Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Schluß

Der Hauptfehler dieses Buches ist, daß es seinen Titel nicht erfüllt. Es handelt nicht über die »Frauen der Revolution«, sondern über einige Heldinnen, einige mehr oder weniger berühmte Frauen. Es spricht von besonders hervorbrechenden Tugenden. Unendlich viele heimliche Opfer wurden dargebracht, die um so verdienstvoller sind, als kein Ruhm von ihnen kündet.

Was die Frauen im Jahre 1789, beim Aufgang der Morgenröte, was sie im Jahre 1790, als die Sonne am höchsten stand, bedeuteten, in der heiligen Stunde der Verbrüderungen, mit wie begeistertem Herzen sie den Altar der Zukunft errichteten – und schließlich im Ausgang des Jahres 1792, als sie sich dieses Herz ausreißen und alles, was sie liebten, zum Opfer bringen mußten! – wer vermöchte das zu schildern? Ich habe es an anderer Stelle unternommen, ein flüchtiges Bild davon zu zeichnen, aber wie unvollständig ist das!

Während der zehn Jahre, die dieses historische Werk in Anspruch nahm, habe ich auf meinem Lehrstuhl im Collége de France versucht, die großen Gegenstände des Einflusses der Frau und der Familie wieder aufzunehmen und zu vertiefen.

Besonders im Jahre 1848 lehrte ich, die Frau müsse den Anfang machen mit der Erneuerung unserer Verhältnisse. Ich sprach zur Republik: ihr werdet den Staat nicht fest begründen ohne eine moralische Reform der Familie. Das zerrüttete Familienleben wird nur am Sitz des neuen Altars erstarken, der von der Revolution gegründet wurde.

Was hat die große Mühe genützt? Und wie haben diese Worte gewirkt? Wo ist die wohlwollende, sympathische Zuhörerschaft?

Soll ich mit dem alten Villon sprechen: »Wo ist der Schnee vom vorigen Jahr?«

Aber die Mauern wenigstens denken noch daran, der Saal, der von der mächtigen Stimme Quinets widerhallte, und das Gewölbe, in dem ein prophetisches Wort Mickiewicz in feurigen Buchstaben geprägt wurde.

*

Ja, ich sagte zu den Frauen: Keiner ist mehr am Staate interessiert als ihr, denn keiner trägt schwerer als ihr das Gewicht des allgemeinen Unglücks.

Der Mann gibt sein Leben hin und seinen Schweiß. Ihr gebt eure Kinder.

Wer bezahlt mit seinem Blute? Die Mutter.

Sie leistet den größten Beitrag zu unseren Angelegenheiten, den wertvollsten Einsatz.

Wer hat mehr als ihr das Recht, die Pflicht, sich über dieses Interesse aufzuklären und sich durchaus um die Schicksale des Vaterlandes zu kümmern?

*

Frauen, die ihr dieses Buch lest, zerstreut eure Aufmerksamkeit nicht bei den wechselnden Anekdoten dieser Lebensbilder. Beachtet wohl die ersten und die letzten Seiten.

Was lest ihr auf den ersten?

Die Empfänglichkeit, das Herz, das Mitleid mit dem Elend der Menschen trieb euch im Jahre 1789 in die Revolution. Ihr hattet Mitleid mit der Welt und ihr brachtet es so weit, daß ihr sogar die Familie opfern konntet.

Und was besagt der Schluß des Buches?

Wieder trugen Empfänglichkeit, Mitleid, Schauder vor dem Blut, sorgende Liebe zur Familie mehr als alles andere dazu bei, euch in die Arme der Reaktion zu treiben.

Der Schauder vor dem Blut! Und der weiße Schrecken in den Jahren 1795 und 1815 vergoß durch seine Gewalttaten mehr Blut als das Schafott im Jahre 1793.

Die Liebe zur Familie! Für eure Söhne, für ihr Leben und ihr Wohlergehen verleugnetet ihr den Gedanken von 1792, die Erlösung der Welt. Ihr suchtet bei den Starken Schutz. Doch was wurde aus euren Söhnen? So jung ich damals noch war, mein Gedächtnis täuscht mich nicht: wart ihr nicht alle in Trauer bis zum Jahre 1815? Täuschte euch euer Herz im Jahre 1789, als es die Welt erlösen wollte? Die Zukunft wird sagen: nein. Aber nichts ist so sicher, als daß es euch während der Reaktion dieser Zeit getäuscht hat, als ihr der Familie die Welt opfertet und dann später sehen mußtet, wie die Familie dahingerafft und Europa mit den Gebeinen eurer Kinder besät wurde: die Vergangenheit hat es euch gelehrt.

*

Noch etwas anderes soll sich für euch aus diesem Buch ergeben.

Vergleicht, ich bitte euch, das Leben eurer Mütter mit eurem eigenen, ihr volles, starkes, an Taten und edlen Leidenschaften reiches Leben. Und dann blickt, wenn ihr könnt, auf die Nichtigkeit, die Langeweile, die Lässigkeit, in der eure Tage dahinschleichen. Was ist euer Anteil, eure Rolle in diesem erbärmlichen Halbjahrhundert der Reaktion?

Soll ich euch offen sagen, woher der Unterschied kommt?

Sie liebten die Starken und die Lebendigen. Ihr liebt die Toten.

Lebendig nenne ich die, deren Taten und Werke die Welt erneuern, sie wenigstens in Bewegung setzen, die sie durch ihre Tätigkeit in Atem halten und mit ihr treiben in dem starken Winde, von dem die Segel des Jahrhunderts geschwellt sind, deren Aufschrift lautet: Vorwärts!

Und die Toten? So nenne ich, Madame, den Taugenichts, der Sie mit zwanzig Jahren durch seine Frivolität amüsiert, den gefährlichen Menschen, der Sie mit vierzig auf die Wege frommer Ränke leitet, der Sie mit Belanglosigkeiten, zwecklosen Zerstreuungen, unfruchtbarer Langeweile unterhält.

Wie! Während man vor euch das lebendige Leben der Welt verbirgt, während der strahlende moderne Geist in seiner gewaltigen Fruchtbarkeit seine Wunder jeden Tag und jede Stunde vervielfältigt, während Dampf und Photographie, Eisenbahn und elektrischer Telegraph (der bald das Gewissen der Erde sein wird), während die mechanischen und chemischen Künste euch mit ihren Wohltaten, ihren unendlichen Gaben überschütten, ohne daß ihr es wißt (und sogar das Kleid, daß ihr tragt, ist das Ergebnis von zwanzig Wissenschaften), während das Leben so verschwenderisch reich ist, will man euch in die Gruft einschließen!

Will man euch benutzen, die Ruine zu retten, die nicht mehr zu retten ist.

Wenn ihr das Mittelalter liebt, so hört das prophetische Wort, das ich aus einem seiner Gesänge, einer alten, eigenartigen und erhabenen Prose [ * ] »Proses« sind gereimte Kirchengesänge der Katholiken. R. K. übersetze:

Neues überwindet Altes,
Schatten wird vom Licht verjagt,
Nacht entflieht vor Tageshelle ...

......
Knie hin! Und sage Amen!
Du hast genug an Kraut und Stroh –
Laß die alten Dinge – Und voran! -

Ihr Töchter des langen Friedens, der sich seit 1815 hinschleppt, lernt eure Lage wohl kennen.

Seht ihr da hinten all die schwarzen Wolkenbälle, die zu bersten beginnen? Und hört ihr, wie unter euren Füßen der Boden bebt, wie die unterirdischen Vulkane grollen, und wie die Natur seufzt?

Dieser dumpfe Friede, der für euch eine Zeit der Lässigkeit und der Träume war, wurde für ganze Völker der Alp, der sie am Boden hielt. Er ist zu Ende. Ich kenne euer Herz, danket Gott, der das lastende, bleierne Siegel hebt, unter dem die Welt keuchte.

Dieses Wohlbehagen, in dem eure Weichheit erschlaffte, mußte enden. Um nur eine Gefahr zu erwähnen: wer sähe nicht die barbarische Raubgier des Nordens herannahen: Rußlands trügerisch blendenden Zauber und byzantinische Arglist, die Kosakenwildheit gen Westen hetzt?

Vergesset, vergesset, daß ihr Töchter des Friedens wart! Heute seid ihr in der hohen und schweren Lage, in der eure Mütter waren in den Tagen der großen Kämpfe. Wie bestanden sie die Prüfungen? Es ist Zeit für euch, danach zu fragen.

Sie nahmen nicht allein das Opfer auf sich, sie liebten es, sie kamen ihm zuvor.

Das Schicksal, die Notwendigkeit, die ihnen Furcht einzujagen glaubten und mit Schwertern in den Händen zu ihnen kamen, fanden sie stark und lächelnd, fern von weichlichen Klagen, von Verwünschungen gegen den Tod.

Und stärker versuchte sie das Geschick. Es traf das, was sie liebten. Und da fand es sie noch größer, und sie sagten unter ihrem Trauerflor: »Der Tod! Ja. – Aber ein Tod, der unsterblich macht!«

Darauf hörte ich viele von euch erwidern: »Auch wir werden stark sein! Mögen sie kommen, die Prüfung und die Gefahr! Die großen Entscheidungen werden uns immer bereit finden. Wir werden ihnen nicht unterliegen.«

Der Gefahr? Ja, vielleicht; aber den Entbehrungen? Dem lange dauernden Wechsel der Lage, der Gewohnheiten? Da liegt die Schwierigkeit und die Klippe selbst für ein edles Herz!

Dem verschwenderischen, üppigen Leben entsagen, leiden, fasten – einverstanden, wenn es sein müßte! Aber sich aus dieser Welt von eleganten Nichtigkeiten losmachen, die bei dem Zustand unserer Sitten die Poesie der Frau auszumachen scheinen! Ach, das ist zu viel! Viele würden lieber sterben!

*

In den sogenannten glücklichen Jahren, die 1848 herbeiführten, als der moralische Horizont sich so sehr verdunkelt hatte, als das dumpfe Dasein, das durch keine Hoffnung, durch keine Erprobung gehoben wurde, in sich selbst zusammensank, forschte ich oft in mir, welche Gelegenheit, welche Möglichkeit zur Erneuerung noch übrig bleibe.

Von einer Menge Leute umgeben, von denen einige Vertrauen hatten, viele andere dagegen von beunruhigenden Anzeichen einer Baufälligkeit des türkischen Reiches erschreckt waren, blickte ich besorgt um mich. Was sah ich vor meinem Lehrstuhl? Eine glänzende Jugend. Eine reizende, sympathische Zuhörerschaft, die scharfsinniger war als je eine. Waren sie Anhänger einer Idee? O ja! Mehr als einer hat es bewiesen! Aber dennoch bildete für viele die Übersättigung mit Kultur eine Klippe, die unendliche Neugier, die Beweglichkeit des Geistes, die wechselnden Neigungen zu dem einen oder anderen System, eine Schwäche für geistreiche Utopien, die eine harmonische Welt versprechen, ohne Kampf und Streit, welche alle nutzlose Entbehrung wieder gut machen und die Notwendigkeit des Opfers und die Gelegenheit zur Hingabe von der Erde verschwinden lassen würde.

Das Opfer ist das Gesetz dieser Welt. Wer wird sich opfern?

So lautete die Frage, die ich mir traurig vorlegte.

»Gott gebe mir einen Stützpunkt,« sagte der Philosoph, »und ich will die Erde von der Stelle bewegen.«

Keinen anderen Stützpunkt gab es als die Willigkeit zum Opfer.

Würde die Pflicht genügen, sie zu wecken? Nein, dazu braucht es der Liebe.

»Wer liebt noch?« Das ist die zweite Frage, die der Moralist sich vorlegen mußte.

Eine unangebrachte Frage? Keineswegs! Trotz der kalten Welt, des wachsenden Interessenkampfes, des Egoismus, der politischen Ränke, der Banken, der Börse, von denen wir uns rings umgeben sehen.

»Wer liebt?« (Die Natur gab mir die Antwort). Wer liebt? Die Frau.

»Aus Liebe liebt sie eines Tages. Aus Muttergefühl. Um neues Leben zu wecken.«

Ich wandte mich also an die Frau, an die Mutter, damit sie den großen sozialen Anstoß gäbe [ * ] Die Weisen werden sagen: »So verlassen Sie also den festen Boden der Idee und begeben sich auf die Irrwege des Gefühls.«

Darauf würde ich erwidern: »Wenige, sehr wenige Ideen sind neu. Fast alle, die in unserem Jahrhundert zum Durchbruch kommen und es mit fortreißen wollen, sind schon sehr oft, und immer nutzlos, aufgetaucht. Die Wirksamkeit einer Idee beginnt nicht so sehr mit der ersten Bestimmung ihres Begriffs, als mit ihrer endgültigen Festsetzung, wenn sie in der heißen Glut der Liebe empfangen, von der Kraft des Herzens befruchtet, zur Blüte treibt.

Erst dann ist sie kein Wort mehr, sondern ein lebendes Wesen; und als solches wird sie geliebt und begeistert aufgenommen, wie ein teures Neugeborenes, das die Menschheit in ihre Arme nimmt.

Wir sind reich, überreich an Ideen und Systemen. Welches wird uns retten? Mehr als eins vermöchte es. Das hängt von der Stunde der Entscheidung und von unseren Umständen ab, die sehr verschieden sind, entsprechend der Verschiedenheit der Zeiten und Völker.

Das Große und Schwierige ist, daß die fruchtbare Idee im entscheidenden Augenblick auf einen wohlvorbereiteten Herd des moralischen Willens trifft, auf heldenmütige Begeisterung, Hingabe, Opferwilligkeit. Wo soll ich den zündenden Funken finden in der erkalteten Welt? Das sagte ich mir.

Und ich fand den unauslöschlichen Funken, den Herd, der noch brennen wird, wenn die Welt in Trümmern liegt, die unsterbliche Glut des Mutterherzens.«
.

*

Der gute Ballauche hatte trotz aller seiner dunklen, mystischen Romane bisweilen lichte Augenblicke und wahre Intuitionen. Eines Tages legten wir ihm, um ihn in Verlegenheit zu bringen, die Frage vor: »Was ist die Frau nach Ihrer Ansicht?« Er sann einige Zeit nach. Seine sanften Augen, die wie die einer verirrten Hindin aussahen, wurden noch unsteter als gewöhnlich. Endlich sagte der Greis, errötend wie ein junges Mädchen bei einer Liebeserklärung: »Die Frau ist eine erste Weihe.«

Ein herrliches Wort, ein tiefes Wort, unerschöpflich wahr und zart, in hundert Graden und Formen.

Die Frau ist die Weihe der Tat, die unerhört sanfte und geduldige Macht, die zur Weihe zu leiten weiß.

Sie ist selbst der Gegenstand der Weihe. Sie weiht zur Schönheit, die sie selbst ist, zur Schönheit in ihren verschiedenen Graden, vor allem zum erhabensten Grade, der Schönheit des Opfers.

Das schwere, tragische Opfer, das oft durch den Kampf, die Mühe, die es kostet, abstößt, – in der Mutter ist es harmonisch, es wird einbegriffen in ihre eigene Harmonie, das ist ihre höchste Schönheit.

Anderswo ringt das Opfer, reißt sich los und zerreißt sich. In ihr lächelt es und ist dankbar. Wenn sie ihr Leben hingibt für das, was sie liebt, für ihre Fleisch gewordene, lebende Liebe (für ihr Kind meine ich), dann klagt sie noch, daß sie wenig gibt.

Jedes Ding fleht sie an, ihrer Kraftlosigkeit beizustehen, alles ladet sie ein, die Wiege auszustatten. Ach! Warum hat sie keinen Edelstein von oben, keinen Stern Gottes! Der goldene Zweig der Sibylle, dieser untrügliche Führer, dünkt ihr zu wenig für seine ersten schwankenden Schritte. Der Lichtstrahl, auf dem Beatrice die geliebte Seele von einer Welt zur anderen emporsteigen ließ, war zweifellos glänzend hell, aber besaß er die Wärme des feuchten Strahles, der im Auge einer Mutter zittert?

Sie, die jedes Ding zur Hilfe ruft, hat viel mehr in sich, ihren Sohn zu beschenken.

Sie besitzt ihr eigenstes, ihre tiefe Mutternatur, die unbegrenzte Opferfreudigkeit.

Doch Danke! Wir brauchen sie nicht mehr. Gott und das Vaterland stellen keine Forderung mehr an sie.

Die einzigartige Macht, wenn sie in Wahrheit für das Kind erworben ist, umfaßt alles.

Um was bitten wir dich, Weib? Um nichts anderes, als daß du für den, den du liebst, deine eigene Natur in ihrer ganzen Wahrhaftigkeit verwirklichst – das ist: deine Opferwilligkeit.

Es ist einfach, und es enthält vieles.

Darin ist zunächst begriffen, daß du die vergänglichen Liebschaften vergißt und sie deiner großen, deiner dauernden Liebe opferst.

Die kleine künstliche Welt, die kleinen Künste der Schönheit mögen ein Opfer werden der alles beherrschenden Schönheit der Natur, die in dir ist, wenn du sie suchst, und aus der du die geliebte Seele erschaffen und wachsen lassen sollst.

Zum Opfer fallen sollen schließlich (und das ist der Prüfstein, aber auch der Ruhm und der Erfolg) die schlaffen Zärtlichkeiten, die nur den Egoismus verdecken. – Die Opferwilligkeit soll herrschen, die da sagt: »Nicht für mich, sondern für alle! Möge er mich lieben; aber vor allem: möge er groß sein!«

Da steckt, ich weiß, die Unendlichkeit des Opfers. Und das ist auch das Ende der weihenden Tat, das muß der Sohn von seiner Mutter in sich aufnehmen, damit muß er ihrer würdig sein: Lieben, aber nicht für sich, die Welt höher gelten lassen als sich.

Was bleibt ihm zu wünschen, wenn er diese göttliche Kraft der Liebe, der Aneignung erlangt? Diese Weite des Herzens, welche die Kraft nicht mindert, sondern im Gegenteil zur völligen Hingabe tüchtig macht? Er ist groß von diesem Tage an und könnte nicht größer werden. – Denn dann ist in ihm die Welt.

Nervi bei Genua, 29. März 1854

Nachwort

Jules Michelet

Michelet gehört zu den wenigen Großen, deren Genie nicht auf eine Formel zu bringen ist. Er hat den Ruhm, trotz Taine der größte Historiker Frankreichs zu sein. Bei der außerordentlichen Entwicklung des historischen Geistes in Frankreich würde dieser Titel allein ihm einen Platz unter den Ersten des neunzehnten Jahrhunderts sichern. Gewiß: die neunzehn Bände seiner »Geschichte Frankreichs«, die zehn Bände seiner »Geschichte der Revolution« sind in Einzelheiten hier und da überholt; die exakte Forschung hat kleine Irrtümer berichtigt, hat Ungenauigkeiten und unvollständige Angaben, die nicht auf Michelets Rechnung, sondern auf die seines unzulänglichen Materials zu setzen sind, mit Quellen und Dokumenten, mit Akten und Papieren gestützt und erweitert, nachgewiesen und verbreitert, verlängert und im Grunde genommen langweilig gemacht. Keiner aber der Späteren hat vermocht, Michelet zu ersetzen, ihn besser zu machen. Er hatte das Gefühl für die großen Zusammenhänge, die Weite des Blickes, die ihm gestattete, lange Zeitläufte zu übersehen, die Gegenwart nicht von der Vergangenheit erdrücken, das Entfernte nicht vom Nahen verdunkeln zu lassen. Und er besaß jene Kenntnis des Herzens, jene intuitive Gewißheit von der psychologischen Folgerichtigkeit menschlichen Geschehens, menschlichen Handelns – die bei weitem nicht immer die logische Folgerichtigkeit zu sein braucht –, die ihn auch da in den allermeisten Fällen richtig entscheiden ließ, wo seine Quellen nicht ausreichten.

Aber Michelet ist mehr als ein genialer Gelehrter. Er ist Künstler, Künstler durch und durch. Er besitzt die große, seltene Gabe, jeden Stoff, den er anpackt, lebendig zu machen. Aus verstaubten Akten, aus verblichenen Papieren formt sich ihm menschliches Erleben, menschliche Leidenschaft. Verschollene Zeiten, vergessene Begebenheiten, mit denen höchstens noch die meist unfruchtbare Neugier gelehrter Sonderlinge oder fleißiger Spezialisten vertraut war, werden, mit seinem Auge angesehen, von seinem feinen Geiste gegliedert und gestaltet, neu, jung, gegenwärtig, bedeutungsvoll. Dieses warme Leben erfüllt jede Seite seiner »Geschichte Frankreichs«. Darum wird dieses vielbändige Werk in Frankreich immer wieder gelesen, darum ist die Kenntnis Michelets ein wesentliches Erfordernis französischer Bildung.

Zeitlich nahe und menschlich am nächsten steht ihrem Autor die Geschichte der französischen Revolution. Als er die Arbeit begann, lagen diese heroischen Jahre vor ihm wie ein wüstes Chaos von zahllosen Tatsachen, Bewegungen, Richtungen, Interessen, Leidenschaften, Kämpfen, Verbrechen, Opfern. Er hat das Chaos gemeistert wie keiner von den wenigen vor ihm, von den vielen neben ihm und nach ihm. Erst von seiner Darstellung aus konnte man die Bedeutung jener Vorgänge ermessen, und zwischen den beiden Polen: Goethe, dessen geniale Erkenntnis aus dem Donner der Geschütze vor Valmy die Stimme einer neuen Freiheit der Völker vernahm und sie in tiefer Ergriffenheit begrüßte, und Michelet, der die französische Revolution als das größte Erlebnis des neuzeitlichen Europa ein für alle Male festlegte, lebte keiner, der an das Riesenausmaß jener Tage den entsprechenden Maßstab gelegt hätte.

Alle Mittel der Darstellung, alle Gewalten des Wortes stehen Michelet zu Gebote. Er wirkt suggestiv. Ein so feiner, heller Geist wie Pierre Loti hat es auf seinem eigensten Gebiete erfahren. Loti erzählt, wie er das Buch » La Mer« seines großen Landsmannes las. Er wußte, daß Michelet das Meer nur vom Ufer, höchstens von Küstenfahrten her kannte, daß er niemals größere Seereisen gemacht hatte. Gleichwohl: nach der Lektüre sah er das Meer mit Michelets Augen, seine eigene Auffassung vom Meer gestaltete sich um, wurde abhängig von der des anderen. Und Loti war seit Jahrzehnten mit allen Meeren der Erde vertraut, hatte unzählige Seereisen gemacht, hatte das Meer als Seemann und als Künstler betrachtet, erforscht und dargestellt.

Unerhört vielseitig war Michelet. Über Meer und Gebirge, über Vögel und Insekten hat er Bücher geschrieben (» La Mer«, » La Montagne«, » L'Oiseau«, » I'Insecte«). Glänzend sind seine Aufsätze über Luther, über Vico, über die großen Geister Frankreichs (in » Histoire et Philosophie«). Die Kulturgeschichte der Hexen (» La Sorcière«) und der Studenten (» L'Étudiant«) war ihm ebenso vertraut wie die Geschichte des Rechtes und dessen Ursprünge (» Les Origines du Droit«, » Bible de l'Humanité«). Innig versenkte er sich in die Seele des Volkes (»Le Peuple«), in das Leben und Wesen der Primitiven, der Einfachen. Und sicher und scharf erfaßte er das Problem der Kompliziertesten: der Jesuiten (» Les Jésuites«, » Le Prêtre et la Femme«).

So verschieden diese Themata sind: der Reichtum seines Geistes bewältigte sie mühelos. Bei keinem seiner Bücher hat man Langeweile, keines macht den Eindruck, als sei es erzwungen, nur um des Schreibens willen geschrieben. Im Gegenteil: es ist, als ob der Autor sich zusammennehmen, sich der Fülle seiner Gedanken erwehren müsse, um sein Buch nicht allzu stark zu befrachten. Viel Ungesagtes steckt hinter allem, was er sagt, vieles sieht er für sich, ohne es dem Leser sichtbar zu machen. Er muß sich Zwang antun, muß vieles für sich behalten, kann vieles nur andeuten: der Rahmen eines Buches ist zu eng, um den Reichtum seiner großen Probleme, den Drang seines inneren Miterlebens hineinzupassen.

Michelet besitzt die große Liebe zum Leben, zu allem Lebendigen. Er liebt den Menschen, er liebt das Leben der Natur in ihren großen und kleinen Geschöpfen, in der Nervosität des Meeres, in der stummen Verhaltenheit des Gebirges. Diese Liebe ist der Kern seines Wesens, ist der Grundakkord, auf den sein Werk gestimmt ist. Diese Liebe umfaßt alle Gegensätze, sofern sie nur selbst wieder Ausdrucksformen des Lebens sind. Sie läßt ihn Charlotte Corday, »den Engel des Mordes«, bewundern und Marat, der Corday Opfer, »den Dämon des Patriotismus«, loben. Und sie schließt in sich den Abscheu vor allem Kranken und Toten, sie bedingt den Kampf gegen alles Faule, Angefressene, Vergiftete, der wie die Liebe seinem Werke immanent ist. Diese Liebe treibt ihn unter die Oberfläche der Dinge, sie heißt ihn, das Leben an seinen Quellen suchen. Nicht umsonst hat er Duports Satz: »Pflüget in die Tiefe!« so oft und so gern zu dem seinigen gemacht. – Diese Liebe läßt ihn nicht den sozialen Ausgleich, aber die soziale Gerechtigkeit fordern. Diese Liebe und diese Gerechtigkeit sind seine Religion, sein Glaube. Aus ihnen soll die neue Menschheit werden, und fern im Ablauf seiner eigenen müden Zeit sieht er das Morgenlicht des jungen Tages auf eine frohe, weil gerechte Welt scheinen.

Auferstehung! Erneuerung! Neues Leben! Die Erfüllung dieser Zukunft liegt im Weibe, in der Mutter. Darum ist ihm das Verhalten der Geschlechter zueinander das Zentralproblem unserer Zeit. Darum handeln seine tiefsten Bücher, seine schönsten Sätze von der Frau, von der Liebe (» La Femme«, » L'Amour«). Es ist hier nicht der Ort, mehr über diese Bücher zu sagen; sie liegen längst in deutschen Ausgaben vor, teilen aber mit den besten deutschen Büchern das Schicksal, wenig gekannt zu sein.

Schließlich noch ein Wort über »die Frauen der Revolution«. Auch dieses Buch ist weit mehr als reine Historie, als gelassene Darstellung. Es ist ein Buch der Pietät, einer unsentimentalen, männlichen Pietät, die vom Vergangenen her an das Gegenwärtige appelliert. So blutig und beklagenswert die Opfer jener katastrophalen Jahre sind: wir haben keinen Grund, sie ungeschehen zu wünschen. Denn sie gaben Gelegenheit, sie gaben besonders den Frauen Gelegenheit, zu zeigen, wessen der Mensch fähig ist, wenn das brutale Muß der Ereignisse oder die werbende Gewalt eines neuen, hohen Zieles ihn aller Rücksichten auf eigenes und fremdes Behagen enthebt und ihn in die Verkettung eines souveränen Schicksals zwingt. Alles höchste Menschliche erlebt in der Revolution seine elementaren Ausbrüche. Jedes größte Opfer wird gefordert und freiwillig gegeben. Auch und vor allem von den Frauen. Immer sind sie tatbereit und immer todesbereit. Niemals weichen sie den Entscheidungen aus, oft erzwingen sie diese. So werden sie vorbildlich für das Kommende. –

So wird Michelets Buch ein Appell an seine eigene Zeit, an die schlaffe Zeit des beginnenden zweiten Kaiserreiches. Zwar reichte sein Wort nicht aus, um den drohenden Verfall aufzuhalten. Und der totale Zusammenbruch von 1870 war nötig, um Frankreich aufzurütteln. Seither aber ist man energisch daran gegangen, einen neuen Boden für die äußere und innere Erstarkung der Nation zu bereiten. Wie groß Michelets Anteil an dieser Arbeit ist, das läßt sich in Zahlen und Maßen nur schwer feststellen, ergibt sich aber leicht aus jedem Gespräche mit gebildeten Franzosen.

Möge das Buch auch in Deutschland seinen guten Weg gehen! Es ist einer der wertvollsten Beiträge zur Kenntnis des modernen französischen Geistes. Und darüber hinaus sichert ihm sein allgemein-menschlicher Gehalt bleibende Bedeutung.

R. K.

 

Endnoten aus technischen Gründen als Fußnoten wiedergegeben. Re


 << zurück