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Jedermann ist die außergewöhnliche Fruchtbarkeit der Jahre 1768, 1769 und 1770 aufgefallen, die so reich an Genies waren, die Jahre, die einen Bonaparte, einen Fourier, Saint-Simon, Chateaubriand, de Maistre, einen Walter Scott, Cuvier, Geoffroy Saint-Hilaire, Bichat, Ampère, eine schier unglaubliche Woge an Erfindern und Forschern hervorbrachten.
Ein anderer, zehn Jahre früher liegender Zeitpunkt (um 1760) ist nicht weniger erstaunlich. Es ist die Epoche der heroischen Generation, die mit ihrem Blut die erste Furche der Freiheit düngte, die Epoche, welche mit ihrem fruchtbaren Blut das Vaterland geschaffen und begabt hat: die Zeit der späteren Girondisten und Montagnards, der Roland und Robespierre, der Vergniaud und Danton, des Camille Desmoulins, die keusche, heldenhafte und opfermütige Generation, welche die unüberwindlichen Heere der Republik, die Kleber und so viele andere hervorbrachte.
Ist der Reichtum dieser beiden Zeiten, der einzigartige Überfluß an Kräften, die mit einem Male emporquellen, ein Zufall? Wir meinen: es gibt keinen Zufall in dieser Welt.
Nein, die natürliche und ganz einfache Ursache der Erscheinung ist der Überschuß an Jugendkraft, die damals losbrach.
Das erste Moment (um 1760) ist der Aufstieg Rousseaus, der Beginn seines Einflusses bei der ersten mächtigen Wirkung des »Emile« [ * ] Rousseaus »Emile« erschien 1761 und enthielt das Bekenntnis des Autors zu einem reinen, unverfälschten natürlichen Leben, fern von den Schäden und Verbildungen der Kultur. Die Liebe zur Natur, die Abgeschlossenheit vor allen Einflüssen, die der Einfachheit des natürlichen Menschen fremd sind und ihn verderben, weil sie ihm fremd sind, verbürgen allein ein glückliches Leben. – Die interessante Geschichte des »Emile«, die Verfolgungen und die Verbannung, die er seinem Autor eintrug, erzählt Rousseau selbst im elften Buch seiner »Bekenntnisse«. R. K. , die neue Bewegung unter den Müttern, die selbst stillen wollen und sich über die Wiege ihrer Kinder beugen.
Das zweite Moment ist der Triumph der Ideen des Jahrhunderts, nicht nur durch das allgemeine Bekanntwerden Rousseaus, sondern auch durch den vorausgesehenen Sieg seiner Gedanken in den Gesetzen, durch die großen Prozesse Voltaires, durch seine glänzende Verteidigung Sirven's Calas' und La Barres [ * ] Jean Calas, ein hugenottischer Kaufmann aus Toulouse, stand im Verdacht, seinen ältesten Sohn erdrosselt zu haben, weil dieser zum Katholizismus übertreten wollte. Trotz seiner Unschuldsbeteuerungen wurde Calas gefoltert und hingerichtet (1762). Die Sache erregte ungeheures Aufsehen in der ganzen zivilisierten Welt. Voltaire setzte – nach einem Worte d'Alemberts – »Frankreich und ganz Europa in Bewegung«, um die Kassation des Urteils herbeizuführen. Damals entstand sein berühmter »Traktat über die Toleranz aus Veranlassung des Todes von Jean Calas«. Seine Bemühungen hatten drei Jahre später Erfolg. Der Hingerichtete wurde für unschuldig erklärt, und der König bewilligte den Hinterbliebenen 36 000 Livres Schadenersatz. – Ähnlich liegt der Fall Sirven, der sich fast gleichzeitig und ebenfalls im Gerichtsbezirk Toulouse abspielte. Hier sollte der hugenottische Vater mit Hilfe der Seinigen seine zum Katholizismus neigende Tochter im Brunnen ersäuft haben. Als die Familie erfuhr, daß ihre Verhaftung bevorstand, floh sie in die Schweiz und bat Voltaire um seine Hilfe. Inzwischen sprach das Toulouser Gericht das Todesurteil über die Eltern, die Verbannung über die Geschwister und die Konfiskation des Vermögens aus. Voltaire war jahrelang in dieser Sache tätig, bis schließlich der Prozeß revidiert und das ungerechte Urteil für nichtig erklärt wurde. – De la Barre, ein noch junger Mensch, wurde 1766 in Abbeville in der Picardie wegen Verhöhnung der Religion gefoltert und hingerichtet. Voltaire konnte erst eingreifen, als es zu spät war. Auch gelang es ihm nicht, eine nachträgliche Ehrenerklärung des Gerichteten durchzusetzen. R. K. . Die Frauen wurden still und verinnerlichten sich unter diesen mächtigen Erregungen, sie brüteten über dem Heil der Zukunft. Die Kinder aus diesen Jahren tragen alle ein Zeichen an der Stirn.
Machtvolle Geschlechter, hervorgegangen aus dem hohen Gedanken einer gesteigerten Liebe, empfangen von der Flamme der Begeisterung, geboren aus dem allzu kurzen Augenblick der Weihe, in dem die Frau über die Leidenschaft hinaus die Idee ahnte und sie anbetete.
Der Anbeginn war schön. Auf dem Wege zu den neuen Ideen trat ihnen zunächst der Gedanke der Erziehung entgegen, die Hoffnungen, das Verlangen nach Mutterschaft, alle Fragen, die das Kind von seiner Geburt an in einem Frauenherzen, was sage ich: in jedem Mädchenherzen lange vor dem Kinde erregt: »Möge dies Kind glücklich werden! Möge es gut und groß werden! Möge es frei werden! – Heilige Freiheit des Altertums, die du Helden schufst, wird mein Sohn in deinem Schatten leben ..?« So dachten die Frauen, und darum sah man sie auf den Plätzen und in den Gärten, wo das Kind unter den Augen der Mutter oder der Schwester spielt, träumen und lesen. Wie heißt das Buch, welches das junge Mädchen, als du zu ihm tratest, so schnell in seinem Busen verbarg? Irgendein Roman? Die Héloise? Nein, sondern die »Lebensbilder« Plutarchs oder der »Gesellschaftsvertrag«.
Die Macht der Salons, der Reiz der Konversation spielten damals, was man auch dagegen gesagt hat, nur die zweite Rolle im Einfluß der Frauen. Das waren ihre Mittel im Zeitalter Ludwigs XIV. gewesen. Was sie vielmehr im achtzehnten Jahrhundert besaßen, was sie unüberwindlich machte, das war die enthusiastische Liebe, die einsame Schwärmerei für die großen Ideen und der Wille, Mutter zu sein in der umfänglichen Bedeutung und dem Ernst dieses Wortes. Die geistreichelnden Fraubasereien der Frau Geoffrin, die beredten Monologe der Frau von Staël, der Reiz der société d'Auteuil, der Madame Helvétius oder der Madame Récamier würden die Welt nicht geändert haben, noch weniger die vielschreibenden Frauen, die unermüdliche Feder der Frau von Genlis.
Ein Umstand änderte seit der Mitte des Jahrhunderts die ganze Lage: beim ersten Leuchten der Morgenröte eines neuen Glaubens trafen sich im Herzen der Frauen, im Busen der Mütter zwei Strahlen: Menschenliebe und Mutterschaft.
Und aus diesen beiden Strahlen – verwundern wir uns nicht darüber! – ging eine brennende Woge von Liebe und fruchtbarer Leidenschaft hervor: eine übermenschliche Mutterliebe.