Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Die Befreiung.

Nachdem Kit eingetreten war, blieb er bestürzt stehen. Er schien nicht fassen zu können, daß man seinen Herrn, in dem er einen Halbgott verehrte, in einem derartigen scheußlichen Raum untergebracht habe. Erst als von der Pritsche her ein schmerzlicher Seufzer ihn erreichte und er in ein entsetzlich abgezehrtes Antlitz sah, aus welchem zwei große Augen ihn mit stumpfem Ausdruck anstierten, schritt er hinüber und mit dem Ruf: »Die Hölle über die Schurken!« warf er sich vor dem widerwärtigen Lager auf die Knie.

Schärfer blickte Melville in das breite Gesicht des ehrlichen alten Burschen, dann sprach er wie im Traume: »Kit Kotton, wenn es kein Gebilde einer kranken Phantasie, sage mir nur das eine: zähle ich wirklich zu den vernunftlosen Geschöpfen? Mein Gott, mein Gott, wann endet diese Pein –«

»Bald, bald endigt sie, Kapitän,« fiel Kit in seiner rauhen herzlichen Weise ein, »und ich bin hier, um Sie ein wenig vorzubereiten – vernünftig sind Sie ebenfalls, so vernünftig, wie ich und Miß Flora nur sein können.«

»Kein Traum, keine Täuschung,« versetzte Melville, und er stöhnte verzweiflungsvoll, indem er Kits Hand ergriff und krampfhaft drückte.

»Keine Täuschung,« beteuerte dieser, »bin ich's doch selber, ich, der Kit Kotton, und hier neben mir Wasp – wie er Sie betrachtet – legen Sie die Hand auf seinen Schädel, damit Sie's glauben. Wir sind gekommen mit anderen, um Sie zu befreien –«

»Bin ich denn gefangen, Kit? Meines Wissens begab ich mich in die Behandlung –«

»Ja, Kapitän Melville, in die Behandlung eines Rings so niederträchtiger Schurken, wie nur je einer verdiente, an der Raanocke aufgehißt zu werden, und der Doktor Hawkins ist der ärgste von allen. Denn ich wiederhol's, Sie sind so gesund wie ich, Miß Flora und Wasp zusammengenommen. Nur über Seite wollte man Sie schaffen; da sind wir noch gerade zur rechten Zeit eingetroffen, doch ermuntern Sie sich, das erleichtert uns die Sache, damit morgen um diese Zeit wir uns wohlbehalten in dem Strandhause befinden.«

»Kit, Du magst recht haben; ich fiel in gewissenlose Hände. Augenblicklich bin ich klaren Geistes. Rate daher, was ich tun soll.«

»Sie sind noch nie unklaren Geistes gewesen, Kapitän, denn die paar Schrullen rechnen nicht. Und tun sollen Sie weiter nichts, als mit uns gehen.«

»Kit, du weißt, wie es mit meinen Füßen steht, und heute fühle ich mich schwächer, denn je zuvor.«

»Die Hölle über die Schurken, die Ihre Schwäche verschulden,« versetzte Kit zähneknirschend, »für Ihr Fortkommen sorgen wir, und besäßen Sie nicht mehr Kraft in den Beinen, als ein krankes Huhn. Aber bei Gott! Sind wir erst daheim, so halten wir Abrechnung mit allen. Ausplündern wollte man Sie; da sollten Sie zuvor verrückt gemacht werden. Jetzt aber raffen Sie sich auf, wie einstmals, als Sie auf der Kommandobrücke lustig mit Tod und Teufel hantierten und dem Kartätschenhagel ins Angesicht lachten.«

»Kit, Kit,« seufzte Melville, wie jemand, der bereits mit dem Leben abschloß, »erinnere mich nicht an jene Zeiten, die mein ganzes Unglück in sich bergen. Ich fühle mich zu krank. Was vor einer halben Stunde geschah, vergeß ich in der nächsten Minute. Mein Gedächtnis hat gelitten –«

»Unsinn, Kapitän,« fiel Kit verstört ein, und er schob seinen Arm unter Melvilles Kopf, um ihn zu stützen, »Ihr Gedächtnis war von jeher ein feines, zu fein in der Güte für andere, zu fein im Argen für Sie selbst, und so ist's heute noch. Belogen und betrogen hat man Sie, und der Schurke, der Hawkins, machte den Anfang. Hinterher ist's mir so klar geworden, wie 'n deutlich geschriebener Küchenzettel. Sogar an den Mahagonikasten wollten sie –«

Melville richtete sich erschrocken auf.

»Kit Kotton!« rief er unter sichtbarer Anstrengung aus, »der Kasten – man raubte ihn dir – der Verräter Slowfield – das Weib auf der Plantage – mögen sie verflucht sein für den Dienst, den sie mir und zwei unschuldigen Wesen –«

»Mögen sie zehnmal verdammt sein,« benutzte Kit einen Atemzug der Pause in Melvilles krankhaft überstürzten Mitteilungen, »und um zu dem Kasten zu gelangen, hätten sie durch meine eigenen Augen sehen müssen; denn der liegt so sicher verstaut, wie ein gekappter Anker im Binnenhafen –«

Bis dahin hatte Gregor regungslos vor dem Türchen gestanden; jetzt aber trat er zur Seite. Wie in einem Anfall von Schwäche lehnte er sich an die Wand. Was die beiden in der feuchten Höhle sprachen, es war für ihn verloren gegangen, so starr hatten seine Blicke an der gebrochenen Gestalt Melvilles gehangen. Dem ersten Entsetzen über dessen Erscheinung war ein eigentümliches Gefühl innerer Befriedigung gefolgt. Als einen Mann in der Blüte der Jahre und im Vollbesitz üppiger Jugendkraft und ungestümen Mannesmutes hatte er ihn zum letzten Male gesehen, und jetzt lag er vor ihm, ein hinfälliger Greis, der nur noch unter Beihilfe anderer sich einherzubewegen vermochte.

Aus dem dumpfen Gemach drang Melvilles jammervoll klagende Stimme zu ihm heraus; neben ihm keuchte das verbrecherische Weib in verzehrender Wut: für ihn floß beides ineinander. Erst als Kits rauhes Organ erklang, wie er seinen Herrn treuherzig ermutigte und tröstete, wurde er milderen Regungen wieder zugänglich. Er verglich dessen unerschütterliche Anhänglichkeit mit der opferwilligen Hingebung Singsangs, und neue Bilder, die ihn in eine weite Vergangenheit zurückführten, erstanden vor seiner Seele.

Aus dem vor ihm liegenden finsteren Gange tönte Franks Stimme zu ihm herüber.

»Was gibt's?« fragte er, sich Frank langsam entgegentastend.

»Der Irrsinnige, der zwischen uns hindurchschlüpfte, hat die beiden Männer gerufen,« berichtete Frank hastig.

»Dann schnell auf deinen Posten zurück,« riet Gregor dringend, und vom Scheitel bis zu den Sohlen herunter war er wieder der besonnene, rasch urteilende und entscheidende Mann, »laßt keinen herein; in zwei Minuten bin ich bei euch.« Er trat vor die kleine Maueröffnung.

»Kit!« rief er herein, »kommen Sie eiligst mit der Lampe. Es geht alles nach Wunsch. In kurzer Frist mögen Sie sich mit Ihrem Herrn auf den Heimweg begeben.«

Kit verlor keine Zeit, zumal in Gregors bedachtsam gewählten Worten die ernsteste Beruhigung für Melville enthalten gewesen war. Auf Gregors Rat verschloß er die Tür, worauf er den Schlüssel zu sich steckte, dann traten beide vor das verräterische Weib hin.

»Setzen Sie sich nieder,« befahl Gregor mit einer Strenge, daß Jessie wie ein gepeitschter tückischer Hund in die Knie brach; und zu Kit: »Ziehen Sie die Leine fester an. Schnüren Sie ihr die Füße zusammen, bis das Blut hervorquillt, oder sie stiftet hinter unserem Rücken Unheil.« Kits flinke Hände aufmerksam überwachend, zögerte er, bis dieser seine Arbeit kunstgerecht beendigt hatte, und abermals sprach er zu dem Weibe: »Hier sehen Sie den Hund; der findet seinen Weg im Dunkeln. Beim ersten Laut, den Sie von sich geben, schicke ich Ihnen die Bestie auf den Hals; dann aber dürfte sie weniger sanft mit Ihnen verfahren, als Sie mit dem Manne da drinnen.« Mit dem letzten Wort kehrte er sich ab, und dem vorausleuchtenden Kit folgend, schritt er nach der Haustür hinüber.

»Der traue der Teufel,« meinte Kit verdrossen während des Einherschreitens, »ein ordentlicher Schlag auf ihren Schädel möchte ein sichreres Mittel gewesen sein.«

»Nicht doch, Kit,« antwortete Gregor ruhig, »wir sind hier, um jemand zu befreien, nicht um Gericht zu halten. Da ist die Tür. Löschen Sie die Lampe aus, oder es fliegen uns vom Walde her Kugeln um die Ohren.«

Kit befolgte den Rat und die letzten Schritte legten sie im Dunkeln zurück.

Frank und Blackbird standen zu beiden Seiten des Eingangs und spähten ins Freie hinaus. Auf des Seminolen Rat stellten Gregor und Kit sich neben ihnen auf; dann war es so still, daß man beinah die Atemzüge jedes einzelnen hätte zählen können. Draußen knisterte und knackte dagegen das niedergebrannte Feuer, während aus dem Waldesdickicht das Krähen, Gackern und Bellen herüberdrang, mit welchem der unglückliche Irre bei seinem planlosen Umherschweifen sich vergnügte. Die Stimmen Darks und Tobys waren verstummt; ebenso lauschte man vergeblich auf das Rollen des Wagens, den man nunmehr glaubte zurückerwarten zu dürfen. Das Schweigen deutete man daher in günstigem Sinne, davon ausgehend, daß, wenn der Blödsinnige die ihm von Jessie übertragene Botschaft wirklich ausrichtete, dieselbe als eine Ausgeburt seines Irrwahns aufgenommen worden sei. Die zuvor lautgewordenen Flüche betrachtete man dagegen als eine Kundgebung des Verdrusses über den mißlungenen Versuch, des Flüchtlings wieder habhaft zu werden.

So verrann eine Viertelstunde, ohne daß in der näheren wie in der weiteren Umgebung eine Bewegung stattgefunden hätte. Unter den vier Gefährten begann der erste Argwohn sich zu regen. Nach kurzer Verständigung glitt Blackbird ins Freie hinaus und kroch hart an dem Hause hin nach dessen Giebel herum. Minuten der äußersten Spannung schlichen wieder dahin, als Wasp, der so lange, ins Freie hinausspähend, auf der Schwelle gelegen hatte, sich plötzlich umkehrte und seine Aufmerksamkeit dem Inneren des Hauses zuwendete. Zugleich unterschieden die drei Gefährten ein schnurrendes Geräusch, das aus der Richtung zu ihnen herüberdrang, in welcher Jessie gefesselt lag.

»Es ist nichts,« beruhigte Gregor, »dem Weibe mag die gezwungene Lage unbequem geworden sein, daß es sich herumwälzte.«

»Und ich verschürzte die Knoten so fest, daß eine gute Hand dazu gehört, sie wieder zu lösen,« fügte Kit schadenfroh hinzu.

Er hatte kaum geendigt, als Blackbird in der Tür auftauchte und einen als schwarze unförmliche Masse sich auszeichnenden Gegenstand vorsichtig in den Türwinkel legte.

»Stiefel sind es,« sprach er leise, »vier Stiefel. Die standen neben der Hoftüre. Zwei Männer sind im Hause. Sie gehen barfuß. Sie wollen nicht gehört werden. Keiner darf sich rühren. Das Feuer da schickt Helligkeit herein. Hier in dem Gang ist's gefährlich. Draußen ist es sicher.«

»Wir möchten den Hund hineinschicken,« meinte Kit, indem er den anderen ins Freie hinausfolgte, »der hat die Schurken längst gewittert; umsonst ist er nicht unruhig geworden.«

»Noch nicht,« riet Blackbird zuversichtlich, »wir müssen beide fangen. Bleiben sie frei, so folgen sie uns durch den Wald. Da schießen sie auf uns, und wir sehen sie nicht. Wir müssen beide fangen.«

Nachdem er Kit und Frank angewiesen hatte, ihren Platz neben der Tür nicht zu verlassen, noch weniger das Haus zu betreten, wo sie auf jedem Schritt von den unsichtbaren Feinden niedergeschossen werden konnten, forderte er Gregor auf, ihm nach dem Feuer hinüber zu folgen. Dort nahmen sie einige wenig leuchtende glimmende Holzstücke und von dem zur Hand liegenden dürren Reisig so viel, wie sie bequem zu tragen vermochten, und mit äußerster Vorsicht schlichen sie nach der Hofseite des Hauses herum. Da Toby und Dark ihre Aufmerksamkeit ausschließlich der Vorderseite zukehrten, so erreichten sie unentdeckt die Hoftür. Diese stand halb offen, so daß nichts sie hinderte, das leicht brennbare Reisig auf der Schwelle aufzutürmen. Durch einige Schwingungen setzten sie die Feuerbrände in Flammen, so daß, als sie dieselben unter das Reisig schoben, es alsbald zu knistern und zu flackern begann; zugleich sandte es, begünstigt durch den ins Haus hineinströmenden Luftzug, eine ätzende Rauchwolke in die Gänge hinein. Sie waren noch mit Schüren beschäftigt, als eine Bewegung auf der anderen Seite des Feuers ihre Aufmerksamkeit erregte. Aufschauend erkannten sie das seiner Banden entledigte Weib, wie es mit unverkennbarem Entsetzen beide Arme emporhob, sich hastig umkehrte und im Innern des Hauses verschwand.

Ein Schuß, durch die Windungen der Flurgänge gedämpft, dröhnte aus dem Vorderhause herüber. Ein zweiter folgte; dann aber erhob sich ein Brüllen, das, durch Wut und Todesangst erpreßt, nichts Menschlichem mehr glich. Gregor gedachte Franks und Kit Kottons. Im Begriff, ihnen zu Hilfe zu eilen, wurde er durch Laufen und Schreien auf der anderen Seite des Feuers zurückgehalten.

»Mir nach!« hieß es da gellend, »mir nach, wenn du nicht geröstet werden willst, wie 'ne Hammelrippe!« Ein Schuß, offenbar blindlings abgefeuert, um den Weg frei zu legen, einte sich mit den letzten Worten; ein hochgeschwungener Arm, mit einem Revolver bewaffnet, wurde oberhalb des Feuers sichtbar, und in der nächsten Sekunde setzte Toby mit einem mächtigen Sprunge über dasselbe hinweg. Bevor er aber festen Fuß faßte oder die Pistole zur Gegenwehr abermals zu erheben vermochte, traf Gregors Faust ihn mit einer Gewalt vor die Stirn, daß er mitten durch das Feuer hindurch in den Gang zurücktaumelte und dort zusammenbrach. Gregor sah nur noch, daß die wie wahnwitzig aufkreischende Megäre sich flüchtig zu dem Gefallenen niederbückte und in entgegengesetzter Richtung davoneilte; dann schmetterte er die Tür ins Schloß, den auf der Außenseite steckenden Schlüssel zweimal umdrehend.

»So,« sprach er zu Blackbird, »hier sind sie vorläufig sicher genug verwahrt; durch die Fenster zu brechen, möchten sie doch die Eisenstäbe hindern,« und des Seminolen nicht weiter achtend, eilte er nach dem Vorderhause herum.

Als er daselbst eintraf, war bereits Ruhe eingetreten. Dagegen fand er den Flurgang erhellt. Frank leuchtete mit einem fackelartig brennenden Holzscheit, während Kit eifrig damit beschäftigt war, dem auf der Erde liegenden Dark die Handgelenke unbarmherzig zusammenzuschnüren. Dark selbst gebärdete sich wie ein von der Axt gefällter Stier. Schnaubend stieß er den Atem von sich; Fluch auf Fluch entquoll seinen Lippen, über die von beiden Seiten stark blutende Risse hinliefen.

Aus dem Bericht, mit dem Kit seine Arbeit begleitete, ging hervor, daß Wasp, durch die Nähe des herbeischleichenden Dark gereizt, den ersten Angriff auf eigene Faust unternommen hatte. Die beiden auf ihn abgefeuerten Schüsse aber waren Ursache gewesen, daß Kit ihn durch Hetzrufe anfeuerte. Vor seinem ersten Anprall war Dark auf den Rücken gefallen, und bevor er sich dagegen zu schützen vermochte, hatte das ergrimmte Tier mit seinem furchtbaren Rachen ihn quer über das Gesicht gepackt.

»Wir sind noch nicht fertig,« bemerkte Gregor finster, als er den elenden Verbrecher endlich wehrlos vor sich liegen sah, »was ferner mit ihm werden soll, mögen die Behörden entscheiden. Wir haben nur dafür zu sorgen, daß er nicht entkommt,« und Frank zur Bewachung des Gefesselten zurücklassend, folgte er in der Begleitung Kits, der die Lampe wieder angezündet hatte, der Richtung des sich ihnen entgegenwälzenden Rauchs. Nach wenigen Schritten stieß er auf Toby. Noch halb betäubt gegen die Folgen des furchtbaren Schlages kämpfend, trachtete er, aus der Nähe des schwälenden Feuers fortzukommen. Durch den Lichtschein und das von seiner Stirn rieselnde Blut geblendet, sah er wild zu Gregor empor. Er schien darauf gefaßt zu sein, einen zweiten Schlag zu empfangen, enthielt sich aber in seiner tückischen Verbissenheit jeder Äußerung der Furcht oder des Trotzes. Auf Gregors Rat schnürte Kit auch ihm die Hände auf dem Rücken zusammen, worauf er gezwungen wurde, in das nächste Gemach einzutreten. Indem Gregor dessen Tür öffnete, fiel sein erster Blick auf Jessie. In einem Winkel kauerte sie auf der Erde, eine zerfetzte wollene Decke halb über sich hingezogen. Nachdem nunmehr auch Tobys Füße gefesselt worden, wurde das Weib in ähnlicher Weise unfähig zu jeder selbständigen Bewegung gemacht. Dessen von Todesangst getragene Einwendungen blieben unbeachtet. Nur als es die Besorgnis kundgab, unter den Trümmern des brennenden Hauses begraben zu werden, beruhigte Gregor es durch das Versprechen, daß er nicht von dannen gehe, ohne zuvor die letzte Feuersgefahr beseitigt zu haben.

Noch einmal überzeugte er sich von der Sicherheit der Umgebung, indem er in alle Räume hineinleuchtete; dann erst beauftragte er Kit und Frank, den Kapitän ins Freie zu führen. Es war verabredet worden, um jede heftige Erregung zu vermeiden, Melville vorläufig im Ungewissen über diejenigen zu lassen, die zu seiner Rettung herbeigeeilt waren. Seinen Gemütszustand berücksichtigend, beschloß man, die Enthüllungen, soweit Gregor sie nicht einschränkte, Flora anheimzugeben. –

Gregor, offenbar scheuend, an dem Hinausschaffen Melvilles sich zu beteiligen, ging nach dem Fluß hinüber, um den Wagen herbeizuholen. Zu derselben Zeit begab Blackbird sich auf den Weg zu seinem Mustang.

Als ersterer nach einer Viertelstunde vorfuhr, saß Melville in der Nähe des frisch geschürten Feuers auf einem Stuhl. Vor ihm saß Wasp, den Riesenkopf auf seinen Knien rastend. Der plötzliche Übergang von einer entsetzlichen Gefangenschaft zur Freiheit, von einer erstickenden Atmosphäre zum Vollgenuß der kühlen Nachtluft hatte ihn offenbar tief erschüttert. Nicht einmal nach den Namen seiner Retter fragte er. Nach den bisherigen boshaften Täuschungen schien er die Wirklichkeit des jähen Wechsels noch immer zu bezweifeln. Bedachtsam wurde vermieden, ihn in seinem Ringen nach Klarheit des Geistes zu stören. Kit und Frank standen neben ihm. Blackbird, der mit dem Mustang früher eingetroffen war, lehnte sich neben dem Feuer auf seine Büchse; hin und wieder schweiften seine Blicke zu Melville hinüber, in dem er auf Grund von dessen Gemütsstimmung und nach indianischen Begriffen ein von dem großen Geist bevorzugtes Wesen zu entdecken meinte.

Als Gregor mit einem ernsten, aber kurzen Gruß vor Melville hintrat, sah dieser schwerfällig empor.

»Es ist nicht wahr,« sprach er wie in erwachendem Unwillen, »seit ich an diesem Ort weilte, bin ich kein einziges Mal in die freie Luft geführt worden. Nein, den Genuß hätte ich nie vergessen. Man hat mich belogen und betrogen –«

»Die Schurken werden ihrer Strafe nicht entgehen,« fiel Gregor mit Unheil verkündender Ruhe ein, »jagten wir jedem einzelnen im Hause eine Kugel durch den Kopf, so geschähe ihnen nach Gebühr,« und nach dem Wagen hinüberschreitend, begab er sich ans Werk, auf demselben einen bequemen Sitz für Melville herzurichten.

Frank blieb in der Nähe Melvilles, während Blackbird und Kit sich beeilten, von den mitgenommenen Vorräten ein Mahl herzurichten. – – –

Als die Sonne ihre ersten Strahlen über die mit schweren Tautropfen behangenen Baumwipfel hinwegsandte, befanden die Reisenden sich weit abwärts. Wie hoch oben, funkelte und glitzerte es auch auf dem Erdboden in allen Regenbogenfarben, wohin nur immer ein bißchen Sonnenlicht seinen Weg fand. – –

Vor dem alten Gebäude im Schatten eines Hickorybaumes schlummerte, nachdem er sich zuvor gesättigt hatte, sorglos der arme Harry. Ihn beschirmte der Engel der Barmherzigkeit. Ein finsterer Höllengeist stand den gefesselten Verbrechern mit Rat zur Seite, daß Dark sich neben seine Genossin hinwälzte und es dieser ermöglichte, die seine Hände auf dem Rücken zusammenhaltenden Banden mit den Zähnen allmählich durchzunagen. – –

Wenn auch nach anstrengender Fahrt und nach mancher Rast, hatte Melville das Strandhaus doch wohlbehalten erreicht. Er lebte auf unter dem Eindruck der Kunde, daß es nahe Verwandte, welche ihn in ihren Schutz genommen hatten; es befestigte sich sein Denkvermögen unter dem ernsten Zuspruch Gregors, der, ein unumschränkter Herr des eigenen Willens, mit seinen Offenbarungen nicht über eine genau abgemessene Grenze hinausging und dadurch Frank ebenfalls in seinem Verhalten bestimmte.

Kit hatte seinen Weg durch die Stadt genommen und traf etwas später mit Flora im Strandhause ein. Gemeinschaftlich mit dem Fuhrwerk übermittelte Gregor die Anzeige der jüngsten Erlebnisse an die betreffende Behörde, die alsbald Anstalt traf, des Verbrecherkleeblattes wie des jungen Irren sich zu versichern. Die nach dem Hause entsendeten Leute fanden nur noch letzteren vor. Vor dem alten Gebäude kauerte er, sich ergötzend an den Rauchwolken, die noch immer den geschwärzten nackten Mauern entstiegen. Weitere Nachforschungen ergaben, daß es Dark und den Seinigen gelungen war, sich der Fesseln zu entledigen und die Tür zu sprengen. Bevor sie in dem schwerbefrachteten Prahm die Reise stromabwärts antraten, hatten sie Feuer an die Gebäude gelegt. Man spähte den Flüchtlingen wohl nach, allein nirgends entdeckte man eine Spur von ihnen. Nachdem sie bis dahin gelangt waren, wo ein sicherer Weg in die Sümpfe hinein sich vor ihnen öffnete, hatten sie, nach Ausschiffen ihrer Habseligkeiten, das Fahrzeug wahrscheinlich versenkt.

Auch den von schwerem Verdacht belasteten Doktor Hawkins fand man nicht mehr in seiner Wohnung. Anfänglich hieß es, er habe sich zu einem Kranken über Land begeben. Als er aber auch folgenden Tages nicht zurückkehrte, wurden Erkundigungen nach ihm angestellt, und die ergaben, daß er zur nächsten Dampfschiffstation gefahren und von dort aus mit zwei Koffern seine Reise ohne Angabe irgendeines Zieles zu Wasser fortgesetzt habe.

Und so blieb von allen, die in näherer Beziehung zu dem Fort gestanden, nur noch Harry, für den auf Melvilles Kosten in angemessener Weise Sorge getragen wurde, bis dieser ihn endlich zu sich nach dem Strandhause nahm. Es konnte ohne Besorgnis geschehen, indem nach der unausgesetzten furchtbaren Überreizung und unter dem Einfluß einer gütigen Behandlung ein in mildester Form auftretender Stumpfsinn bei dem armen Burschen die Oberhand behielt. Sein sanftes, freundliches Wesen stand in engster Beziehung zu den körperlichen Leiden, welche ihm keine allzulange Lebenszeit mehr verhießen. –

Gregor blieb nur wenige Tage in dem Strandhause; gerade lange genug, um sich über die von ihm einzuschlagenden Schritte mit Frank genau ins Einvernehmen zu setzen, lange genug, um sich zu überzeugen, daß die jähen Kontraste in der jüngsten Vergangenheit die wohltätigste Wirkung auf Melville ausübten.

Frank gab ihm das Geleite bis zur Stadt.

»Mein nächster Weg führt zu deiner Mutter, um ihr über dein Ergehen Bericht zu erstatten,« wiederholte Gregor, kurz bevor sie sich voneinander trennten. »Du wirst hier ausharren, bis man dich ruft, und ich müßte mich sehr täuschen, bliebest du nicht ebensogern, wie zwei schöne freundliche Augen den deinigen begegnen;« er lächelte bezeichnend und fuhr fort: »Was ich dir anvertraute, achte als fremdes Eigentum. Beherzige meine Ratschläge, befolge pünktlich die Anweisungen, die ich dir erteilte und voraussichtlich noch brieflich erteilen werde. Sei überzeugt, ich tue keinen Schritt, ohne zuvor dessen Tragweite genau berechnet zu haben.«

Was Frank erwidern wollte, schnitt Gregor mit einem herzlichen »Auf Wiedersehen!« ab, und davon rollte der Wagen, der ihn nach der nächsten Dampferstation trug.

 


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