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»Die Liebe ist stark wie der Tod«. Und diese Zeiten des Todes sind es, die vielleicht ihre Triumphe bedeuten. Denn der Tod gießt in die Liebe ein herbes und brennendes Etwas, einen bitteren göttlichen Geschmack, der nicht von dieser Welt ist.
Wer hat nicht, wenn er die verwegene Reise Louvets quer durch ganz Frankreich las, der wiederfinden wollte, was er liebte, wenn er die Augenblicke miterlebte, wo sie sich sterbend und erschöpft, in dem Schlupfwinkel von Paris oder in der Höhle des Jura vom Geschicke vereint, einander in die Arme sinken, hundertmal gerufen: »O Tod, wenn du eine solche Macht hast, die Freuden des Lebens zu verhundertfachen und bis zu dem Grade zu verklären, so besitzest du in Wahrheit die Schlüssel des Himmels!«
Die Liebe hat Louvet gerettet. Sie hatte Desmoulins' Tod verschuldet, in dem sie ihn in seinem Heldenmut bestärkte. Sie stand dem Tode Condorcets nicht fern.
Am 6. April 1794 kam Louvet in Paris an, um seine Lodoïska wiederzusehen; Condorcet verließ die Stadt, um die Gefahr von seiner Sophie abzuwenden.
Das ist wenigstens die einzige Erklärung, die man für diese Flucht des Verbannten finden kann, die ihn trieb, seine Zufluchtsstätte zu verlassen.
Die Behauptung, die man aufgestellt hat, das Condorcet nur darum Paris verließ, weil der Frühling ihn aufs Land lockte, ist eine merkwürdige, unwahrscheinliche und wenig ernsthafte Erklärung.
Zum besseren Verständnis muß man die Lage seiner Familie kennen.
Madame de Condorcet, schön, jung und tugendhaft, Gattin des berühmten Verbannten, der ihr Vater hätte sein können, war im Augenblick der Achtung und der Beschlagnahme der Güter völlig verarmt. Keiner hatte die Mittel zur Flucht. Cabanis, der Freund, wandte sich an zwei Studenten der Medizin, die seither berühmt wurden, Pinel und Boyer. Condorcet wurde von ihnen an einen gewissermaßen allgemein zugänglichen Ort gebracht, zu einer Frau Vernet, in der Nähe des Luxembourg, die Pensionäre in Kost und Logis nahm. Diese Frau ist bewundernswert. Ein Montagnard, der im Hause wohnte, erwies sich als gutmütig und verschwiegen: obwohl er Condorcet alle Tage begegnete, wollte er ihn nicht erkennen. Madame de Condorcet wohnte in Auteuil und kam jeden Tag zu Fuß nach Paris. Mit der Sorge um eine kranke Schwester, um ihre greise Erzieherin und ihr kleines Kind belastet und geplagt, mußte sie dennoch leben und für den Unterhalt der Ihrigen Rat schaffen. Ein junger Bruder des Sekretärs von Condorcet unterhielt für sie in der Rue Saint-Honoré 352, zwei Schritt von Robespierres Wohnung, einen kleinen Wäscheladen. Im Erdgeschoß über dem Laden machte sie Porträts. Mehrere der Mächtigen von heute ließen sich malen. Kein Beruf blühte so wie dieser unter der Schreckensherrschaft, man beeilte sich, einen Schatten seines so unsicheren Lebens auf der Leinwand festzuhalten. Die sonderbar anziehende Keuschheit und Würde, die in dieser jungen Frau lebten, führte die Gewalttätigen, die Feinde ihres Gatten, hierher. Was mußte sie nicht hören! Wieviel harte und grausame Worte! Eine große Angegriffenheit, ein lebenslängliches Siechtum und Kränklichkeit waren die Folge. Abends, wenn sie den Mut dazu hatte, schlich sie bisweilen, zitternd und mit gebrochenem Herzen, im Schatten bis zur Rue Servandoni, einem düsteren, feuchten Gäßchen unter den Türmen von Saint-Sulpice. In Angst vor einer Begegnung eilte sie lautlosen Schritts zu dem ärmlichen Zufluchtsort des großen Mannes; die Liebe der Gattin und der Tochter gewährten dann Condorcet einige Stunden der Freude und des Glücks. Es braucht hier nicht erwähnt zu werden, wie sehr sie die Prüfungen des Tages, die Demütigungen, die Härten, die barbarischen Leichtfertigkeiten zu verbergen suchte – diese Qualen einer verwundeten Seele, die der Preis für die Erhaltung ihres Gatten, ihrer Familie waren, wie sie den Haß durch ihre Geduld milderte, den Zorn besänftigte und so vielleicht das über ihr hängende Schwert aufhielt. Aber Condorcets Blick war zu scharf, als das er nicht jedes Ding ahnen sollte; er las alles in ihrem Auge, in jenem fahlen Lächeln, unter dem sie ihr inneres Gestorbensein verbarg. So schlecht verborgen, in jedem Augenblick in Gefahr, sich und sie untergehen zu sehen, im völligen Bewußtsein alles dessen, was sie litt und für ihn wagte, empfand er den Arm der Schreckensherrschaft in seiner ganzen Wucht. Wenig mitteilsam, behielt er alles für sich, aber mehr und mehr haßte er ein Leben, welches das gefährdete, was ihm noch lieber war als das Leben.
Womit hatte er solche Qualen verdient? Er hatte keinen der Fehler der Girondisten begangen. Weit entfernt, Föderalist zu sein, hatte er in einem scharfsinnigen Buche das Recht der Stadt Paris verteidigt, hatte er den Vorteil, den eine solche Hauptstadt als Werkzeug der Zentralisation bot, nachgewiesen. Der Name ›Republik‹, das erste republikanische Manifest war in seinem Hause entstanden und von seinen Freunden in die Welt getragen worden, als Robespierre, Danton, Vergniaud und alle anderen noch zögerten. Er hatte, das ist wahr, jenen ersten undurchführbaren und unanwendbaren Verfassungsentwurf ersonnen, dessen Maschine niemals in Bewegung hatte gesetzt werden können, so sehr war sie mit Garantien, Schranken und Fesseln für die Macht, mit Sicherheiten für das einzelne Individuum beladen und überladen. Das schreckliche Wort Chabots, daß die dieser vorgezogene Verfassung von 1793 nur eine Falle sei, ein geschicktes Mittel zur Errichtung der Diktatur, das hatte Condorcet nicht gesprochen, aber er hatte es in einer eifernden Flugschrift nachgewiesen. Chabot, der über seine eigene Verwegenheit erschreckt war, glaubte, sich Robespierre angenehm machen zu müssen, und ließ Condorcet ächten.
Als der am Tage nach dem 31. Mai diese kühne Tat beging, wußte er wohl, daß er sein Leben aufs Spiel setzte. Er ließ sich von Cabanis ein wirksames Gift geben. Da er mit dieser Waffe immer sein Leben in der Hand hielt, wollte er von seiner Zufluchtsstätte aus den Streit fortsetzen, den Kampf der Logik gegen das Messer, den Schrecken selbst mit den sieghaften Zügen der Vernunft in Schrecken setzen. So stark war sein Glaube an diesen Gott des achtzehnten Jahrhunderts, an seinen unabwendbaren Sieg durch den gesunden Verstand der Menschheit!
Eine sanfte Macht hielt ihn zurück, eine unbesiegbar herrschende, die Stimme der geliebten Frau, der leidgebeugten Blume, die als Geisel für sein Leben der Unbill der Welt ausgesetzt war, die für ihn lebte und starb. Madame de Condorcet forderte von ihm das schwerste Opfer, das Opfer seiner Leidenschaft, des begonnenen Kampfes, das heißt, seines Herzens. Sie sagte ihm, er solle seine Feinde von einst lassen, diese ganze rasende Welt, die dahingehen würde, er solle sich außerhalb seiner Zeit stellen, jetzt schon Besitz ergreifen von seiner Unsterblichkeit, den Gedanken verwirklichen, den er genährt hatte, und eine »Geschichte der Fortschritte des Menschengeistes« schreiben.
Groß war die Mühe. Man sieht es an dem auffallenden Mangel an Leidenschaft, an der strengen, finsteren Kälte, die der Verfasser angenommen hat. Viele Dinge sind größer geworden, viele nur trocken vermerkt [ * ] Diese Trockenheit ist nur äußerlich. Man merkt es wohl, wenn man in den letzten Worten an seine Tochter die lange, zärtliche Ermahnung liest, sie solle die Tiere lieben und schonen, und wenn man darin die Trauer wahrnimmt, die ihn das harte Gesetz zum Ausdruck bringen läßt, welches sie zwingt, sich wechselseitig zur Nahrung zu dienen. . Die Zeit drängte. Wer konnte wissen, ob es ein Morgen gab? Der Einsame in seiner eisigen Dachstube, der von seiner Luke aus nur die kahlen Wipfel der Bäume im Luxembourg sah, im Winter 1793, beschleunigte die harte Arbeit, von Tag zu Tag, von Nacht zu Nacht, und war glücklich, wenn er auf jeder Seite, bei jedem zu Ende behandelten Jahrhundert seiner Geschichte sagen konnte: »Wieder ein Weltalter dem Tode entzogen.«
Er hatte, Ende März, alle Jahrhunderte und alle Zeitalter wieder durchlebt, erlöst und gerechtfertigt; die Lebenskraft der Wissenschaften, ihre ewige Macht, redete aus seinem Buche und aus ihm selbst. Was bedeutet Geschichte und Wissenschaft? Den Kampf gegen den Tod. Das drängende Verlangen einer großen, unsterblichen Seele, ihre Erfahrung von Unsterblichkeit mitzuteilen, begeisterte den Weisen, seinen heißen Wunsch in die prophetische Form zu kleiden: »Die Wissenschaft wird den Tod besiegt haben. Und dann wird man nie mehr sterben.«
Eine erhabene Herausforderung an die Herrschaft des Todes, die ihn rings umgab. Eine edle, ergreifende Rache! Als er seine Seele in das Glück geflüchtet hatte, das dem Geschlecht der Menschen in ferner Zukunft bevorstand, in jene unendlichen Hoffnungen, als er durch das Heil der Zukunft gerettet war, drückte Condorcet am 6. April, nachdem er die letzte Zeile geschrieben hatte, seine Wollmütze tief in die Stirn und überschritt morgens in seinem Arbeiterkittel die Schwelle der guten Madame Vernet. Die hatte sein Vorhaben geahnt und überwachte ihn; er konnte nur mit List entweichen. In der einen Tasche trug er seinen treuen Freund, seinen Befreier, in der anderen den
römischen Dichter, der die Grabgesänge auf die sterbende Freiheit geschrieben hat
[
*
]
Altera jam teritur bellis civilibus aetas;
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Justum et tenacem propositi virum
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Et cuncta terrarum subacta
Praeter atrocem animum Catonis.
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Er irrte den ganzen Tag auf dem Lande umher. Am Abend betrat er das reizende Dorf Fontenay-aux-Roses, in dem viele Schriftsteller wohnten, ein schöner Ort, wo er selbst als Sekretär der Akademie der Wissenschaften und als dem Königtum Voltaires – wenn man so sagen darf – eng Verbundener viele Freunde und beinahe Verehrer hatte; alle auf der Flucht oder ausgewiesen. Blieb ihm nur das Haus der »kleinen Eheleute«, so nannte man Herrn und Frau Suard. Sie waren wirklich Miniaturen an Gestalt und Geist. Suard, ein hübscher kleiner Mann, und seine lebhafte, niedliche Frau waren beide Schriftsteller; sie schrieben aber keine Bücher, sondern nur kurze Artikel, Arbeiten für die Minister und sentimentale Novellen (darin war besonders die Frau hervorragend). Niemals hat jemand sein Leben besser einzurichten verstanden. Beide waren geliebt, einflußreich und beachtet bis zum letzten Augenblick. Suard starb als königlicher Zensor.
Sie duckten sich da unter der Erde, warteten, daß der Sturm vorüberginge, und machten sich ganz klein. Als der müde Geächtete mit hagerem Gesicht und schmutzigem Bart in seiner traurigen Verkleidung ihnen unvermutet ins Haus fiel, geriet der hübsche kleine Haushalt dadurch in grausame Verwirrung. Man weiß nicht, was sich zutrug. Sicher ist, daß Condorcet unverzüglich durch eine Gartenpforte das Haus verließ. Er sollte zurückkommen, erzählt man, die Tür sollte offen bleiben; er fand sie bei der Rückkehr geschlossen. Der bekannte Egoismus der Suards scheint mir nicht ausreichend, um der Überlieferung Halt zu geben. Sie behaupten, und ich glaube ihnen, daß Condorcet, der Paris verließ, um niemanden bloßzustellen, auch sie nicht bloßstellen wollte; er wird Nahrungsmittel erbeten und erhalten haben, das ist alles.
Er verbrachte die Nacht und den folgenden Tag in den Wäldern. Aber der Marsch erschöpfte ihn. Ein Mann, der ein Jahr lang sitzend verbracht hatte und nun plötzlich ununterbrochen marschierte, mußte bald vor Ermattung sterben. Er war also gezwungen, mit seinem langen Bart und seinen irrenden Augen, ein armer Ausgehungerter, in Clamart eine Schenke zu betreten. Er aß gierig und schlug gleichzeitig, um sein Herz zu stärken, den römischen Dichter auf. Sein Aussehen, das Buch, die weißen Hände: alles verriet ihn. Zechende Bauern (es war das Revolutionskomitee von Clamart) sahen bald, daß da ein Feind der Republik saß. Sie schleppten ihn zum Bezirkshaus. Es bestand die Schwierigkeit, daß er keinen Schritt gehen konnte. Seine Füße waren zerfetzt. Man setzte ihn auf die elende Schindmähre eines Winzers, der vorüberkam. In diesem Aufzuge wurde der berühmte Vertreter des achtzehnten Jahrhunderts feierlich zum Gefängnis von Bourg-la-Reine geführt. Er ersparte der Republik die Schande des Vatermordes, den Frevel, den letzten der Philosophen hinzurichten, ohne den sie nicht bestanden hätte.