht. Nach dieser Richtung hin darf ich Ihnen keinen Zwang auferlegen.«

In diesem Augenblick erschien Flora, ein Bild holder hausmütterlicher Geschäftigkeit, auf der Veranda und spähte nach der Plattform hinüber.

»Wir werden von scharfen Augen beobachtet,« verfiel Hawkins in einen sorgloseren Ton, »und darnach müssen wir uns ein wenig richten. Was zu vereinbaren unabweislich gewesen, haben wir erledigt. Zweifel können nicht mehr walten. Morgen nachmittag um diese Zeit sind Sie unterwegs, und gereicht es Ihnen zur Beruhigung, so verspreche ich gern, Sie von Zeit zu Zeit zu besuchen –«

»Ja, Doktor, das tun Sie,« warf Melville lebhaft ein und auch er befleißigte sich einer freieren Haltung, »Sie sind meine einzige Hoffnung; unbelohnt soll es Ihnen nicht bleiben, wenn ich zu seiner Zeit geheilt wieder hier einziehe.«

»Nebendinge, mein verehrter Kapitän. Hauptsache bleibt für Sie, nicht durch die leiseste Miene zu verraten, was zwischen uns schwebt. Raffen Sie sich auf, versuchen Sie, in die Ihnen sonst so geläufige Rolle eines aufmerksamen Gastfreundes einzutreten; um Ihrer selbst willen müssen wir uns aufs Täuschen verlegen.«

Der Abend war nicht mehr fern, als Hawkins sich verabschiedete. Seine Aufforderung, mit ihm zugleich die Gelegenheit zur Heimkehr zu benutzen, lehnte Flora höflich ab. Dagegen begleitete Kit Kotton ihn auf einen nicht mißzuverstehenden Wink bis zum Wagen.

»Kit Kotton,« redete er diesen an, sobald sie sich außerhalb der Hörweite Melvilles befanden, »ich habe Sie stets für einen treuen und gewissenhaften Diener gehalten; da stehe ich nicht an, Ihnen im Vertrauen einige ernste Ratschläge zu erteilen. Ich fasse mich kurz, um auf der Plattform keinen Argwohn zu erregen. Zu meiner tiefen Betrübnis entdeckte ich bei Ihrem Herrn die ersten Anzeichen einer bösen Geistesverwirrung. Noch ist es vielleicht nicht zu spät, dem Unglück durch weise Maßregeln vorzubeugen; dagegen müssen wir streng vermeiden, unseren Verdacht durchblicken zu lassen. Miß Flora bleibt selbstverständlich ganz aus dem Spiel; Weibernaturen sind nicht geschaffen, peinlich wirkende Geheimnisse in sich zu verschließen, und offenbarten sie dieselben auch nur in Blick und Mienen. Mit Ihnen ist es etwas anderes. Daher muß die ganze Last, die ganze Verantwortlichkeit auf Ihre Schultern gewälzt werden. Jetzt merken Sie auf: durch klug gestellte Fragen entlockte ich Ihrem Herrn das Geständnis, daß in nächtlichen Stunden der Schlaflosigkeit zuweilen Lebensüberdruß ihn fast übermannt, so daß das ärgste zu befürchten, wenn er nicht aufmerksam überwacht wird. Ich rate Ihnen daher, unter irgendeinem harmlosen Vorwande Ihr Bett in der Nachbarschaft des Kapitäns aufzuschlagen. Dann sorgen Sie dafür, daß alle seinen Launen, Wünsche und Befehle so pünktlich und schnell wie möglich erfüllt werden. Ich wiederhole: Wachsamkeit, Vorsicht und bereitwilliges Eingehen auf alle Launen, und wären sie noch so wunderlich, sind Hauptbedingungen.«

Sie waren bei dem Wagen eingetroffen. Mit kurzem Gruß und ohne eine Erwiderung abzuwarten, bestieg Hawkins denselben und gleich darauf rollte er davon.

Förmlich verwirrt blickte Kit Kotton ihm nach. Derartige Aufklärungen und vertrauensvolle Ratschläge waren das letzte, was er gerade von Hawkins erwartet hatte. Seine Abneigung gegen ihn konnte dadurch freilich nicht erschüttert werden; dagegen erschienen die seit längerer Zeit beobachteten Seltsamkeiten seines Herrn ihm plötzlich in einem anderen Lichte, Vorsicht, Wachsamkeit und Nachgiebigkeit waren ihm zur Pflicht gemacht worden; das klang ehrenwert und vernünftig genug. Trotzdem vermochte er nicht von dem Verdachte sich loszusagen, daß Hawkins einen bösen Einfluß auf den Kapitän ausübe.

Sorgenvoll kehrte er sich der Plattform zu. In der Nähe der Veranda trat Flora ihm heiteren Blickes entgegen. Sie war zur Heimkehr gerüstet; ihr auf dem Fuß folgte Wasp in seltsamen Paßschritt. Als sie ihm zum Lebewohl mit ihrem glücklichsten Lächeln die Hand reichte, kostete es ihm keine geringe Mühe, ebenfalls munter dareinzuschauen. Nicht um die Welt hätte er das fröhliche Mädchen zur Mitwisserin des bösen Geheimnisses gemacht.

 


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