Balduin Möllhausen
Der Fährmann am Kanadian
Balduin Möllhausen

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Dreißigstes Kapitel.
Die letzten Grüße.

Durch das geheimnisvolle Verschwinden Wiedehopfs und Jockeiklamms waren nicht nur die Bewohner des Hofes und der Zwillingshäuschen, sondern auch die ganze Stadt in Aufregung versetzt worden. Da man wußte, daß ersterer an dem Abend, an dem er zum letztenmal gesehen wurde, sich nach dem Weiher begeben hatte, so tauchte zunächst das Gerücht über eine Verunglückung auf. Diese Mutmaßung gewann an Wahrscheinlichkeit, als man folgenden Tages bei den angestellten Nachforschungen das alte Boot vermißte. Damit war aber auch die Möglichkeit abgeschnitten, den Weiher zu befahren und nach weiteren Anhaltepunkten zu suchen, vor allen Dingen die Stelle auszukundschaften, auf der das Unglück stattgefunden hatte. Wohl entdeckte man den grauen Zylinderhut, zugleich wurde man indessen inne, daß er, ein Spiel jeder Luftströmung, bald hierhin, bald dorthin segelte, also ein höchst unzuverlässiger Wegweiser gewesen wäre. Das einzige, was man ihm verdankte, bestand in der bis zur Überzeugung gesteigerten Vermutung, daß Herr von Klamm, dieser bestechend liebenswürdige Kavalier, den Kammerdiener begleitet und mit ihm zugleich ein trauriges Ende gefunden habe. –

Als der Baron zwei Tage später heimkehrte, war man noch damit beschäftigt, von einem in aller Eile hergestellten Floß aus mittelst Haken und Stangen den morastigen Boden des Weihers Schritt für Schritt abzusuchen. Die erste Nachricht des Unglücks erschreckte ihn zwar, allein schon in den nächsten Minuten hatte er wieder nur noch Sinne für die Flucht seines Sohnes und den Zustand der Mutter, die in ihrer Angst und Verzweiflung vollständig unzugänglich für seine, allerdings mit zerknirschtem Herzen erteilten Beruhigungsgründe geworden war. Konnte er nach den eingezogenen Erkundigungen doch selbst nicht mehr an eine Milderung des auf ihn hereingebrochenen, erschütternden Schlages glauben.

Abends gelang es endlich, die beiden Toten ihrem nassen Grabe zu entreißen. Aus der Art, in der sie sich umschlungen hielten, Jockeiklamm sich sogar in den Kittel Wiedehopfs verbissen hatte, ging hervor, mit welcher Angst einer von dem andern Rettung erhofft hatte. Man beklagte den gewissenhaften alten Diener, man beklagte den munteren Herrn von Klamm, dessen Haar und Bart während seines Aufenthaltes in der Tiefe des Weihers eine wunderlich brandrote Farbe angenommen hatten. Doch das Geschehene ließ sich nicht mehr ändern, und so ging man ans Werk, alle diejenigen Schritte zu tun, die in einem solchen Falle von den Gesetzen vorgeschrieben sind.

Der in der krampfhaft geschlossenen Faust Wiedehopfs vorgefundene Zettel wurde mit äußerster Sorgfalt getrocknet und geglättet, so daß die ihm mittelst Bleistift aufgetragenen Worte ohne große Mühe entziffert werden konnten. Dunkel, wie sie lauteten, genügten sie doch, in dem Baron einen bösen Argwohn anzuregen. Als aber bei der gerichtlichen Prüfung des Koffers des Herrn von Klamm dessen Papiere ihm vorgelegt wurden, da konnten nicht länger Zweifel walten, daß, wie einst sein Bruder, jetzt auch sein Sohn mit teuflischer Berechnung in den Abgrund des Verderbens hinabgestoßen worden war. Hochklingende Namen fand er da neben dem seines heuchlerischen, nunmehr entlarvten Kammerdieners verzeichnet. Namen von Männern, die da, wo sie selbst mit ihren Forderungen nicht offen aufzutreten wagten, ihre Ansprüche auf Herrn von Klamm übertragen hatten. Namen von Männern, die mit dem Tode ihres gewandten Vertreters lieber alles einbüßten, was das Glück am grünen Tisch ihnen in den Schoß warf, als daß sie in der Öffentlichkeit als Mitglieder eines äußerlich schillernden, innerlich verrotteten Spielerklubs hätten bezeichnet werden mögen. Das waren freilich grauenhafte Entdeckungen, und doch bargen sie einen Trost in sich. Der Baron begriff, daß auch weniger leichtfertige Gemüter, als einst das seines Bruders und jetzt des eigenen Sohnes, derartigen verräterischen Einflüssen hätte erliegen müssen.

In düsterer Einförmigkeit verstrichen nunmehr die Tage auf dem Hofe. Von Stunde zu Stunde hoffte man auf Nachricht von Joachim und immer vergeblich. Die Befürchtungen wuchsen mit dem Enteilen der Zeit; die entsetzlichsten Bilder schlichen sich in die unbestimmten schwarzen Ahnungen ein.

Die Baronin kränkelte. Finster brütete der Baron über die Vergangenheit wie über die Zukunft. Menschenscheu hatte sich beider bemächtigt. Sie fürchteten die Blicke, hinter denen Mitleid mit ihrem traurigen Lose wohnte, mehr noch als diejenigen, die heimliche Schadenfreude christlich verschleierten. –

In den Zwillingshäuschen herrschte dagegen eine gehobene Stimmung. Nicht, als ob man unempfindlich gegen das Unglück anderer gewesen wäre. Aber daß die baldige Rückkehr Unicas in Aussicht gestellt wurde, das war es, was Blisterchens Auge klärte, den Hammerschlägen Kunibertus' erhöhte Wucht verlieh, der Meisterin Ungeduld von Tag zu Tag steigerte und Amandus veranlaßte, noch um einen kurzen Nachurlaub einzukommen. Gab es doch nichts mehr, seitdem Joachim das Weite gesucht und Wiedehopf mit dem irdischen Dasein abgeschlossen hatte, was man hätte zu fürchten brauchen.

Und so traf Unica zur bestimmten Stunde ein, nach wie vor ein Bild blühender Gesundheit und glücklichen Seelenfriedens, so daß Amandus einen ganzen Tag säumte, bevor er es über sich gewann, sie mit kurzen Worten über des alten Spielgefährten Flucht zu unterrichten und ihr dessen Brief einzuhändigen. Fast bereute er sein Tun, als er gewahrte, daß bei der unerwarteten Kunde ihr liebes Antlitz sich entfärbte, ihre guten Augen im Unglauben beinah starr blickten; doch wie auch immer Unica die betrübende Nachricht aufnehmen mochte: von dem einmal erteilten Versprechen konnte er durch nichts entbunden werden.

»Ich habe es geahnt,« antwortete Unica mit sichtbar erzwungener Ruhe, und der Brief knitterte unter dem festen Griff ihrer Hand. »Ja, von dem Augenblick an, in dem ich ihn zum erstenmal wiedersah. Das war nicht mehr der fröhliche Junge von früher. In seinem Gesicht stand geschrieben, wie das böse Gewissen ihn marterte und quälte. Der arme Junge. Weshalb gibt er sich da noch die Mühe, mir seine Sünden schriftlich zu beichten,« und sich abwendend schritt sie langsam nach dem heimatlichen Häuschen hinüber.

Befremdet blickte Amandus ihr nach, bis sie in der Haustür verschwand. Ihm war, als sei mit der Lösung seines Versprechens ein böses Verhängnis vereinigt gewesen, und er meinte die Zeit nicht erwarten zu können, bis er sie wieder lachenden Antlitzes vor sich sah.

Unica hatte sich unterdessen in ihr Zimmer eingeschlossen. Mit fliegender Hast öffnete sie den Brief und las:

»Inniggeliebte Unica! Jetzt, während Du meine letzten Abschiedsworte liest, befinde ich mich in weiter Ferne auf dem Meere. Trotz Deines ernsten Verbotes kann ich mir nicht versagen, Dich in der alten, lieben Weise anzureden –« ›Armer Junge,‹ entwand es sich unbewußt Unicas Lippen, während zwei schwere Tränen über ihre glühenden Wangen rollten, ›armer, armer Junge; wenn Du nur wüßtest, wie schwer es mir geworden ist‹ und weiter las sie durch den Schleier hindurch, der hin und wieder vor ihren feucht schimmernden Augen niedersank: »Und dennoch, liebe Unica, wie unwürdig fühle ich mich jetzt Dir gegenüber, wie unberechtigt zu den durch vieljährige Gewohnheit geheiligten Vertraulichkeiten. Aber ich weiß, um der alten Erinnerungen willen übst Du Nachsicht und um der Leiden willen, denen ich nunmehr entgegengehe. Erlasse mir, ein Bild alles dessen zu geben, was so schwer auf mir lastet, daß ich gänzlich am Leben verzweifeln möchte. Es ist die alte Geschichte: Leichtsinn und Verführungen, denen ich nicht zu widerstehen vermochte, haben mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin, zum Verräter an meinen Eltern, deren Sohn ich nicht länger sein darf. Wo mein Name ausgesprochen wird, geschieht es mit Verachtung. Selbst Dein Bruder Amandus, dieser treue Freund mit seinen strengen Begriffen von Ehre, wird keine Entschuldigung mehr gelten lassen. Nur Du, Du allein läßt Milde in Deinem Urteil vorherrschen – Du gibst mich nicht auf, stößt mich nicht zurück – nein. Du nicht, Unica, auf die ich meine einzige und letzte Hoffnung gesetzt habe. Und so nimm es hin, wie Du willst, nur nicht mit Verachtung, wenn ich Dir heilig beteure, daß dennoch Wahrheit, was ich unzählige Male in sorglosen Stunden, selbst im Kinderspiel Dir angelobte, ob du es auch spöttisch ablehntest, ich meine, daß ich Dich liebe, wie sonst keinen Menschen der Erde; nie fühlte ich das tiefer, als gerade jetzt, da ich Dich lassen soll. Ich bin jetzt arm, viel ärmer als Du. Mit meiner Vergangenheit habe ich gebrochen. Vor mir liegt ein Leben der Arbeit und der Entbehrungen. Bisher standen meine Geburt, die äußeren Verhältnisse, ja, meine armen, betrogenen Eltern feindlich zwischen uns beiden; jetzt dagegen trennt uns keine andere Schranke mehr, als solche, die Du selbst errichtest. Erbitterung ergreift mich bei dem Gedanken, daß es früher schon so hätte sein können; wie wäre das alles so viel anders gekommen! Anstatt mit belastetem Gewissen einer dunklen Zukunft entgegenzugehen, trüge ich mich vielleicht jetzt mit der Hoffnung auf Deinen Besitz. Ein grausames Geschick hat es anders gewollt. Und dennoch muß ich an diese Hoffnung mich anklammern, soll ich nicht mutlos dahinsinken, das Leben mir nicht zu einer unerträglichen Last werden. Wer weiß, wohin ich verschlagen werde, wie bald ich im Kampf ums Dasein unterliege; doch was mir auch bestimmt sein mag, ob ein langes Leben oder nur eine kurze Frist: laß mich auch fernerhin Dich lieben und verehren, meine Hoffnung auf Dich allein bauen. Nur daraus schöpfe ich die Kraft und den Willen, mich emporzuarbeiten, zu sühnen und die Verzeihung derer zu erringen, an denen ich mich so schwer versündigte.

»Während ich dies niederschreibe, umgibt mich nächtliche Stille. Alle schlafen. Keiner ahnt, mit welchen Plänen ich mich trage. Nur noch kurze Frist, und da, wo jetzt Frohsinn herrscht, werden Kummer und Sorgen einziehen. Doch wie lange kann es dauern, bis die Trauer um einen Verlorenen in Vergessenheit übergeht. Mein Los habe ich verdient. Von allem und von allen trenne ich mich ohne einen Laut der Klage, mit kaltem Blute. Nur Du erweckst die Empfindungen eines unsäglichen Jammers in mir. Ich vergegenwärtige mir Dein Bild, und namenlose Sehnsucht ergreift mich. Mir ist, als müßte ich zu Dir eilen und an Dein Fenster klopfen; Dich zu mir herausrufen, vor Dir niederknien und meinen Kopf auf Deinen Schoß legen, mich ausweinen, wie in frühen Kindertagen. Ich möchte Dich anflehen, mich zu halten, aufzurichten, zu ermutigen durch ein einziges Liebeswort. Doch es ist alles vorbei. Nicht einmal die Hand darf ich Dir zum Abschied reichen. Ein flüchtiger Gruß im Vorübergehen, während Verzweiflung mir die Besinnung raubt, ist das Äußerste, was ich Dir bieten darf.

»Unica! Indem ich der Zukunft gedenke, meine ich in einen Abgrund ewigen Verderbens hinabzublicken, auf dessen anderer Seite Dein liebes Bild mir winkt, Unica, rette mich, schütze mich vor mir selbst. Sende mir ein Lebenszeichen übers Meer, ein Zeichen, daß Deine Gedanken mich zu ereilen suchen, Du einverstanden bist mit der Aufgabe, die ich mir nunmehr vorgezeichnet habe und mit dem redlichen Willen eines wahren Mannes zu lösen trachte. Und ich werde sie lösen, wenn ich weiß, daß es Dir nicht widerstrebt, die alten Beziehungen zwischen uns auch fernerhin bestehen zu lassen. Mit neu erwachter Lebenslust werde ich ans Werk gehen, mir eine unabhängige Stellung, und wäre es die bescheidenste, zu erarbeiten. Jeder kleinste Erfolg wird mich zu erhöhten Anstrengungen treiben, wenn ich im Geist dir zurufen darf: Alles für Dich, für Dich allein.

»Du bist meine langjährige vertraute Freundin, und doch zage ich, mit einer letzten innigen Bitte vor Dich hinzutreten; aber ich kann es nicht in mich verschließen. Unica, entweder ich gehe in dem Versuch unter, oder ich gerate in eine Lage, in der ich Dir ein stilles häusliches Glück zu bieten vermag, jede kleinste Dir bereitete Freude ein Frucht meiner unermüdlichen Arbeit. Es mag lange bis dahin dauern, oder auch nur eine kurze Frist darüber vergehen. Sollte ich aber endlich mein Ziel erreicht haben, dann Unica, folge meinem Ruf. Komm zu mir, damit ich Dich hege und pflege, liebe und verehre, bis der Tod uns scheidet. Schon jetzt verspreche Dich mir, damit meine Hände nicht erlahmen, bevor sie zum ersten Schaffen sich regten. Setze Dich hinweg über alle Bedenken, die hier und da in Dir aufsteigen, sofern Du nur noch ein Fünkchen von Anhänglichkeit für Deinen alten, unglücklichen Gefährten hegst. Du bist elternlos durch eine traurige Fügung des Geschicks; ich bin es durch eigenes Verschulden. Gedenkst Du aber erfahrener herber Demütigungen, so gönne daneben der Zuversicht Raum, daß dereinst ein schwergekränkter Vater und eine tiefbekümmerte Mutter unter Freudentränen Dir es Dank wissen werden, daß Du ihren Sohn errettetest, in ihr Herz zurückführtest. Und sind wir arm und kommen wir nicht weit über das tägliche Brot hinaus, so kann unsere Zufriedenheit dadurch nicht geschmälert werden. Dem Reichtum fluche ich, dem Scheinglanz irdischer Größe, denn nur sie gereichten mir zum Verderben.

»Unica, du über alles geliebte Unica, wie wirst du diese Worte aufnehmen? Ich zittere über meine Vermessenheit, und doch fühle ich mich beruhigter, nachdem ich meine ganze Zukunft in Deine Hände legte. Antworte mir, ich beschwöre Dich darum. Eine vernichtende Gewißheit kann nicht schrecklicher wirken, als endloses Bangen und Zweifeln. Nur von Dir allein will ich hören; denn nur Deine Schriftzüge vermag ich anzusehen, ohne daß mir die Schamröte ins Gesicht steigt. Nur Du allein besitzest mein unbegrenztes Vertrauen, von Dir allein weiß ich, daß Du mich beklagst, aber keine nutzlosen Vorwürfe gegen mich anhäufst. Aus solchen Gründen bitte ich Dich, zu adressieren: Ernst Gottgetreu, New York, poste restante.

»Wie lange schrieb ich! Meine Augen brennen; aber ich habe mir Ruhe und Entschlossenheit erschrieben. In dieser Stimmung sage ich Dir Lebewohl, Du liebe, liebe Unica. Ich küsse Dich im Geiste. Wo Du gehst und stehst, umfangen Dich meine innigsten Segenswünsche; wo ich auch weilen mag – unablässig schwebt Dein Bild mir vor. Du bist mein Sehnen, mein Hoffen. Du bist mein Leben, mein Trost, wenn in dem Gefühl gänzlicher Vereinsamung die Wogen der Reue und der Verzweiflung über mir zusammenzuschlagen drohen. Unica, lebe wohl! Angstvoll strecke ich Dir meine Hände entgegen! Laß mich nicht versinken. Ziehe mich zu Dir empor. Gib mich denjenigen wieder, die nach mir bangen und denen ich noch fern bleiben muß. Unica, lebe Wohl, lebe wohl!

Dein unglücklicher Freund

Joachim

Obwohl immer wieder Tränen Unicas Augen verschleierten, las sie den Brief ohne Unterbrechung zu Ende. Dann neigte sie das Haupt auf Arme und Tisch, und so bitterlich weinte sie, wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie schien untröstlich zu sein. Erst nach einer langen, langen Pause richtete sie sich mit einer ungestümen Bewegung wieder empor. Ihr Antlitz glühte. Von Schmerz getragene Milde war auf ihm ausgeprägt; aus ihren schönen blauen Augen lugte dagegen feste Willenskraft.

»Armer Joachim,« sprach sie über den Brief hin, als hätte das von seiner Hand beschriebene Papier Verständnis für ihre Worte besessen, »du sollst mich nicht umsonst angerufen haben. Und wenn die ganze Welt sich von dir abwendet, so stehe ich zu dir mit Leib und Leben bis in den Tod. Armer Junge, du hast recht: zwischen uns steht jetzt nichts mehr. Getrost will ich mich dir anvertrauen, heute lieber als morgen.«

Sie erhob sich. Unerschütterliche Entschlossenheit offenbarte sich in ihrer Haltung. Sie schien noch gewachsen zu sein. So verließ sie ihr Zimmer. Gleich darauf schlüpfte sie, von niemand bemerkt, durch die Hintertür ins Freie hinaus, und schnellen Schrittes schlug sie die Richtung nach dem Hofe ein.

Wie lange war es her, seitdem sie den Park nicht mehr betreten hatte! Zum letztenmal, als sie wähnte, eine unübersteigliche Kluft zwischen sich und dem alten Spielgefährten geschaffen zu haben. Auch heute zitterten, wie damals, von der Abendsonne entsendete Smaragdlichter zwischen dem dichten Laub der hundertjährigen Kastanienbäume hindurch zu ihr nieder; und dennoch, wie war es jetzt so viel anders. Vergessen waren die Demütigungen, die damals das Blut der Entrüstung bis unter ihr üppiges blondes Haar hinauftrieben, verweht die harten Worte, die zwischen ihr und Joachim gewechselt wurden, verwischt die zwischen dem Hofe und den Zwillingshäuschen bestehende Schranke, an die sie so barsch gemahnt worden. Je näher dem Hofe, um so mehr beschleunigte sie ihre Schritte, bis sie endlich nach der Rampe gleichsam hinaufflog und durch die offene Tür in die Vorhalle eintrat.

Ein Diener, Wiedehopfs Nachfolger, trat ihr entgegen und fragte nach ihrem Begehr.

»Wo finde ich die Herrschaften?« hieß es ruhig zurück.

»Die gnädigen Herrschaften verweilen im Gartenzimmer,« antwortete der Diener. »Sie sind für niemand zu sprechen. Haben Sie etwas abzugeben, so trage ich es hinein.«

In Unicas Antlitz loderte es auf.

»Darnach fragte ich nicht,« versetzte sie mit einer Würde, die jenen sichtbar einschüchterte, und an ihm vorbei schritt sie auf die Korridortür zu.

Als sie ein wenig später in das Gartenzimmer eintrat, kehrten der Baron und seine Frau sich ihr sofort zu. An dem runden, mit Zeitungen und Büchern bedeckten Tisch saßen sie, schienen aber bis dahin in ein trübes Gespräch vertieft gewesen zu sein. Auf dem halben Wege zu ihnen war Unica, wie von plötzlicher Angst ergriffen, stehen geblieben. Mit einem einzigen Blick erfaßte sie, daß beide in gleichem Maße unter dem Eindruck des auf sie hereingebrochenen Schicksalsschlages litten. Vergrämt sah die Baronin aus; tiefe Verbitterung ruhte auf den bleichen Zügen des Barons, und wenn eben noch ein durch die Abweisung erzeugtes Gefühl verletzten Stolzes sie beherrschte, so kannte sie jetzt, angesichts des gebeugten Elternpaares, nur noch die einzige Regung inniger Teilnahme.

Wie auf der Flucht vor sie verfolgenden Schreckbildern stürzte sie zu der Baronin hinüber, und vor ihr auf die Knie sinkend, barg sie ihr Antlitz laut weinend auf deren Schoß.

Die Baronin erschrak; dann wechselten die beiden Gatten einen Blick des Befremdens über sie hin. Ein langer Blick war es. Ein Blick böser Verständigung, einer unaussprechlichen Entrüstung. Trotzdem walteten in der Baronin mildere Empfindungen so weit vor, daß sie, da Unica sich gar nicht fassen zu können schien, beschwichtigend zu ihr niedersprach.

»Unica, was ist's mit dir? Wie sollen wir dein seltsames Wesen verstehen –«

Da kehrte Unica ihr tränenüberströmtes Antlitz der Baronin voll zu.

»Ich hätte ihn retten können,« rief sie klagend aus, »aber es durfte ja nicht sein –«

»Wen? Wen?« fragte die Baronin einfallend, und ihre Stimme hatte einen härteren Klang angenommen.

»Joachim,« antwortete Unica dringlich, »auf dem Meere treibt er – er ist tief unglücklich –«

Was sie weiter hinzufügen wollte, erstarb ihr auf den Lippen, als der Baron sich ihr zukehrte. Sein Antlitz hatte sich verfinstert. Ein bitterer Vorwurf offenbarte sich darin, indem er anhob: »Wie soll ich deine Teilnahme für jemand deuten, der nicht nur dir fernsteht, sondern auch die letzte Teilnahme seiner Eltern verscherzte? Fürchtest du nicht, durch dein Benehmen einen häßlichen Schein gegen dich wachzurufen?«

Ohne ihre Stellung zu verändern, gleichsam erstarrend unter den auf ihr ruhenden strengen Blicken, sah Unica zu dem Baron empor. Sie hatte den Sinn der an sie gerichteten Worte nicht in der ganzen Tragweite verstanden. Erst allmählich begann es in ihrem Geiste zu tagen, und in demselben Grade verflüchtigte sich die Glut ihrer Wangen. Plötzlich sprang sie empor. Als hätte sie sich ihrer demütigen Stellung geschämt, trat sie einen Schritt zurück, ihre Augen mit einem ergreifenden Ausdruck verletzter Frauenwürde voll auf den Baron heftend. Das eben zum Herzen gejagte Blut strömte mit erhöhter Gewalt in ihr Antlitz zurück. Ihre Leidenschaftlichkeit war erwacht. An Stelle des bisherigen Zagens war tiefe Entrüstung getreten.

.

»Herr Baron,« sprach sie mit festem, fast drohendem Klang der Stimme, »es ist noch nicht lange her, als ich einen unbestimmten Schein fürchtete und infolgedessen das zwischen Joachim und mir bestehende freundschaftliche Verhältnis jäh auflöste. Jetzt aber, seit einer Stunde, seitdem mir seine letzten schriftlichen Abschiedsgrüße eingehändigt wurden; seitdem ich ihn arm und vereinsamt in der weiten Welt weiß und ich erfahren habe, daß alle Menschen, sogar die eigenen Eltern, sich von ihm abwenden; seitdem es keinem Zweifel unterliegt, daß er seine Hände nach mir ausstreckt, Trost, Rettung und Liebe von mir erwartet, fürchte ich keinen Schein mehr,« und ihre Stimme zitterte vor schmerzlicher Erregung. »Frei und offen sage ich es: jetzt gehöre ich zu ihm, und keine Macht der Erde soll mich hindern, dem Verstoßenen, Verlassenen mich zuzugesellen, gemeinschaftlich mit ihm zu tragen Freud und Leid –« ihre letzten Worte erstickten in heftigem Schluchzen. Mit krampfhaftem Griff zog sie den Brief aus der Tasche, und ihn geöffnet auf den Tisch legend, fügte sie unter Aufbietung ihrer äußersten Kräfte hinzu: »Bitte, lesen Sie alles. Ich habe kein Geheimnis vor Ihnen – kenne überhaupt keins, dessen ich mich zu schämen brauchte,« und des stummen Erstaunens nicht achtend, mit dem die beiden Gatten auf sie hinsahen, vielleicht auch für ihre Fassung fürchtend, schritt sie in der ihr eigentümlichen sittigen Weise aus dem Zimmer.

»Wer hätte das in dem irregeleiteten Mädchen gesucht,« bemerkte die Baronin um vieles milder, als hätte der Ausdruck einer aufrichtigen Anhänglichkeit für ihren Sohn einen leisen Nachhall in dem Mutterherzen gefunden.

»Ja, wer hätte so viel vornehme Würde und Willenskraft in der Tochter eines einfachen Handwerkers gesucht,« bestätigte der Baron düster, und wie mit Widerstreben hob er den Brief empor.

Wort für Wort las er ihn unter den ihn beobachtenden Blicken seiner Frau. Wenn aber bei den ersten Zeilen sein Antlitz sich wieder verfinsterte, so milderte dessen Strenge sich von Minute zu Minute, bis Wehmut allein seine Züge beherrschte.

»Lese selber,« sprach er traurig, nachdem er geendigt hatte, und er reichte seiner Frau den Brief, »lese und bilde dir, unbeeinflußt durch mich, dein Urteil.«

Mit den letzten Worten erhob er sich und langsam auf und ab schreitend, versank er in ernstes Nachdenken. Hin und wieder warf er seiner Frau, die den Brief mit der gleichen Aufmerksamkeit las und zuweilen ihr Tuch an die Augen hob, einen scheu forschenden Seitenblick zu. –

Unica war unterdessen zu den Ihrigen heimgekehrt. Keinem entging, daß sie mit aller Macht kämpfte, ihre Erregung zu verheimlichen. Man beruhigte sich mit der Voraussetzung, daß in dem Briefe Joachims die Aufforderung zu einer Fürbitte bei seinen Eltern enthalten gewesen und sie bei diesen auf Widerstand gestoßen sei. –

Leichte Dämmerung war bereits eingetreten, als der Baron plötzlich in Blisterchens Wohnung erschien. Sprachlos vor Erstaunen, erhob sich die Alte. Geschah es doch zum ersten Male, daß er ihre Schwelle überschritt. Auch Unica war aufgestanden. Das Zwielicht verbarg die brennende Glut, die sich über ihr liebes Antlitz ausbreitete.

»Blisterchen, ich komme zu dir als ein guter Freund,« redete er die bestürzte Alte an, indem er ihr die Hand reichte, sie zum Niedersitzen aufforderte und dann auf dem von Unica ihm angebotenen Stuhl Platz nahm. »Ich wiederhole, als Freund von euch allen. Da wirst du dich nicht wundern, wenn ich nach dem schweren Leid, von dem ich heimgesucht wurde, um Trost für mich und meine arme Frau bitte. Hast ja für so Manchen in deinem langen Leben ein gutes Wort gehabt.«

»Woher sollte ich Trost für den Herrn Baron nehmen?« hob Blisterchen, von unheimlichen Ahnungen beschlichen, stotternd an, als der Baron freundlich beschwichtigend einfiel:

»Doch, doch, Blisterchen, du kannst und wirst das Deinige für uns tun. Du weißt, Unglück macht mürbe, doppelt, wenn dadurch alte Wunden aufgerissen werden, man an Dinge gemahnt wird, die man am liebsten ungeschehen wissen möchte. Doch ich will meine Worte an Unica richten. Sie muß zunächst entscheiden, und davon wird es abhängen, wie dein Urteil lautet.« Dann zu Unica gewendet, die kaum zu atmen wagte: »Ja, mein Kind, du sollst entscheiden. Die Ursachen berühre ich jetzt nicht weiter; aber du begreifst sicher, wie vereinsamt meine Frau und ich nach den jüngsten Erfahrungen uns fühlen müssen, so vereinsamt, daß sogar der Verkehr nach außen uns anwidert. Da möchten wir ein liebes, freundliches Wesen um uns sehen, jemand, der uns vor gänzlicher Verbitterung bewahrt, mit dem wir aber auch vertrauensvoll über Manches sprechen dürfen, was unseren Herzen am nächsten liegt, dagegen nicht für jedermanns Ohr geeignet ist. Und so bitte ich dich, zu uns überzusiedeln und in unserem Hause ein wenig zum Rechten zu sehen. Daß meine Frau mit offenen Armen dich willkommen heißt, brauche ich wohl nicht hinzuzufügen. Du verstehst mich gewiß, wenn ich hervorhebe, daß unsere Neigungen sich in vielen Dingen begegnen, und das bietet die sicherste Bürgschaft für die Zukunft.«

Bei den ersten Worten des Barons stockte Unicas Pulsschlag, daß sie kaum seinen Mitteilungen mit klarem Verständnis zu folgen vermochte, und als er schwieg, wußte sie nicht, wie sie antworten sollte. Der Baron aber, ihr Zögern ungünstig deutend, erklärte beinah ängstlich: »Ich denke an meinen beklagenswerten Sohn, deinen langjährigen Gespielen und Freund. Wüßte er, daß du bereit wärest, die durch ihn in meiner Familie gerissene Lücke auszufüllen, namentlich seiner Mutter eine Stütze zu sein, so würde er es gewiß dankbar anerkennen.«

Unica atmete tief auf.

»Ich brauchte deshalb meine Eltern und Blisterchen nicht zu vernachlässigen?« fragte sie schüchtern.

»Nein, mein Kind, in deinem Verhältnis zu ihnen kann sich nie etwas ändern. Zu ihnen gehörst du, aber auf dem Hofe sollst du wohnen, schalten und walten,« erklärte der Baron.

Unica sah fragend auf Blisterchen. Diese saß wie versteinert. Ihre dürren Hände rangen sich leise ineinander. Was sie in diesen Minuten litt und in sich verschloß, überstieg fast ihre Kräfte.

»Unica hat ihren eigenen freien Willen,« sprach sie endlich zögernd, »aber sie wird an ihre nächsten Anverwandten gedenken, an die Veltens. Die sind ihre Eltern und haben allein das Recht, ein Wort mit dreinzureden.«

»Das sehe ich ein,« gab der Baron zu, »und ich wäre der Letzte, ein solches Recht zu beeinträchtigen. Wenn ich erst weiß, daß Unica nicht davor zurückschreckt, zwei alten, vergrämten Leuten ein wenig Sonnenschein zuzutragen, und auch du nichts dagegen einzuwenden hast, gehe ich selbst zu den Veltens hinüber, um mir ihre Einwilligung zu erbitten.«

»Tun der Herr Baron, wie Ihnen alles recht und billig erscheint,« versetzte Blisterchen grämlich, »und mag jedes gute Wort, das Sie dem Kinde geben, Ihnen gesegnet sein. Der Unica brauch' ich nicht zu raten, die weiß um sich selbst, und wenn jemand Sonnenschein nach sich zieht, so ist sie es.«

»Dann komm, Unica,« wendete der Baron sich an diese, indem er seinen Stuhl zurückschob, »du sollst zugegen sein, wenn ich deine Übersiedelung nach dem Hofe als eine Wohltat von deinen Eltern erbitte.«

Er reichte Blisterchen die Hand zum Abschied; gleich darauf trat er mit Unica ins Freie hinaus.

»Unica,« sprach er auf dem Wege nach der Schmiede hinüber zu seiner lieblichen Begleiterin, die, von sinnverwirrenden Träumen umfangen, sich neben ihm hielt, »sage frei und offen: widerstrebt es dir nicht, da einzuziehen, von woher dir manches Leid gekommen?«

»Aber auch Heiliges,« antwortete Unica fest; »ich folge Ihnen gern.« Vor ihnen lag die Tür der Schmiede. –

Still saß Blisterchen in dem sich verdunkelnden Gemach, die Hände vor sich auf dem Schoß gefaltet. Zwischen weiter Vergangenheit und der Gegenwart vermittelten ihre Gedanken. Ihr Herz war so voll, daß es überströmte.

»Das eigene Leid hat ihn mürbe gemacht,« murmelte sie vor sich hin, »für das Leid eines anderen besaß er kein Gefühl. Armer Hans! Das Schicksal strafte selber. Du hättest es nicht so unbarmherzig zuwege gebracht; auch ich nicht um des armen Jungen willen. Aber die Sünden der Väter werden an ihren Kindern heimgesucht. Nicht die deinigen, Hans, die hast du selber schwerer abgebüßt, als ein Herrgott es dir hätte auferlegen können. Hans, Hans, wo magst du in der Erde schlafen; denn daß du noch lebst – nein, ich glaub's nimmer. Aber Engel gibt's; da wird dir einer zutragen, daß sie gekommen sind, die sich an dir versündigten, um in ihrer Not dein Kind um eine Wohltat zu bitten, daß es einziehen möge in sein eigen Haus, mag's immerhin verheimlicht werden müssen um deinetwillen. In sein eigen Haus, und das soll mir ein gutes Zeichen sein, ob's mir auch das Herz zusammenschnürt, wenn's da zu Diensten ist, wo es befehlen sollte.«

Und weiter grübelte die Alte, hin und wieder im Übermaß der schmerzlichen Erregung ihre Gedanken unbewußt vernehmbar offenbarend.

Unicas Eintritt störte sie in ihren Betrachtungen.

»Es ist beschlossen,« erklärte diese mit einem sonst an ihr nicht gewöhnten Ernst. »Mutter und Vater waren damit einverstanden. Auch Amandus billigte es schon allein um unseres gemeinschaftlichen Freundes Joachim willen,« und eifrig beschäftigte sie sich mit dem Anzünden der Lampe.

»Du ziehst gern zu ihnen?« forschte die Alte lauernd.

»Gewiß, Blisterchen,« hieß es mit freundlicher Entschiedenheit zurück. »Du solltest nur die beiden Alten sehen, wie unglücklich die sind, und du selbst würdest mir zureden. Zwischen uns hier ändert sich dadurch ja nichts. Außerdem ist es eine Wohltat für mich, meine Zeit nützlich zu verwenden.«

Die Lampe brannte. Eine lebhafte Unterhaltung, wie sonst gewöhnlich, wollte indessen nicht in Gang kommen.



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