Balduin Möllhausen
Der Fährmann am Kanadian
Balduin Möllhausen

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Neunundzwanzigstes Kapitel.
Auf Leben und Tod.

Als hätte der Baron, in dessen Innerem doch schwarze, trostlose Nacht war, die letzten freundlichen Lichter von Hof und Park nach sich gezogen, begann bald nach seinem Aufbruch der Himmel sich mit einem nebelartigen Schleier zu überziehen. Die Sonne blieb zwar sichtbar, allein strahlenlos, daß man ihr ungestraft in das runde, fahle Antlitz blicken durfte. Erst eine Stunde vor ihrem Untergange verschwand sie ganz. Nur durch matten, rötlichen Schimmer zeichnete der westliche Himmel sich aus, zu matt, um der melancholischen Beleuchtung ein wenig Wärme beizumischen. Die Luft war still. Kein Blatt regte sich. Alles schien zu träumen. Wenn wirklich hin und wieder ein irrender Windhauch durch die Wipfel der Zitterpappeln oder das Schilf strich, so hörte man es ein Weilchen geheimnisvoll flüstern, aber lautlose Stille herrschte gleich wieder wie zuvor.

Zu dieser Zeit begab sich Wiedehopf abermals nach dem Weiher, um seine Reusen zu heben. Möglich, daß er Jockeiklamm, der zur Stunde auf sich selbst angewiesen war und schon mehrfach im Laufe des Tages vergeblich eine wenig auffällige Zusammenkunft mit ihm suchte, auch jetzt auszuweichen wünschte. Aber weit hatte er sich noch nicht vom Hofe entfernt, als auch Jockeiklamm, der seinen Aufbruch überwachte, ebenfalls zu einem Gange gerüstet im Freien erschien und die Richtung nach dem Weiher einschlug. Wie ein Fuchs schlich der alte Sportsmann einher, wie der Fuchs, wenn er eine unbewachte Gänseherde umkreist. Mehrfach kauerte er sich auch hinter einem Busch nieder, und das geschah, so oft Wiedehopf eine Blöße überschritt oder sich im Stangenholz einherbewegte, wo nach allen Seiten eine freiere Aussicht offen stand. Doch Wiedehopf dachte an nichts weniger, als argwöhnisch um sich zu spähen. Ehrbar unter der langschirmigen Mütze, in dem schlotterigen Kittel, in der linken Hand den Korb, in der anderen den langen Stab, verfolgte er seinen Weg.

Wie gewöhnlich hob und leerte er auch diesmal seine Reusen, worauf er sie zum Trocknen ausspannte, und wie gewöhnlich gab er sich dem einzigen ihm denkbaren Genusse hin, der ihm aus dem Betrachten seiner Schätze erwuchs. Gleichsam schwelgend im Anblick des blanken Goldes, stumpften seine Sinne sich für alles andere ab. Die sich heftig rötenden Fischaugen sahen nur Gold, die großen Fledermausohren hörten nur Gold, indem er hin und wieder zwei Münzen spielend aneinander klingen ließ. In seinem Geiste vibrierte unablässig: »Gold! Gold!« In seinen Schläfen rauschte und hämmerte es: »Gold, Gold, Gold.« Tot war er für die ganze übrige Welt; tot für die Erinnerung an das Verschwinden Joachims und an den verhaßten Jockeiklamm. Tot für das kaum vernehmbare Geräusch, mit dem hin und wieder in der Nachbarschaft unter schlank gebauten Lackstiefeln ein Reislein knickte und eine aufgedonnerte knöcherne Gestalt sich durch das Gebüsch wand; tot für den Gedanken an die Möglichkeit, daß jemand an die Rückseite der Hütte heranschleichen und durch die Öffnung eines aus seinen Fugen gefallenen Mauersteins ihn bei seinem Tun beobachten könne.

Und dennoch war es geschehen. Denn Jockeiklamm war kaum inne geworden, daß Wiedehopf nach Ausspannen der Reusen sich in der Hütte zu schaffen machte, als ihn nur noch das einzige Gefühl der Neugierde beherrschte, der dumpfe Drang in ihm erwachte, durch das Erkunden neuer Geheimnisse erhöhte Gewalt über sein in jüngster Zeit nur widerwillig gehorchendes Werkzeug zu gewinnen.

Behutsam schlich er aus dem Bruch zurück, und sich eines beinah ganz überwucherten Pfades entsinnend, den er kurz zuvor kreuzte, bog er in diesen ein. In seiner Erwartung hatte er sich nicht getäuscht. Dieser führte um das Bruch herum und war offenbar von Wiedehopf selbst gebrochen worden, wenn vielleicht heftiger Wind die Benutzung des unlenkbaren Bootes als zu gewagt erscheinen ließ. Und so gelangte er trockenen Fußes an die Hütte heran, und zwar in den Minuten, in denen Wiedehopfs Erregung den Charakter eines wilden Paroxysmus angenommen hatte.

Beim Anblick der vier goldgefüllten Behälter, auf die der Diener mit dem Ausdruck eines Trunkenen niederstierte, ergriff den alten Spieler namenloses Erstaunen. Dann erfüllten ihn die Empfindungen zügellosen Triumphes. Wie er seine Entdeckung werde ausbeuten können, wußte er freilich nicht; dagegen erschien der Umstand, Mitwisser eines augenscheinlich streng gehüteten Geheimnisses geworden zu sein, ihm schon allein als ein Gewinn. Und so spähte und beobachtete er beinah atemlos unter der äußersten Anspannung seiner Sinne. Er sah die großen Hände, wie zum Abschied, schmeichelnd über den Inhalt der vier Kasten hingleiten, sah, wie die Behälter vorsichtig geschlossen und in ihr Versteck zurückgebracht wurden und dann die großen Hände bedachtsam zu scharren und zu kneten begannen.

Endlich erhob sich Wiedehopf, der so lange auf den Knien gelegen hatte, um seine breitsohligen Stiefel als Ramme zu benutzen. Wie ins Leere stierend, schweiften seine Blicke über die Wand hin, hinter der Jockeiklamm lauerte; fast gleichzeitig stellte er die Bewegung der Füße ein. Ein elektrischer Schlag schien den knochigen Körper durchströmt und gelähmt zu haben. Nur seine Nasenflügel zitterten, während die unheimlichen Fischaugen, indem sie den Blicken Jockeiklamms begegneten, mit einer Schärfe stierten, daß sie zu schielen begannen.

Der alte Spieler triumphierte, als er die Wirkung erkannte, die seine Entdeckung hervorrief. In krähendes Triumphgelächter hätte er ausbrechen mögen beim Anblick der großen, eckigen Gestalt, wie diese, anscheinend einem Gefühl der Schwäche nachgebend, die Knie bog und sich auf den den Schatz bergenden Mauerrest niederließ. Zugleich wechselte die Farbe auf Wiedehopfs Gesicht beängstigend zwischen dunklem Braunrot und fahlem Ledergelb. Was in seinem Inneren vorging, wäre schwer zu erraten gewesen. Dagegen offenbarte sich Geistesgegenwart in seiner Stimme, als er ausrief: »Herr von Klamm, wenn Sie mich sprechen wollten, was hinderte Sie, zu mir hereinzukommen? Hier auf der Mauerbank ist Platz für uns beide.«

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Darauf trat Jockeiklamm in die Tür, und mit einem gewissen Siegesbewußtsein floß es von den beweglichen Lippen: »Es ist nicht schön, einem Mitmenschen nachzuschleichen und ihn zu belauschen, mein lieber Wiedehopf; allein was soll man machen, wenn sich jemand mit unverkennbarer Absichtlichkeit einer Zusammenkunft entzieht? Und ich mußte Sie notwendigerweise sprechen. Das Ausbleiben des Junkers und die plötzliche Abreise des Vaters lassen nämlich nur die einzige Deutung zu, daß der Junker seine Schulden durch Flucht zu bezahlen gedenkt, und Sie müssen darum gewußt haben.«

»Die Möglichkeit der Flucht gebe ich zu,« antwortete Wiedehopf ausdruckslos, »dagegen bestreite ich, daß der Junker einfältig genug gewesen wäre, mich von seinen Plänen in Kenntnis zu setzen.«

»Das glaube Ihnen der Teufel. Auf dem Hofe fällt keine Fliege ohne Ihr Wissen von der Wand, und wenn der Junker Sie nicht ins Vertrauen zog, so ist damit nicht gesagt, daß Sie über seine Absicht nicht unterrichtet waren.«

»Ich kann Sie nicht zwingen, mir zu glauben.«

»Nein, das können Sie nicht,« versetzte Jockeiklamm ungeduldig, »dagegen sind Sie imstande, mir zu sagen, wo der Junker sich zurzeit befindet.«

»Sie trauen ihm größere Dummheit zu, als er besitzt,« erwiderte Wiedehopf mit erwachendem Trotz.

»Ist mein Geld verloren, so mache ich Sie verantwortlich dafür,« erwiderte Jockeiklamm heftig, »vergessen Sie nicht: der Brief und die Wechselformulare sind noch in meinen Händen, und die an den rechten Mann gebracht –«

»Bis auf diejenigen, die Sie dem Junker Hans unter die Feder spielten, als ihm das Messer an der Kehle saß,« warf Wiedehopf grämlich ein, während das eigentümliche Zittern seiner Nasenflügel sich wieder bemerklich machte. »Im übrigen möchte ich Ihnen raten, von dem Brief nicht zu viel Aufhebens zu machen, auch nicht von den Formularen: es könnte mir sonst einfallen, die Sache selber zur Sprache zu bringen, unbekümmert darum, was mich trifft.«

Jockeiklamm betrachtete den Kammerdiener betroffen von der Seite.

»Das möchten Sie?« hob er nach einer Pause spöttisch an, »o, ich hindere Sie nicht. Versuchen Sie es doch, und sehen Sie zu, was dabei herauskommt. Lassen wir das aber; und nochmals fordere ich Sie auf, mir zu verraten, wo ich den Junker Joachim zurzeit treffe. Ihr Schade soll es nicht sein, gelingt es mir, das Geld zu retten.«

»Sie fragen mich zu viel; und dennoch will ich Ihnen genaue Auskunft verschaffen, sobald ich meinen Brief zurückerhielt. Ich will meine Ruhe haben, und müßt' ich sie mit tausend Talern erkaufen. Sie überzeugten sich ja wohl, daß ich nicht mittellos bin,« erklärte Wiedehopf eintönig.

»Ja, Wiedehopf,« bestätigte Jockeiklamm lebhaft, »ich habe mich überzeugt, daß Sie ein wohlhabender Mann sind, ein Mann, fähig, Schadenersatz zu leisten, wo er Verluste verschuldete; und Aufsehen würde es sicher erregen, entpuppte der anspruchslose Kammerdiener sich plötzlich als ein reicher Geizhals. Doch das nur beiläufig. Benutzen wir lieber die günstige Gelegenheit, zu einem für beide Teile befriedigenden Schluß zu kommen. Und so hören Sie: Gelingt es mir durch Ihre Beihilfe, des Junkers habhaft zu werden und den Alten zur Zahlung der Schulden zu bewegen, so händige ich Ihnen alles aus, was irgend ein böses Zeugnis gegen Sie ablegen könnte.«

Wiedehopf drehte den Kopf langsam nach dem alten Spieler um. Leicht schielend rückten die meergrün umkränzten Pupillen einander etwas näher.

»Herr von Klamm,« sprach er gedämpft, »kann ich mich auf Ihr Wort verlassen?«

»Das Wort eines Ehrenmannes,« beteuerte Jockeiklamm.

»Auch darauf, daß Sie niemand verraten, daß ich im Besitz kleiner Ersparnisse bin?«

»Unbedingt, das heißt, nachdem Sie mir den Weg zu unserem Junker zeigten.«

»Gut, Herr von Klamm. Haben Sie die Schriften bei sich?«

»Nein. Derartige wichtige Dokumente trägt man nicht mit sich herum. In meinem Koffer liegen sie wohl versichert.«

»So muß auch ich mit meinen Mitteilungen säumen. Ist's Ihnen recht, dann komme ich nach dem Abendessen zu Ihnen auf Ihr Zimmer.«

»Womit wollen Sie die Wahrheit Ihrer Mitteilung beweisen?«

»Indem ich Ihnen einen Brief des Junkers vorlege, der alles enthält. Morgen und übermorgen ist es noch nicht zu spät, ihn in einem bestimmten Hause in Hamburg verhaften zu lassen.«

»Gut, Wiedehopf, Brief gegen Brief.«

»So wollen wir heimkehren,« meinte Wiedehopf, einen Blick durch die Tür sendend. »In einer Viertelstunde wird es dunkel, dann hat das Lenken des Bootes seine Schwierigkeit. Sie kamen um den Weiher herum? Sind Sie schon früher da gegangen?«

»Nie in meinem Leben. Weshalb meinen Sie?«

»Dann mögen Sie von Glück sagen. Da ist nämlich eine Stelle, auf der man beim kleinsten Fehltritt bis an den Hals in den Morast einsinkt.«

»Mir schien der Pfad vollkommen sicher zu sein.«

»Die Stelle zeichnet sich nicht aus, das ist eben das Gefährliche. Ich selbst gehe nur sehr ungern da herum. Hätt's mich doch vor zwei Jahren beinah das Leben gekostet.«

Jockeiklamm erschrak nachträglich und wippte einige Male zweifelnd den grauen Zylinder.

»Ist das Boot fest?« fragte er nach einer Pause zögernd.

»So fest, wie die Rampe vor dem Hofe.«

»Dann möchte ich mit Ihnen hinüberfahren. Vielleicht landen Sie auf einer trockenen Stelle?«

»Trockene Stellen gibt es nicht. Über die feuchten trage ich Sie hinüber. Hätte es Ihnen gleich angeboten, scheute mich aber wegen des unbequemen Sitzes.«

»In den paar Minuten werden meine Glieder wohl nicht steif werden,« entgegnete Jockeiklamm, dann begaben beide sich nach dem Boot hinüber.

Dadurch, daß das Vorderteil des Bootes nach dem Ufer heraufgezogen worden war, hatte es eine so feste Lage gewonnen, daß selbst Wiedehopfs Last, als er einstieg, um das angesammelte Wasser auszuschaufeln, keine Wirkung auf den elenden Kasten ausübte. Jockeiklamm beobachtete es mit Befriedigung. Sorglos plauderte er zu dem Gefährten, während dieser das löffelartige Gerät langsam und bedächtig handhabte, bis er keinen Tropfen mehr zu fassen vermochte. Zum Schluß legte er das Sitzbrett ungefähr in der Mitte quer über die beiden Bootsränder, worauf er Jockeiklamm riet, einzusteigen. Dieser leistete ungesäumt Folge, nahm aber erst Platz, nachdem er sich durch einige Proben von der Festigkeit des unscheinbaren Brettes überzeugt hatte. Den Korb mit den Fischen stellte Wiedehopf vor ihn hin, und mit beiden Fäusten den Rand des Vorderteils packend, schob er das Boot so weit vom Ufer ab, bis das Wasser beinah in seine langen Stiefel hineinlief. Dann hielt er an, und Jockeiklamm vor unvorsichtigen Bewegungen warnend, stieg er ein. Jetzt erst geriet der wasserschwere Block ins Schwanken, und zwar in einer Weise, daß Jockeiklamm einen Ausruf des Schreckens nicht zu unterdrücken vermochte. Er beruhigte sich indessen, sobald Wiedehopf, mit leichter Mühe das Gleichgewicht herstellend, sich in die Spitze des Bootes eingeklammert hatte und mit regelmäßigem Ruderschlag in stetiger Fahrt zwischen den beiden Schilfwänden hindurch dem offenen Wasser zusteuerte.

Die Sonne war bereits untergegangen und schneller, als bei klarem Himmel, begannen die ersten Dämmerungsschatten sich bemerklich zu machen. Zugleich erwachte eine leichte Brise, geheimnisvoll lispelnd zwischen Binsen, Schilf und Rohr und träumerisch spielend mit den Mummelblättern.

Endlich glitt das Boot ins Freie hinaus, aber langsam, vor sich die lichtgrüne Binsendecke teilend, hinter sich eine schmale Fährte zurücklassend. Mit beiden Händen an das Brett festgeklammert, saß Jockeiklamm, das Bild eines gekrümmten, hinfälligen Greises. Er wußte nicht, woher es kam, aber eine Angst hatte ihn ergriffen, von der er sich keine Rechenschaft abzulegen wußte. Sei es nun, daß die melancholische Beleuchtung dazu beitrug, oder seine Phantasie ihm einen losen Streich spielte, genug, Wiedehopf kam ihm plötzlich ganz verändert vor. So starren Antlitzes hatte er ihn noch nie gesehen; und dann die Fischaugen, die so gräßlich ausdruckslos zu ihm herüberstierten und deren Blick er trotzdem bis in sein halbvertrocknetes Mark hinein zu fühlen meinte. Und warum sprach er nicht? Weshalb schraubte er die Mundwinkel so weit nach den Wangen hinauf und tauchte er das kurze Schaufelruder bald rechts, bald links von sich so leicht in die trüben Fluten, als hätte er ihnen nur schmeicheln wollen? Nein, das war kein Mensch mehr, das war ein Gespenst, ein Höllengeist, in dessen Gehirn der Wahnsinn spukte. Grausen bemächtigte sich des alten Spielveteranen. Er wollte ein Gespräch anknüpfen, und er, der noch nie in seinem Leben um Redestoff in Verlegenheit geriet, jetzt wußte er nicht, womit am geeignetesten zu beginnen war, um das vor ihm sitzende unheimliche Menschengebilde nicht feindselig zu erregen. Da entsann er sich, daß beim Verlassen der Schilfeinfassung ein Wachtelkönig hinter ihm aus dem jenseitigen Ufer schnarrte, und jetzt unterschied er seine Stimme plötzlich auf der rechten Seite. Verstört sah er um sich und dann wieder zaghaft in die seltsam geröteten Fischaugen.

»Wir sind wohl von der richtigen Bahn abgewichen, mein lieber Wiedehopf?« fragte er förmlich zärtlich, nachdem er sich überzeugt hatte, daß nach Beschreibung eines kurzen Bogens das Fahrzeug den Weiher der Länge nach mit kaum wahrnehmbarer Bewegung durchschnitt.

Wiedehopf schien die Frage nicht gehört zu haben oder besann sich auf eine Antwort; denn erst nach einer längeren Pause, die Jockeiklamm wie eine Ewigkeit dünkte, sprach er in zitterndem Fistelton: »Wir rudern dahin, wo der Weiher am tiefsten ist.«

Jockeiklamm erbebte bis in sein verrottetes Herz hinein; schwärzer erschienen Haar und Bart im Gegensatz zu der erbleichenden welken Haut. Er bezweifelte kaum noch, daß er der Willkür eines Wahnwitzigen preisgegeben war. Ratlos sah er um sich. Der graue Zylinder saß jetzt wie festgeschmiedet. Da streifte sein Blick zwei Mummelblätter, die, von der Brise aufgerichtet, ein Weilchen mit ihr kämpften, bevor sie niederklappten. Die Ähnlichkeit mit winkenden Händen war zu groß, um durch den Anblick nicht unheimlich berührt zu werden. Und dazu das häßliche: »Schnarten-dart«, das genau so klang, als hätte eine Geisterstimme aus der Tiefe gerufen: »Jockei-Klamm – Jockei-Klamm.«

Entsetzt suchte er Wiedehopfs Augen.

»Mein lieber Wiedehopf,« hob er kosend an, »ich möchte Ihnen einen Vorschlag zur Güte machen.«

Wiedehopf nickte schwerfällig.

»Wir sind jetzt da, wo der See am tiefsten ist,« fügte er eintönig hinzu, indem er das Schaufelruder einzog und vor sich quer über das Boot legte.

»Was sollen wir länger einander feindlich gegenüberstehen?« fuhr Jockeiklamm zärtlich fort. »Ich habe mir die Sache überlegt. Ihren Brief gebe ich Ihnen auf alle Fälle zurück.«

»Das reicht nicht,« zwängte es sich zwischen den breiten Lippen Wiedehopfs hervor, und das wachsende Grauen des alten Spielers gewahrend, sprach er nach kurzem Sinnen weiter: »Haben Sie Ihr Taschenbuch bei sich?«

»Hier ist es,« lautete die bereitwillig erteilte Antwort, und gleich darauf hielt Jockeiklamm das Buch in den zitternden Händen.

»So nehmen Sie Ihren Bleistift und schreiben Sie auf ein reines Blatt.« Dann, nachdem Jockeiklamm das offene Buch auf die Knie gelegt hatte: »Ich bescheinige hiermit, daß der Kammerdiener Wiedehopf stets befleißigt gewesen ist, alles Unheil, das je von anderer Seite gegen ein Mitglied der Familie von Scherben geplant wurde und so weit es zu seiner Kenntnis gelangte, treu und redlich zu bekämpfen. Ich beteure dies, um Mißverständnissen vorzubeugen, die aus zweideutigen, offenbar gefälschten Briefen hervorgehen könnten.«

Er säumte, bis Jockeiklamm das letzte Wort niedergeschrieben hatte, und fuhr fort: »Jetzt Ihre Namensunterschrift und das vier Tage zurückliegende Datum.«

Pünktlich leistete Jockeiklamm Folge. Er hätte seinen Hals dem Henker verschrieben, wäre er dadurch auf festen Boden versetzt worden. Und was galten schließlich Versprechungen, die ihm in der Todesangst abgerungen worden? Nicht mehr als ein vom Winde entführtes welkes Blatt. Und in Todesangst schwebte er in dem kiellosen, wasserschweren Blockboot, das bei der ersten besten unvorhergesehenen Bewegung umschlagen konnte, zumal es von jemand gesteuert wurde, in dessen Wesen er die Spuren vorläufig noch heimlich wirkenden Wahnsinns zu entdecken glaubte, den aber zu einem verhängnisvollen Ausbruch zu bringen es vielleicht nur eines leisen Widerspruchs bedurfte. Sogar die Offenbarung von Mißtrauen oder Besorgnis mochte eine schreckliche Katastrophe herbeiführen. Und so sprach er, indem er das beschriebene Blatt aus dem Buch riß, seiner Stimme nach besten Kräften einen heiteren Klang verleihend: »Sie sind immer der vorsichtige Mann, mein teurer Wiedehopf, und ich verdenke es Ihnen nicht, mag Ihr Mangel an Vertrauen zurzeit immerhin ein wenig am unrechten Ort sein. Soll nach unserer Heimkehr doch mein Erstes sein, Ihnen die alten Papiere auszuhändigen und mit dreißig vollwichtigen Friedrichsdors zu begleiten.«

»Es ist nur von wegen Leben und Sterben,« meinte Wiedehopf mit röchelnder Stimme und streckte dem Genossen die Hand hin, um das Papier in Empfang zu nehmen; »aber hübsch vorsichtig, Herr von Klamm, damit das Boot nicht kippt.«

Gehorsam reichte Jockeiklamm das Papier über den Fischkorb hin. Indem er sich aber nach vorn neigte, entdeckte er, daß die Schaufel des Ruders auf seiner linken Seite sich von unten heraus dem überragenden Sitzbrett näherte und Wiedehopf sich anschickte, die Stellung seines Oberkörpers zu verändern. Wie ein Blitz durchzuckte es seinen Geist, daß der verbrecherische Genosse darauf ausgehe, sich seiner endgültig zu entledigen, und damit erwachte der Selbsterhaltungstrieb. Er hörte den Schlag des Ruders gegen das Brett, fühlte das Schwanken des Bootes, dem zu widerstehen ihm unmöglich geworden, und seine letzte Kraft zusammenraffend, sprang er in der dumpfen Hoffnung, an Wiedehopf einen rettenden Halt zu finden, über den Fischkorb hinweg. Und er erreichte ihn in der Tat, und bevor Wiedehopf in seiner Sorge um das Gleichgewicht des Bootes es zu hindern vermochte, hatte Jockeiklamm ihn mit beiden Armen umschlungen, sogar in den grauen Leinwandkittel sich festgebissen. Ein kurzer Kampf folgte, ein stummes, erbittertes Ringen auf Leben und Tod. Das vielfache Übergewicht der Kräfte war auf Seite Wiedehopfs. Es wurde indessen dadurch ausgeglichen, daß er gezwungen war, die Lage des Bootes zu überwachen, wogegen Jockeiklamm in seiner Todesangst keine andere Regung mehr kannte, als zu halten, was er einmal gepackt hatte. Es waren keine Menschen mehr, die da miteinander rangen, sondern zwei Teufel, die mit grauenhaft verzerrten Gesichtern ihre fürchterlichen Blicke einer in des anderen, aus ihren Höhlen quellende Augen bohrten.

»Wiedehopf,« ächzte der alte Spieler, ohne die in die Leinwand verbissenen Zähne zu öffnen, »Wiedehopf, noch ist es nicht zu spät – es kann noch alles gut werden –«

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Er verstummte vor der Feindseligkeit, die ihm nunmehr aus den unheimlichen Fischaugen entgegenfunkelte. Als er aber entdeckte, daß die rechte Faust des Gegners das kurze Ruder hob, offenbar in der Absicht, ihn durch Stöße auf den Kopf zu betäuben, warf er, um diesen auszuweichen, sich herum, dadurch das Gleichgewicht des Bootes in einer Weise störend, daß es nicht mehr zurückgewonnen werden konnte und das elende Fahrzeug in seiner ganzen Breite Wasser schöpfte. Wohl versuchte Wiedehopf nunmehr, es wieder aufzurichten, und mit ganzer Kraft arbeitete er, indem er Jockeiklamm röchelnd beschwor, von ihm abzulassen, wenn ihm sein eigenes Leben lieb sei; allein eher hätte er die kreischend auf sie einsausenden Kibitze in ihrem Fluge gehemmt, als daß der alte Spieler, von tödlichem Entsetzen befangen, auf seine Darstellungen gehört und auch nur einen Finger gelockert hätte. Es gelang ihm zwar unter übermenschlicher Anstrengung, dem Boot seine gerade Lage zurückzugeben, doch nur auf Sekunden, und der bis fast an den Rand gefüllte, wasserschwere Block zog alles hinab. Ein doppelter, jeder Beschreibung spottender Todesschrei zitterte über den Weiher hin und erstickte gurgelnd. Wo eben die beiden erbitterten Gegner hartnäckig miteinander rangen, da wallten die Fluten auf, als ob der Kampf in der Tiefe fortgesetzt würde. Dann ebnete sich das Wasser. Eine Schnur Luftblasen tauchte auf, um alsbald zu platzen. Kleinere Blasensträußchen folgten. Mehrere tote Fische, ursprünglich zum Abendessen bestimmt, bezeichneten etwas länger die Kampfesstätte zweier ebenbürtiger Verbrecher. Weiter abwärts schwamm ein grauer Zylinderhut. Der Zufall hatte es gefügt, daß er auf die Krämpe zu stehen gekommen war und mit dieser auf dem Wasserspiegel sich gleichsam festsaugte. Indem die sanfte Brise ihn langsam von dannen trieb und er zuweilen an schwimmendem Blattwerk strandete, wippte er lächerlich nach allen Richtungen, als ginge der lustige alte Jockeiklamm, der Allerweltskerl, in dem Wasser des Weihers spazieren.

Die Brise verstärkte sich. Geheimnisvoll flüsterte und erzählte sie zwischen den Blättern der Zitterpappeln, zwischen Schilf und Rohr. Die Kibitze hatten sich nach Beseitigung der Störung zur Ruhe begeben. Der Wachtelkönig war dagegen noch unermüdlich. »Jockei-Klamm, Jockei-Klamm,« schnarrte er grämlich über den Weiher hin. Dann wieder: »Wiede-Hopf, Wiede-Hopf.« Eine Bruchschnepfe, die sogenannte Himmelsziege, ließ sich mit eigentümlichem, durch den Schlag der Schwingen erzeugtem durchdringenden Meckern aus Wolkenhöhe nieder. Das war der Totengesang für zwei von der rächenden Hand des Geschicks ereilte Giftauswüchse der menschlichen Gesellschaft.



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