Balduin Möllhausen
Der Fährmann am Kanadian
Balduin Möllhausen

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Drittes Kapitel.
Robert und Bertram.

Anstatt sich nach seiner Wohnung zu begeben, bog der Doktor eine Strecke vorher in eine schmale Querstraße ein.

Vor einem vierfensterigen zweistöckigen Hause blieb der Doktor Robert Hasselfeld endlich stehen, und einen neben der Türe aus dem Mauerwerk hervorragenden, verrosteten Ring ergreifend, zog er drei-, viermal aus Leibeskräften. Der Ton einer heiseren Glocke drang gedämpft, wie aus weiter Ferne, zu ihm heraus. Da nach Ablauf zweier Minuten kein weiteres Lebenszeichen erfolgte, erneuerte er den Angriff auf die Klingel noch heftiger. Dann erst wurden schlurfende Schritte vernehmbar, und mit diesen einte sich ein unwirsches Murmeln. Doch auch des Doktors Ungeduld offenbarte sich, indem er vor sich hin grollte: »Dieses alte, ramponirte Heft; bei Tage kann man nicht oft genug kommen, um sich mit endlosen Abhandlungen über seine neuesten Erfindungen abfüttern zu lassen; soll er hingegen nachts einmal aus den Federn kriechen, so flucht er drei Tage lang wie ein Türke.« Und wie als Antwort auf das kurze Selbstgespräch tönte es hinter der geschlossenen Türe hervor: »Zum Henker, wer reißt da an der Klingel, als ob's ein Pumpenschwengel wäre?«

»Ich selber,« hieß es zurück; »vertrödle die Zeit nicht mit Vorreden, sondern mach' auf!«

»Robert, was in des Teufels Namen treibt dich, in aller Nacht eines ehrlichen Christen dürftigen Schlaf gewaltsam zu schmälern?« drang es verdrossen aus dem Inneren heraus.

»Kleinigkeiten am wenigsten,« erklärte der Doktor ungeduldig, »noch weniger Wohlgefallen an der Giftatmosphäre in deiner Höllenbude. Aber vorwärts, vorwärts! Öffne, oder du sollst es bereuen.«

»Du, Robert, hat's nicht Zeit bis morgen?«

»Du, Bertram, morgen hab' ich's vergessen. Ich lag schon im Bette, als mir einfiel, daß dem Tannin auf einfachere Art falsche Vanillenessenz entzogen werden kann –«

»Da hättest du zum ersten Male in deinem Leben einen gescheiten Gedanken gehabt,« fiel Bertram Schierlein, allgemein bekannt unter dem Namen Schierling, lebhaft ein; »aber warum sagst du das nicht gleich?« und eilfertig wurden zwei Riegel zurückgeschoben und ein Schlüssel im Schloß gedreht.

Gleich darauf öffnete sich die Türe, und nachdem der Doktor hineingeschlüpft war, verschloß Schierling sein Haus alsbald wieder doppelt und dreifach, und eine messingene Schiebelampe hoch haltend, beobachtete er den späten oder vielmehr frühen Gast mit sichtbarer Spannung.

Schulkameraden und Studiengenossen waren die beiden Männer, die so lange in stetem Frieden miteinander lebten, bis Robert sich für die Medizin entschied, Bertram dagegen sich auf die Pharmazie verlegte. Die zwischen ihnen bestehenden Gegensätze verschärften sich noch, als Bertram Schierling erklärte, es widerstrebe ihm, gegen sein besseres Wissen die verrücktesten Rezepte zusammenzubrauen, worauf er die Pharmazie an den Nagel hing und sich ein chemisches Laboratorium einrichtete. Die alte Anhänglichkeit konnte dadurch zwischen den beiden freilich nicht abgeschwächt werden, allein sie brauchten nur eine halbe Stunde zusammenzusein, um über diese oder jene Frage in heftigen Streit zu geraten und als Todfeinde auseinander zu gehen. Glücklicherweise dauerte die bittere Feindschaft nicht länger, als bis sie sich gegenseitig den Rücken gekehrt hatten. Dabei ging Schierling von dem versöhnlichen Gedanken aus, daß Ärzte überhaupt nichts verständen und man daher Nachsicht üben müsse, während der Doktor sich damit beruhigte, daß in den Köpfen aller Apotheker mehr oder minder eine Schraube los sei.

Trotz dieser Gleichheit der Anschauungen hätte man vergeblich nach weiteren Ähnlichkeiten zwischen den beiden Freunden gesucht. Höchstens wäre eine solche in dem gutmütig verschmitzten Ausdruck der blauen und braunen Augen zu entdecken gewesen, oder in der Gestalt beider, die die Mittelhöhe kaum erreichte. Im übrigen erinnerten sie in der trübseligen Beleuchtung der seit ihrem Entstehen nicht nennenswert geputzten Lampe an zwei Bücher, deren eines von den Händen eines Klippschülers ein halbes Jahr mißhandelt worden war, während das andere sich durch sauberen Einband und Goldschnitt auszeichnete. Denn trotz der Spuren der nächtlichen feuchten Wanderung erkannte man in dem Doktor auf den ersten Blick einen auf sein Äußeres bedachten älteren Junggesellen, wogegen Schierling, ebenfalls Junggeselle, sich nur mit Widerstreben der Mode der Bekleidung überhaupt zu fügen schien.

Abgesehen von dem struppigen, borstenähnlichen braunen Haar, das auch bei jedem anderen, der hinterrücks aus den Federn gejagt worden, nach allen Richtungen gestanden hätte, und von den seit drei Tagen unrasierten Wangen und Kinn, die von einem nicht minder struppigen Schnurrbart beherrscht wurden, steckte er in einem pelzgefutterten, grauen, verdächtig glänzenden Schlafrock, dessen Risse und offenen Nähte auch den langmütigsten Flickschneider zu einem mißbilligenden Kopfschütteln verleitet hätten. Zum Glück für den äußeren Anstand reichte dies beinahe einzige Bekleidungsstück so tief herunter, daß nur zwei niedergetretene Filzschuhe, die offenbar keine Zwillingsgeschwister waren, sichtbar blieben.

»Du willst heute wohl noch zum Ärztetag,« knurrte Schierling nach kurzem Schweigen, »daß du dich putzest wie ein Backfisch, der sich zur Tanzstunde rüstet. Bezweckst du weiter nichts, so hättest du bleiben sollen, wo du hergekommen bist.« Aber in der Besorgnis, den Freund unverrichteter Sache zornig davonstürmen zu sehen, fügte er eifrig hinzu: »Also über die Eigenschaften des Tannins möchtest du mit mir reden? Nun ja, der Tausendste ahnt nicht, was alles in den Bastteilen der Tannenrinde steckt. Allein daß du, doch nur ein Mediziner, dich viel um dergleichen gekümmert haben könntest, erscheint mir mehr als zweifelhaft,« und gemächlich lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand.

Anstatt zu antworten, betrachtete der Doktor den alten Burschen einige Sekunden erstaunt. Dann meinte er spöttisch: »Es gewinnt fast den Anschein, als wolltest du hier in dem dumpfigen Flurgange eine Konferenz mit mir abhalten.«

»Warum nicht?« fragte Schierling harmlos; »die wahre Wissenschaft kennt weder Hindernisse noch Unbequemlichkeiten. Wenn dir indessen damit gedient ist, so tritt näher. Wollen zunächst meinen Tanninextrakt prüfen, und hängen will ich, schwörst du nicht darauf, daß es unverfälschte Vanille sei.«

Mit den letzten Worten schlurfte er nach dem anderen Ende des Ganges hinüber, wo er seitwärts eine Tür öffnete und in das vor ihm liegende Gemach eintrat.

Nachdem er die Lampe auf die Ecke einer umgestürzten, mit mancherlei Dingen bedeckten Kiste gestellt hatte, kehrte er sich dem Doktor zu, der sich, ohne abzulegen, vergeblich nach einer Gelegenheit zum Niedersitzen umsah.

Stühle waren zwar vorhanden, auch kleine und größere Tische, zwei Kommoden und ein zerwühltes Bett von wenig einladendem Aussehen, allein wohin man sich wenden mochte, überall trafen die Blicke auf große und kleine, dick- und dünnhalsige Flaschen, auf Retorten, Filtrierapparate, kurz, auf unzählige Gegenstände, wie man sie im allgemeinen in jedem Laboratorium findet, die aber hier in einem unbeschreiblichen Gewirre durcheinander lagen und standen, daß es als ein Wunder erscheinen mußte, wenn der Besitzer selber sich noch dazwischen zurechtfand. Die Wände waren selbstverständlich kahl. Nichts gab es da, was man als Zimmerschmuck hätte bezeichnen können, höchstens ein halbes Dutzend sauber präparierter, dick bestaubter Menschenskelette in den wunderlichsten Stellungen, die, zu Häupten des Bettes in Reihe und Glied geordnet, eine Art Leibwache bildeten. Und wie in diesem Zimmer, sah es unstreitig in den Nebenräumen aus, wo das tolle Chaos seine Fortsetzung fand. Über allem aber schwebte eine Atmosphäre, aus der man Ziegelsteine hätte schneiden können und aus der einen bestimmten Duft heraus zu erkennen höchstens Bertram Schierling selber fähig war, weil er eben verstand, jedesmal das zu riechen, was er riechen wollte.

Der spähende Blick des Doktors war dem Chemiker nicht entgangen, und gutartige Schadenfreude zuckte um die Wichsbürste unterhalb seiner ziemlich fleischigen Nase. Er beeilte sich indessen, die den nächsten Stuhl beschwerenden Gegenstände wenig sorgfältig auf den Fußboden zu stellen oder zu werfen, worauf er ihn neben das zerwühlte Bett hinschob. Er selbst kroch in das Bett hinein, den Doktor einladend, ihm gegenüber Platz zu nehmen.

»So, mein lieber Robert,« sagte er lebhaft, und behaglich stützte er sein Haupt auf beide Fäuste, die mit ihren schwarzen und braunen Flecken etwas an Leopardentatzen erinnerten; »jetzt laß mich hören, was du über das Tannin ausgeklügelt hast. Wahrscheinlich ein Verfahren, das ich schon vor Olims Zeiten unter das alte Eisen warf.«

Statt zu antworten, sah der Doktor seinen wunderlichen Freund an, als wäre er noch von Zweifeln befangen gewesen. Zugleich nahm er den feuchten Schlapphut von seinem Haupte, pflügte gewohnheitsmäßig den Haarwuchs in eine herausfordernde Spitze empor, und seine Stimme unwillkürlich dämpfend, begann er: »Mit dem Tannin ist's nichts. Die Bemerkung diente nur als Vorwand, um überhaupt von dir eingelassen zu werden.«

»So?« spöttelte Schierling ungläubig, »so magst du dir das nächste Mal die Arme an dem Glockenzuge ausrenken, bevor ich ein Lebenszeichen von mir gebe. Aber, zum Henker, du mußt doch einen Grund gehabt haben, mich so elendiglich zu täuschen.«

»Zwei besondere Gründe, Bertram. Erstens lief ich Gefahr, unverrichteter Sache wieder abziehen zu müssen, und zweitens ist mein Anliegen ein solches, wie es nicht auf öffentlicher Straße ausgeschrien werden darf. Zunächst eine Frage – das heißt, ich rechne auf strengste Diskretion.«

»Selbstverständlich,« gab Schierling bereitwillig zu.

»Gut also,« nahm der Doktor die Unterhaltung alsbald wieder auf; »nun sage mir aufrichtig, ob du geneigt bist, mir zuliebe an einem gefährlichen Unternehmen dich zu beteiligen.«

»Für einen nüchternen Mann gibt es überhaupt keine Gefahren.«

»Doch, doch, Bertram, denn bei dem mir vorschwebenden Unterfangen droht im Falle des Mißlingens die Gefahr des Gefängnisses und polizeilicher Aufsicht.«

»Was du mir vorschlägst, kann nichts Unehrenhaftes sein, und du steckst am wenigsten deinen Kopf in eine Schlinge, ohne Mittel zu kennen, ihn ungeschädigt zurückzuziehen.«

»Richtig, Bertram, einer unehrenhaften Handlung bin ich ebensowenig fähig, wie du selber. Beabsichtige ich aber, gegen das Gesetz zu verstoßen, so sind meine Gründe die achtbarsten der Welt. In jüngeren Jahren war's nichts Ungewöhnliches, daß wir, um unsere Kenntnisse zu bereichern, den Kirchhof um eine Leiche prellten.«

Schierling stieß einen eigentümlich pfeifenden Ton aus, während es in seinen Augen wie Begeisterung aufloderte.

»Also darauf hinaus willst du?« fragte er, und wohlgefällig wies er auf die beinah im Bereich seiner Hand befindlichen Skelette, die hohläugig und zähnefletschend die beiden vertrauten Freunde angrinsten. »Nun ja, da stehen einige Proben unserer Kunst, und leicht war's uns nicht gemacht, sie beiseite zu schaffen, namentlich bei dem da nicht mit dem roten Bändchen um den Halswirbel, den der Scharfrichter mit einer wahren Virtuosität durchhauen hatte. Pah, Robert, handelt sich's um weiter nichts, als darum, so bin ich der deinige.«

»Dann also eine andere, in dein Fach einschlagende Frage: Kannst du als gewiegter Chemiker ein Mittel herstellen – meine Erfahrungen stehen dir zur Verfügung – durch das man einen todähnlichen Starrkrampf, der mindestens sechs Stunden andauert, zu erzeugen vermag? Du begreifst, zu einem gefährlichen Unternehmen bedarf es der größten Vorsicht, und daher ist streng ausgeschlossen, die Mitwirkung einer Apotheke in Anspruch zu nehmen.«

.

»Kleinigkeit,« beteuerte Schierling selbstbewußt. »Deine freundlichst offerierten ärztlichen Erfahrungen lehne ich nebenbei dankbarlichst ab. Nicht umsonst fungierte ich zwölf Jahre als Provisor, und auf dem, was ich mir damals aneignete, habe ich bedachtsam weitergebaut. Hast du Zeit, so versenke ich dich zur Probe innerhalb weniger Minuten in den glänzendsten zehnstündigen Starrkrampf, ohne daß du beim Erwachen viel Unbequemlichkeiten verspüren sollst.«

»Ich danke bestens für deinen guten Willen und glaube dir auch ohne voraufgegangene Probe. Wenn du nur sicher bist, daß die künstliche Katalepsie nicht bis in die Ewigkeit hinein dauert.«

»Ich brauche nur die Konstitution des Betreffenden einigermaßen zu kennen, und die Starrheit endigt, je nach Vorschrift, auf die Minute. Schlimmsten Falles helfen wir mit etwas Morphium- und Chloral-Einspritzungen nach.«

»Ich kenne deine Zuverlässigkeit, doch möchte ich bei der Herstellung zugegen sein. Ich fürchte deinen Famulus –«

»Keine Not,« fiel Schierling wohlgemut ein, »den Schlingel jagte ich vor einigen Tagen zum Teufel, weil er eben im Begriff war, ein Stückchen Cyankali in seiner Tasche verschwinden zu lassen. Ich schüttelte ihn gehörig durch, und da meinte er in seiner Unschuld, er habe es für Kandiszucker gehalten.«

»Mich wundert, daß nicht längst sich jemand bei dir vergiftete.«

Schierling lachte spöttisch, und der Doktor hob nach einer kurzen Pause des Nachdenkens wieder an: »Das trifft sich glücklich. Ich habe nämlich eine Person, die ich in nächster Zeit gut unterbringen möchte. Sie ist wohl etwas schwer von Begriffen, dafür aber um so dienstfertiger und gewissenhafter.«

»Ein Frauenzimmer und stumpfsinnig obenein?«

»Ein armes Geschöpf ohne viel eigenen Willen, also wie geschaffen für dich. Wirft sie eines Tages Cyankali statt des Zuckers in deinen Kaffee, ist's deine eigene Schuld.«

»Ich trinke meinen Kaffee schwarz und bitter; dein Witz paßt also nicht auf mich. Ist's übrigens, wie du sagst, so will ich wenigstens einen Versuch mit ihr machen.«

»Gut,« erklärte der Doktor, »so sprechen wir zu gelegener Zeit weiter darüber. Jetzt will ich dich nur noch oberflächlich mit der Ursache bekannt machen, die meinem beabsichtigten Verfahren zugrunde liegt.« Mit diesen Worten rückte er dicht an das Bett, und dem alten Freunde sich zuneigend, schilderte er mit gedämpfter Stimme seine jüngsten Erlebnisse.

Schierling lauschte gespannt. Hin und wieder entwand sich gleichsam unbewußt seinen Lippen: »Armes Weib – bedauernswerte Kreatur – sie darf nicht ohne den letzten Trost von dannen gehen – der Satan über alle Spieler.« Und als der Doktor endlich mit der Bitte um seine Meinung schloß, beteuerte er mit einer gewissen Begeisterung, ihm bereitwillig zur Hand zu gehen, woran er die Frage schloß, wieviel Zeit er der armen Dulderin noch gebe.

»Treten nicht unvorhergesehene, große Erschütterungen ein, die ein jähes Ende herbeiführen,« erklärte der Doktor ernst, »so hoffe ich, sie noch über zwei Wochen hinauszubringen. Der Ärmsten Wünsche möchte ich erst dann erfüllen, wenn ich ihren Tod annähernd berechnen kann. Und eine Weile erfordert es immerhin, unsere Vorbereitungen so zu treffen, daß ein Mißlingen und damit die Entdeckung nicht leicht zu befürchten ist.«

»Ich selber gebrauche höchstens vier Tage von wegen des Gärungsprozesses,« versetzte der Chemiker, sein Kinn behaglich mit der Leopardentatze reibend, »dann aber magst du zu jeder Stunde über mich verfügen.«

»Wir sehen uns ja noch öfter,« erwiderte der Doktor wie zweifelnd, »nur eins liegt mir schwer auf der Seele. Ich meine, wenn irgend ein Verdacht zu Nachforschungen führte und man hier bei dir vorspräche, was würdest du beginnen?«

Schierling lachte sorglos.

»Wer hier vorspricht,« rief er aus, »der kehrt unverrichteter Sache wieder um. Schlimmsten Falles zeige ich dem Spion eins der Skelette da und lasse ihn den Namen lesen, den ich bis dahin auf dessen Schädel geschrieben habe. Und so schwer wird eine zu wissenschaftlichen Zwecken ausgeführte Beiseiteschaffung am Galgen oder im Gefängnis gestorbener Verbrecher nicht bestraft, daß deshalb die Welt aus den Fugen ginge. Also keine Sorgen; wir sind ja die Alten, und was wir damals ausführten, gelingt uns auch heute noch. Es waren immerhin lustige Zeiten, und es ist nur zu bedauern, daß du von der Anatomie abgingst, um als Armen- und Gefängnisarzt ein Proletarierleben zu führen.«

»Was ich nie bereute,« versetzte der Doktor, »denn findet je ein Mensch Gelegenheit, sich aufrichtigen Dank zu erwerben, so bietet sie sich dem Armenarzt, der pflichtgetreu seinem Berufe obliegt, den Sträfling wie den mittellosen Kranken mit der gleichen Sorgfalt behandelt, wie jeden anderen, der zu Neujahr mit Goldstücken klingelt. Aber davon verstehst du nichts.«

»Vielleicht mehr als du,« warf Schierling kampflustig ein, nickte aber beifällig und fügte hinzu: »Du bist ein anständiger Kerl; aber wie wär's, wenn wir jetzt zu dem Tannin übergingen?«

Der Doktor sah nach der Uhr und erhob sich. »Heute nicht mehr,« antwortete er schwermütig lächelnd, »es hat drei geschlagen, und der neue Tag bringt neue Arbeit. Mit dir ist's ein anderes. Du bist unabhängig und kannst schlafen, wann es dir beliebt.«

»Wie du willst,« entgegnete Schierling, indem er sich aus dem Bett wälzte und nach der Lampe griff, »ich beklage nur, daß du nicht ebenfalls ein unabhängiger Chemiker geworden bist; du hättest wahrscheinlich Bedeutendes geleistet. Doch gleichviel, auch Ärzte muß es geben, um die Apotheker in Nahrung zu setzen; weiter hat es freilich keinen Zweck.«

Heute erwies der Doktor sich unempfindlich gegen die üblichen Angriffe. Sie waren auf den Flurgang hinaus getreten und schritten langsam der Haustüre zu.

»Es bleibt also bei der Verabredung,« sprach der Doktor, als er sich von dem Freunde verabschiedete.

»Der Deinige auf Leben und Tod.«

»So überlege alles reiflich und laß dabei deine unvergleichliche Erfindungsgabe walten. Ein zu bedenklicher Schritt ist es, zu dem wir uns verschworen haben.«

»Sorge nicht. Erwäge, wie manche Metze Äpfel wir als Kinder miteinander gestohlen haben, ohne jemals abgefaßt zu werden; das schärft den Verstand und erhöht die Gewandtheit. Doch jetzt mach', daß du fortkommst, hier wird einem kühl,« und mit den letzten Worten drängte er den Freund aus dem Hause.



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