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Die Nacht war hereingebrochen. Still lag die Schmiede, deren Bewohner sich gewohnheitsmäßig früh zur Ruhe begeben hatten. In Blisterchens Behausung brannte dagegen noch Licht. Die Wanduhr meldete den Anfang der elften Stunde. Bis dahin hatte die Alte eifrig gesponnen. Jetzt erhob sie sich, und wie abends zuvor, nur bedachtsamer, begann sie auch heute ihren Korb mit Speisen zu füllen. Sie war eben damit fertig geworden und rüstete sich zu dem Gange nach dem Hofe, als es in dem bekannten Takt an das Fenster des Hinterzimmers klopfte.
Blisterchen schien sich auf etwas zu besinnen, zu zweifeln, richtig gehört zu haben. Sobald aber das Pochen dringender wiederholt wurde, eilte sie hinaus, und gleich darauf öffnete sich die Hintertür unter ihren Händen.
»Blisterchen,« tönte es ihr gedämpft und mit dem unverkennbaren Ausdruck heftiger Aufregung entgegen, und zugleich drängte Scherben sich zu ihr hinein, »Blisterchen, um Gottes willen, ich muß fort auf der Stelle. Ich konnte dich nicht mehr erwarten, mußte dir den Gang ersparen, wollte aber nicht von dannen, ohne dir Lebewohl gesagt zu haben. Erschrecke nur nicht – aus dem Fenster bin ich gesprungen – Gefahr ist im Verzuge –«
»Komm – komm,« fiel die Alte bestürzt ein, und hastig verschloß sie die Türe, fügte indessen beruhigend hinzu: »Du siehst zu schwarz. Dein Bruder ist schon mittags abgereist. Auch hat niemand deine Anwesenheit in dem Hause gemerkt. Hättest immerhin noch eine Nacht bleiben sollen und einen Tag, um ordentlich Kräfte zu sammeln.«
Sie waren in das Wohnzimmer eingetreten; doch anstatt sich in dem durchwärmten Raume des Überrockes zu entledigen, blieb Scherben sogar bedeckten Hauptes. Ebenso lehnte er ab, sich niederzulassen. Blisterchen sah ihm schärfer ins Antlitz. Sie entdeckte, daß wahres Entsetzen sich in ihm spiegelte. Ein Ausruf des Erschreckens schwebte auf ihren Lippen, als Scherben dringlich fortfuhr: »Ja, Blisterchen, ich muß von hier verschwinden, oder alles ist verloren. Denn höre nur: ich war nicht der einzige Bewohner des Hauses während dieser Zeit –«
»O, du Allerbarmer,« unterbrach die Alte ihn klagend, und wie sich vor dem Umsinken bewahrend, stützte sie sich mit beiden Händen auf den Tisch, »Hans – es ist unmöglich –« sie erinnerte sich der Spuren des gewaltsamen Eindringens, und kaum noch ihrer Sinne mächtig, fragte sie entsetzt: »Hans – wer? – wer? Hans, sprich doch.«
»Ich weiß es nicht, Blisterchen,« antwortete Scherben fieberhaft erregt, »denn sobald ich entdeckte, daß außer mir noch jemand in dem Hause weilte, bot ich die äußerste Vorsicht auf, nicht von ihm gesehen, wohl gar erkannt zu werden. Bedenke doch, was auf dem Spiele steht, wenn man Verdacht schöpft und Nachforschungen anstellt. Wäre ich doch gestern Abend schon geflüchtet.«
»Du sahst ihn nicht?« fragte Blisterchen förmlich kopflos.
»Nein, wie ich vor ihm, so hielt er sich vor mir verborgen. Aber ich hörte ihn, darüber kann kein Zweifel walten. Ich gewann sogar den Eindruck, daß er Gelegenheit suchte, mich heimlich zu beobachten. Meine letzte Hoffnung begründete sich darauf, daß er alles daran setzte, selbst unbemerkt zu bleiben. Er befand sich also wahrscheinlich auf sträflichen Wegen; da läßt sich erwarten, daß Furcht ihm den Mund schließt und er froh sein wird, ungestört von dannen zu kommen.«
»Die zerbrochene Fensterlade, die Schrammen auf dem Brett,« brachte die Alte mühsam hervor, »ich hätt's erraten müssen – vielleicht ein obdachloser Landstreicher.«
»Hoffentlich, Blisterchen, hoffentlich jemand, der selber froh ist, seinen Weg unbehelligt fortsetzen zu können. Doch was hilft jetzt alles Sorgen. Geschehenes läßt sich nicht rückgängig machen; dir aber rate ich, um den geheimnisvollen Fremden dich nicht weiter zu kümmern. Wer weiß, ließest du das Haus durchsuchen und man fände ihn, so möchte er dadurch zum Sprechen gebracht werden – doch ich muß fort; ich meine zu ersticken zwischen diesen Wänden. Was zu vereinbaren gewesen, haben wir erledigt – nur das eine sage mir noch: Wo ist das Kind? Wie ist es untergebracht?«
»Gut, Hans, gut und sicher, gottlob! Es hat eine treue Mutter gefunden, auch einen unverfänglichen Namen –«
»Nenne ihn nicht – ich will ihn nicht wissen,« fiel Scherben ein, »nein, Blisterchen. Ich gehe jetzt hin, um zu den Toten gezählt zu werden. So gebot mir die Heilige, und was ich ihr gelobte, das muß erfüllt werden. Du aber wirst das Kind in meinem Namen segnen, wirst es beschützen und beschirmen. Lebe wohl, Blisterchen. Du bist die einzige, die mich nicht verdammt, ohne das zu erwägen, was andere an mir sündigten. Lebe wohl, du gute, treue Seele. Gib mir ein Stück Brot mit auf den Weg.«
Blisterchen vermochte kein Wort hervor zu bringen. Aber mit zitternden Händen schob sie aus dem gefüllten Korbe in die Taschen seines Überrockes, was nur hinein wollte, bis Scherben ihr endlich sanft wehrte.
»Ich hätte es wohl kaum gebraucht,« erklärte er gerührt, »aber nachdem ich beobachtet worden, ist Vorsicht in erhöhtem Grade geboten. In den ersten zwei Tagen wage ich nicht, einen Gasthof zu betreten. Dann aber bin ich sicher; fühle ich erst Schiffsplanken unter den Füßen, so gibt es überhaupt keine Gefahr mehr für mich.«
»Aber Geld, Hans, ich kann dir mit etwas aushelfen –«
»Nichts da, Blisterchen, mit Geld bin ich reichlich versehen. Hast du etwas übrig, so denke an mein Kind.«
Sie traten auf den finsteren Flur hinaus. Blisterchen öffnete die Haustüre, und Scherben hinter sich lassend, begab sie sich nach der Landstraße hinüber. Dort lauschte und spähte sie eine Minute nach allen Richtungen. Dann eilte sie zurück, und ihre Arme um des Flüchtlings Nacken schlingend, zog sie dessen Haupt zu sich nieder.
»Lebe wohl, mein liebes Kind,« sprach sie schluchzend, »mag der Himmel dich auf allen Wegen beschirmen. Was du zurückgelassen hast, es befindet sich in der heiligsten Hut. Jetzt fort. Die Straße ist leer und verödet. Jedes Säumen könnte verhängnisvoll werden.«
»Lebe wohl, Blisterchen,« raunte Scherben der Alten tief bewegt zu, »wäre ich ganz unter deiner Obhut herangewachsen, so stände es jetzt anders mit mir. Die Tasche, die du mir gabst, nehme ich mit. Lebe wohl, du Treue!«
Gleich darauf verschwand er unter den die Landstraße beschattenden Bäumen.
Blisterchen spähte ihm nach, so lange sie seine Gestalt zu unterscheiden vermochte, und schwerfällig begab sie sich in ihre Wohnung zurück. Förmlich gebrochen durch die sich überstürzenden Ereignisse, sank sie kraftlos auf ihren Armstuhl. Ihre Tränen waren versiegt; aber im Geiste begleitete sie den Flüchtling auf seinem dunklen Wege, auf dem sie ihn auf Schritt und Tritt bedroht wähnte. –
Wie lange sie dumpf brütend dagesessen hatte, sie wußte es selbst nicht, als abermals auf der Gartenseite an die Türe gepocht wurde. Bestürzt fuhr sie empor. Ihr erster Gedanke war Scherben, daß er Veranlassung gefunden habe, umzukehren und einen seinem Vorhaben günstigeren Tag abzuwarten. Gleich darauf aber sagte sie sich, daß er dann schwerlich den Weg durch den Park gewählt haben würde. Noch schwankte sie zwischen Furcht und Hoffnung, als das Pochen, jetzt aber mit einem Ausdruck von Ungeduld, erneuert wurde.
Am ganzen Körper bebend, ging sie hinaus; doch bevor sie öffnete, fragte sie, wer noch so spät Einlaß begehre.
»Frage nicht lange, sondern laß mich ein,« hieß es rauh zurück, »über das wer einigen wir uns, wenn wir einander betrachten.«
Beim ersten Ton der heiseren Stimme hatte Todesschrecken sich der Alten bemächtigt, daß sie kein Glied zu rühren vermochte. Einer Ohnmacht nahe, lehnte sie sich an die Wand.
»Das ist zu viel,« entwand es sich leise ihren Lippen, als es draußen wiederum hieß: »Worauf wartest du noch, Frau Schwiegermutter? Soll ich die Leute in dem anderen Hause wach rufen? Mir liegt nichts dran, was draus wird. Ob's dir aber angenehm und dem feinen Herrn, der auf dem Hofe übernachtete, ist eine andere Frage.«
Jetzt säumte Blisterchen nicht länger. Wie neu belebt trat sie vor die Türe hin. Eine unnennbare Angst, daß die fremde Stimme im Hause des Schmieds gehört werden könne und davon das Ärgste befürchtend, trieb sie, den Schlüssel hastig zu drehen. Nachdem der Fremde eingetreten war, eilte sie in ihre Stube, wohin jener ihr auf dem Fuße nachfolgte.
»Du wohnst noch immer hier und recht behaglich obenein,« redete der späte Gast sie alsbald an, und eine verschossene Mütze auf den Tisch wirbelnd, warf er sich schwer auf den unter seiner Last ächzenden Lehnstuhl. »Aber was stehst du da und starrst mich an, als wär' ich ein Gespenst? Rühr' dich, Frau Schwiegermutter, und sorge für 'ne ordentliche Mahlzeit. Halb verhungert bin ich schon.«
Bis dahin hatte Blisterchen wie gelähmt dagestanden. Starr hingen ihre Blicke an der vierschrötigen Gestalt in dem zerfetzten Arbeiteranzuge; starr an dem geröteten, breiten Gesicht mit den tückisch funkelnden braunen Augen, dem ein erst wenige Wochen alter roter Vollbart und kurzes, struppiges, hellblondes Haar einen noch wilderen Ausdruck verliehen. Sobald er aber schwieg, entwand sich ihren Lippen mit sichtbarem Widerstreben: »Galle – du hast dich auf dem Hofe aufgehalten?«
»Zum Satan, was soll ich's wiederholen? Wo hätte ich sonst einen sicheren Zufluchtsort gefunden, nachdem ich mir selber aus dem Zuchthause half? Die Straßen und Wege wimmelten von Leuten, die sich 'n Vergnügen draus gemacht hätten, durch mein Einfangen 'nen Judaslohn zu verdienen. Verdammt, hart genug sind sie mir auf den Hacken gewesen, und 'ne Kleinigkeit war's nicht, sie auf 'ne falsche Fährte zu lenken, um hier ein paar Tage in Frieden zu leben und mich vor meinem Aufbruch gehörig auszurüsten, ich meine, nicht so plunderig, wie bei meinem letzten Besuch. Hätte schon längst bei dir angeklopft von wegen etwas Lebensmittel, aber ich traute dir nicht recht. Das hat sich indessen geändert seit gestern abend, und ich müßte meine Schwiegermutter nicht kennen, böte sie nicht ihr Letztes auf, mir gesund über die Berge zu helfen.«
»Ausgebrochen,« sprach die Alte beinahe tonlos, wie im Traume.
»Zum Henker, ja, ausgebrochen, und fangen sie mich, so bin ich vermutlich nicht der einzige, mit dem sie niederträchtig verfahren.«
»Wen meinst du damit?«
»Wen anders, als den Herrn, der vor 'ner Stunde oder zwei in dem alten Hause seinen Weg durchs Fenster nahm. Wundern sollt's mich nicht, hätte er bei dir vorgesprochen,« und argwöhnisch spähte der Räuber durch das Zimmer, um sich von der Sicherheit der Umgebung zu überzeugen.
»Hier war niemand,« versetzte Blisterchen, gewaltsam notdürftige äußere Ruhe erzwingend, »aber du – wenn du jemand sahst, mußt du ihn auch erkannt haben.«
»Ob ich ihn erkannte, kümmert dich zur Stunde nicht mehr, als das Geschrei der Satansvögel im Park. Rede also nicht davon jetzt. Bedenke, seit fünf Tagen habe ich in dem Bau gesteckt und gehungert und gefroren; und für 'nen gesunden Mann ist's ein stark Stück, so lange von 'nem harten Kommißbrot und 'ner Flasche Branntwein und unreifen Äpfeln aus dem Hofgarten zu leben. Kannst überhaupt von Glück sagen, daß ich letzte Nacht im Heißhunger deinen Freund nicht abwürgte, um mir zu dem Fleisch und Brot zu verhelfen, das du ihm so vorsorglich in meinem Schlafzimmer aufbautest, nachdem ihr mich zuvor aus ihm vertrieben hattet. Und noch einmal: worauf wartest du noch, während mir der Hunger die Eingeweide zerfrißt? Zuvor zum Kauen her; hernach reden wir weiter miteinander.«
Mit den Bewegungen einer Schlaftrunkenen kehrte Blisterchen sich ab, um den Forderungen des Zuchthäuslers nachzukommen. Schweigend trug sie an Speisen auf, was sie zu bieten hatte; auch eine Flasche Bier und ein Glas schob sie vor den unheimlichen Gast hin, der alsbald mit tierischer Gier darüber herfiel und nicht eher inne hielt, als bis alle Teller leer waren.
»So,« sprach er, zu der Alten aufschauend, die, neben dem Ofen stehend, ihn so lange mit scharf ausgeprägtem Abscheu überwacht hatte, und er fuhr mit der Rückseite der Hand über den Bart und die fettigen Lippen, »jetzt fehlen mir nur noch Pfeife und Tabak, um mich ganz wohl zu fühlen. Aber nach solchen Dingen werde ich wohl vergeblich bei dir anfragen, und so wollen wir lieber eins miteinander plaudern. Denn die Sache muß zwischen uns klar werden auf die eine oder die andere Art, und das hat keine Schwierigkeit, weil ich die Hand oben halte und du gewiß gern ein übriges für deinen Tochtermann tust –«
»Ja, Tochtermann,« unterbrach Blisterchen ihn auf dem Gipfel ihrer Verzweiflung, »sagtest du Tochtermörder, kämst du der Wahrheit näher.«
»Sag's noch 'mal,« fuhr Galle wild auf, und er machte Miene, sich zu erheben.
»Ja, tausendmal sag' ich's,« versetzte die Alte in ihrer Erbitterung, »denn warst du nicht, so lebte sie heute noch. Sie hast du auf dem Gewissen, und ihr kleines Kind ebenfalls.«
Galle, beeinflußt durch die Unheil verkündende Ruhe, mit der Blisterchen ihre schwere Anklage wiederholte, entschied sich rasch für ein anderes Verfahren.
»Rede, was du willst,« sprach er mit rohem Lachen, »mir verschlägt's nicht so viel,« und laut schnippte er mit Daumen und Mittelfinger; »wer sich verheiratet, muß nicht glauben, auf Samt und Seide gebettet zu werden. Aber ich bin nicht hier, um solche Dinge mit dir zu beraten; sondern, damit du's gleich weißt: über die Berge sollst du mir helfen, in ein ander Land, womit dir selber am meisten gedient ist, und dazu gebrauche ich Geld, viel Geld. Verweigerst du mir das, so bleibt mir nichts anderes übrig, als so lange mich in der Nachbarschaft herumzutreiben, bis ich wieder eingefangen und zum Reden gebracht werde.«
»Woher soll ich so viel Geld nehmen, wie dazu gehört, dich zu befriedigen?« fragte Blisterchen kalt, obwohl ihr das Herz vor Jammer still stehen wollte.
»Das Woher ist mir einerlei,« hieß es höhnisch zurück, »meinetwegen nimm's in der Kirche vom Altar. Wir müßten ja nicht so lange bekannt sein miteinander, um nicht zu glauben, daß 'ne hübsche runde Summe in irgend einem Winkel deines Baues versteckt liege.«
»Oft genug gab ich dir Geld, und das letztemal mehr, als ich verantworten konnte. Du versprachst, übers Meer zu gehen, aber dein Wort hast du nicht gehalten, wie ich's vorhersah. Verpraßt hast du's, bevor du das Meer mit Augen sahst; ein neues Verbrechen war die Folge und Zuchthaus auf viele Jahre.«
»Womit dir am meisten geholfen war, und beging ich eine Dummheit, so hab' ich dafür schwer gebüßt. Danken solltest du mir lieber, daß ich meine Bekanntschaft mit dir ableugnete, anstatt sie zu deiner Schande auszuschreien. Aber ich hatte meine eigenen Gedanken dabei. Es ging mir im Kopf herum, daß ich dich noch einmal gebrauchen könnte, und diese Zeit ist jetzt da. Also gib mir Geld, so viel, wie du nur irgend auftreiben kannst. Verschaffe mir einen Anzug, mit dem ich mich auf der Straße sehen lassen kann – nur nicht allzu fein. Ferner 'nen Kamm nebst Rasiermesser. Dafür leiste ich das Versprechen, mich nicht länger im Lande aufzuhalten, als ich Zeit gebrauche, 'ne Fahrgelegenheit übers Wasser auszukundschaften.«
Blisterchen neigte das Haupt tief auf die Brust. Da Minuten verrannen und sie immer noch schwieg, hob Galle wieder höhnend an: »Kann mir vorstellen, wie's dich wurmt, mich hier zu sehen. Aber jeder ist sich selbst der nächste, und was du nicht für mich tun willst, tust du vielleicht für den Herrn, der in voriger Nacht mein Schlafkamerad gewesen. Wäre wohl genauer mit ihm bekannt geworden; aber da führte der Teufel den Baron Joachim und seine Sippschaft ins Haus, und das gab mir 'nen heillosen Schrecken, daß ich auch dem anderen Herrn nicht traute. Ob der mich ebenfalls ausfindig machte, weiß ich nicht. Denn in den Schornstein war ich geklettert durch 'n Kamin, und als du mit deiner Gesellschaft vorübergingst, hörte ich Wort für Wort, wie du der den Aufenthalt verleidetest.«
»Sahst du den Fremden?« forschte Blisterchen, ohne das Haupt zu erheben, und sichtbar in Furcht vor den auf ihr ruhenden tückischen Blicken.
Galle sann einige Sekunden nach. Er berechnete offenbar die zu erteilende Antwort, bevor er gedehnt erklärte: »Ich sah ihn freilich nicht in der Nähe, aber so deutlich, wie ich dich jetzt vor mir sehe. Eine richtige Baronsgestalt« – er säumte einen Atemzug, denn der Schauder, der Blisterchen durchlief, war ihm nicht entgangen, und nachdenklich fuhr er fort: »Ja, eine Baronsgestalt, daß ich auf den Junker Hans schwören möchte –«
»Der ist tot, gestorben in der Strafanstalt,« unterbrach Blisterchen ihn, und plötzlich von einem glücklichen Gedanken beseelt, richtete sie sich etwas höher auf. Sie gewahrte, daß Galles Blicke sich schärfer zuspitzten, während ein ungläubiges Grinsen um seine Lippen spielte, und eindringlicher wiederholte sie: »Ja, gestorben im Gefängnis. Du schaust mißtrauisch, als ob's ihm gelungen wäre, gleich dir zu entfliehen – da – hier –« und den oberen Kommodenkasten öffnend, zog sie die am Morgen empfangene Zeitung hervor, und das Blatt auf dem Tisch ausbreitend, legte sie den Finger auf die blau angestrichene Stelle, »lese das, und was du sonst noch glauben oder argwöhnen magst, kümmert mich nicht.«
Unter den mit tödlicher Spannung forschenden Blicken der Alten senkte Galle die Augen auf den Artikel.
»Wunderbar,« bemerkte er nachdenklich, »ja, da steht freilich, daß dein Junker Hans an der Cholera gestorben sei.« Zweifelnd schüttelte er sein Stierhaupt und weiter sträubten die buschigen Brauen sich über die tief liegenden Augen hin: »auch das rote Haar war mir fremd: trotzdem möchte ich noch jetzt darauf schwören, daß ich den Herrn nicht zum ersten Male sah. Perücken kann sich jeder über die Ohren streifen, und schon früher hörte man davon, daß in den Listen der Sträflinge auch Verwechselungen vorgekommen. Auf alle Fälle erscheint die Angelegenheit mir wichtig genug, um etwas genauer verfolgt zu werden. Klar ist sie nicht. Wer weiß, ob's mir nicht 'nen Straferlaß eintrüge, wenn ich den Angeber spielte,« und durchdringend sah er auf Blisterchen.
Diese besaß hinlänglich Selbstbeherrschung zu einem verachtungsvollen Lächeln.
»Spiele den Angeber, wie es dir gefällt,« sprach sie mit schwer erheucheltem Gleichmute, »ob's dir selber Vorteil einträgt, wirst du ja erfahren; mich schert's nicht weiter. Was den Gast auf dem Hofe anbetrifft – er mag wenig darnach fragen, ob ein ausgebrochener Sträfling ihn sah. Willst du deine Verwandtschaft mit mir ausschreien, so tu's lieber heut' als morgen. Ich hab's satt, von dir immer wieder heimgesucht und gepeinigt zu werden. Lieber wär's mir freilich – ich gesteh's – du verschwändest auf ewige Zeiten aus diesem Lande, und entschlösse ich mich zu einem letzten Opfer, so geschähe es nicht ohne gute Bürgschaft, daß du wirklich übers große Wasser gingest.«
»Vespreche ich etwas ernstlich, so halte ich's,« antwortete Galle grinsend, »und wär' ich schon früher so gescheit gewesen, so hätte man hier mich längst vergessen gehabt. Jetzt sollen sie mir nachpfeifen. Wer weiß, ob ich's da, wohin ich meinen Weg nehme, so sorgenfrei finde, wie im Zuchthause, wo mir der Tisch regelmäßig gedeckt wurde. Aber nach Belieben sich bewegen zu können, ist 'ne Wohltat, und die möcht' ich bis an mein Lebensende genießen. Da hast du meine Gedanken, und daraus magst du ersehen, daß es mit dem Teufel zugehen müßte, ließe ich mich wieder einfangen, das heißt, nachdem du mir die Mittel vorgeschossen, überhaupt fortzukommen. Es liegt alles in deiner Gewalt. Merke dir aber: legen sie wieder die Hand auf mich, so hindert mich nichts, bekannt zu geben, daß auf dem Hofe ein Herr logierte, der dem Junker Hans so ähnlich, wie zwei Schuhe, die auf denselben Leisten geschlagen und von denen der eine mir nicht gewichst worden,« und um die Wirkung seiner Worte zu prüfen, heftete er den Blick lauernd auf die Alte.
Mit niedergeschlagenen Augen hatte diese seinen drohenden Worten gelauscht. In ihr kämpfte es mächtig. Sie begriff, daß es von ihrer Haltung abhing, ob der in dem Räuber lebende Argwohn zur Überzeugung anwuchs, oder er ihn als eine Sinnestäuschung fallen ließ. Zugleich sann sie auf einen Ausweg, sich seiner mit voller Sicherheit für alle Zukunft zu entledigen. Da sie mit einer Erwiderung zögerte, hob Galle wieder an: »Du kannst dich nicht entschließen? Hängst zähe an deinem Gelde? Gut, ich bin noch zäher, verlaß dich drauf. Magst reden, was du willst, die Sache mit dem Fremden ist nicht richtig; ich seh's dir an.«
»Für deine Reden über den Fremden gebe ich keinen Pfennig,« versetzte Blisterchen, ihre Kraft zusammenraffend. »Du glaubst mir nicht, und bekräftigte ich jedes Wort mit einem heiligen Eide, und welchen Glauben du verdienst, weißt du selber am besten. Besäße ich wirklich ein paar hundert Taler, und ich wollte sie für meine Ruhe drangeben, welche Bürgschaft kannst du bieten, daß du in der Tat übers Meer gehst?«
»Wenn ich's sage, so geschieht's, oder meinst du, ich hätte viel Lust, länger hier zu leben, wie eine Ratte, die keinen Schritt tun kann, ohne fürchten zu müssen, daß sie in eine Falle gerät?«
»Das genügt mir nicht. Nein, ich traue dir nicht; du verdienst kein Vertrauen –«
»So mag das Unglück auf dich –«
»Laß mich ausreden. Hernach magst du tun, was dir gefällt. Ich fürchte dich nicht, und müßte ich selbst die Nachbarn herbeirufen, um dich der Polizei auszuliefern –«
»Das wolltest du tun?« fiel Galle drohend ein, und Haß und Wut sprühten aus seinen plötzlich mit Blut unterlaufenden Augen, »so tu's doch in des Satans Namen, dann wollen wir sehen, wer am schlechtesten dabei fährt.«
»Laß mich ausreden, ich wiederhol's,« entgegnete Blisterchen mit heimlichem Beben, »und baue darauf, daß, wenn du auf meine Bedingungen nicht eingehst, ich mir kein Gewissen daraus mache, noch in dieser Minute Leute herbeizurufen – ich brauche nur aus dem Fenster zu schreien, und der Schmied ist da. Was dann aus dir wird, magst du dir an den Fingern abzählen.«
Sie wartete, bis Galle, um seine Besorgnis zu verheimlichen, ein höhnisches Lachen ausgestoßen hatte, und ruhig sprach sie weiter: »Ein Jammer ist's, daß ich zu dir reden muß, wie zu einem tückischen Getier, aber es gibt keinen anderen Ausweg. Und so höre: Ich besitze noch ein paar hundert Taler, über die ich frei verfügen mag, die will ich an dich wenden, das heißt, auf meine Art. Hier im Hause habe ich sie freilich nicht; du könntest mich morden und fändest nicht so viel, wie du gebrauchtest, um einen neuen Rock zu kaufen. Drum schreiben geht ebenfalls nicht. Ich muß selber hin, um das Geld zu holen. Dazu gebrauche ich vier Tage. Diese Zeit kannst du noch auf dem Hofe verbringen. So viel Lebensmittel, wie notwendig, gebe ich dir obenein. Kehre ich heim, so suche ich dich auf. Bis dahin rührst du dich nicht von der Stelle, oder ich ziehe meine Hand von dir zurück, und das Unglück mag meinetwegen auf uns beide hereinbrechen.«
»Sorge nicht. Gib mir so viel, wie erforderlich ist, mich in Sicherheit zu bringen, und nie wieder sollst du von mir hören,« warf Galle mit wilder Gier ein.
»In deine Hände kommt kein Pfennig, wenigstens nicht mehr, als gerade ausreicht, dich nach einer Seestadt zu schaffen,« erklärte Blisterchen nunmehr entschieden, »dort wird dann weiter für dich gesorgt werden. Wie ich's einrichte, weiß ich selber noch nicht, aber ich habe meine eigenen Gedanken darüber. Denn außer Landes sollst und mußt du, und bist du erst auf der anderen Seite des Meeres, so wirst du dich besinnen, jemals wieder diese Gegend zu betreten.«
»So könnt' ich doch schreiben,« höhnte der Räuber.
»Ich will nichts von dir sehen oder hören.«
»Ich meine nicht an dich, sondern an Leute, die sich 'ne Freude draus machen, deinem Geheimnis auf dem Hofe nachzuspüren.«
Blisterchen sann eine Weile nach und antwortete anscheinend gelassen: »Du möchtest auch in der Fremde deine Erpressungen fortsetzen? Nun ja, schreibe an wen du willst. Aber gut, daß du mich daran erinnerst. Vielleicht gelingt es mir, dir das Schreiben zu verleiden. Ich hörte davon, daß man entsprungene Verbrecher ausliefern lassen kann. Jetzt gehe. Da steht ein Korb mit Lebensmitteln. Der war für den Fremden bestimmt. Der ist gegangen, ohne sich zu verabschieden: da magst du ihn mit dir nehmen. Morgen abend trag' ich dir neuen Vorrat auf vier Tage zu. Ich werde alles neben die Haustüre stellen, da kannst du dir's holen. Wiedersehen will ich dich nicht; erst am letzten Tage, wenn ich dir die Kleider und Mittel einhändige, damit deine Flucht fortzusetzen. Jetzt gehe und überlege dir, daß ich lieber zehnmal gestorben wäre, als daß ich erlebt hätte, dich in Schimpf und Schande versinken zu sehen.«
Galle sah auf Blisterchen mit gemischten Empfindungen. Doch nur flüchtig spiegelte sich Reue in seinen wilden Zügen; dann trat wieder Hohn an deren Stelle. Er erhob sich, und mit der linken Hand den Korb ergreifend, streckte er die Rechte der Alten entgegen.
»So will ich dir 'ne gut zu schlafende Nacht wünschen,« spottete er; »tu', was du kannst, und du sollst mit mir zufrieden sein. Säßest du nicht in der Klemme, möchte deine Hilfe lumpig genug ausfallen. Vergiß aber nicht; ich verstehe keinen Spaß, und müßten wir beide dran glauben.«
Blisterchen, anstatt seine Hand zu nehmen, trat schaudernd einen Schritt zurück. »Lieber steckte ich meine Hand in geschmolzenes Blei, als daß ich eine andere berührte, die mein eigenes armes Kind schlug. Geh', sag' ich dir, es möchte noch sonst gereuen, dir die Luft in meinem Hause gegönnt zu haben.«
Galle zuckte die Achseln. Einige Sekunden schien er zu zweifeln, dann trat er mit den Worten: »Wir wollen sehen, wie alles abläuft,« auf den Flurgang hinaus.
Mit sicherem Griff schob er die Riegel zurück und drehte den Schlüssel. Einmal draußen, schlug er, ohne sich umzusehen, die Richtung nach dem Hofe ein. –
Die Sterne funkelten, die Eulen ließen ihre klagenden Stimmen erschallen. Still lag die Schmiede, still Blisterchens Haus. Sie selbst saß noch lange auf ihrem Armstuhl, die Hände vor sich auf dem Schoß gefaltet; Träne auf Träne rollte über ihre bleichen Wangen. –
Als Blisterchen folgenden Morgens in dem Hause des Schmieds erschien, erschraken alle, so übernächtig und hinfällig sah sie aus. Es wurde sogar die Besorgnis laut, daß wohl eine schwere Krankheit im Anzuge sein möchte. Sie ermunterte sich indessen im Laufe des Tages, und wohlgemut erklärte sie, schon anderen Morgens eine kleine Reise antreten zu wollen, die sie voraussichtlich vier Tage fern halten würde.
Pünktlich traf sie am vierten Tage des Abends wieder ein. Es war schon dunkel, niemand bemerkte sie daher, als sie mit einem großen Paket unter dem Arm ihr Häuschen aufschloß. Ein Stündchen verbrachte sie noch im Schmiedehause, wo sie anscheinend fröhlich und guter Dinge ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich der kleinen Unica zuwendete. Dann, nach der anstrengenden Reise Müdigkeit vorschützend, begab sie sich frühzeitig zur Ruhe. –
Um Mitternacht verließ Galle den Hof und damit auch Blisterchen, die sich zu ihm begeben hatte, auf Nimmerwiedersehen. Er war anständig gekleidet und bis auf einen ehrbaren Backen- und Kehlbart sauber rasiert. In der Tasche trug er eine kleine Geldsumme, außerdem einen unscheinbaren Zettel, den an Zahlungsstatt anzunehmen er sich anfänglich störrisch weigerte.
Auf dem Papier standen nur die genaue Adresse eines Bankhauses in der nächsten Hafenstadt und eine kurze Reihe hebräischer Schriftzeichen.
Die nächsten Tage verstrichen in ungestörter Ruhe. Blisterchen schaute wohl etwas nachdenklicher darein, allein nach Ablauf einer und einer halben Woche und nachdem ein Brief aus der Hauptstadt ihr zu Händen gekommen war, wurde sie wieder ganz die Alte. Und doch enthielt das Schreiben weiter nichts, als die beiden, von einer Kaufmannshand herrührenden Worte: »Alles geglückt.«
Der Wochen vier gingen noch dahin, da erhielt auch Doktor Hasselberg einen Brief aus New-Orleans, und zwar mit englischer Adresse. Das Schriftstück enthielt nur die flüchtige Zeichnung einer Windrose und darunter einen fliegenden Vogel, dessen Kopf gen Westen wies. –