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Neunundzwanzigstes Kapitel

Gleichgültigkeit gegen das Leben.
Der Lauf der Liebe in den Gefängnissen (1793–1794)

Die übermäßige Häufigkeit der Todesstrafe hatte ihre gewöhnliche Wirkung hervorgebracht: eine erstaunliche Gleichgültigkeit gegen das Leben.

Die Schreckenszeit war in der Hauptsache eine Lotterie. Sie traf wie aus Zufall, sehr oft traf sie daneben. Sie verfehlte so ihren Gegenstand. Das große Opfer an Mühen und Blut, das furchtbare Anwachsen des Hasses waren ganz umsonst. Man fühlte undeutlich, aber instinktiv die Nutzlosigkeit dessen, was geschah. Die Folge war eine große Entmutigung, eine reißende, unheilvolle Demoralisation, eine Art moralischer Cholera.

Wenn das moralische Gefühl stumpf wird, dann treten zwei Gegensätze zutage. Die einen, entschlossen, zu leben um jeden Preis, lassen sich im dicksten Sumpf nieder. Die anderen kommen vor Überdruß und Ekel dem Tode zuvor oder fliehen ihm wenigstens nicht.

In Lyon hatte es so begonnen [ * ] Im Jahre 1793 geriet Lyon unter die Gewalt der Royalisten. Um die Stadt der Republik zurückzugewinnen, blieb dem Konvent nichts anderes übrig, als sie zu belagern. Das geschah, und im Oktober wurde Lyon von einer revolutionären Armee genommen. An den Royalisten nahm man furchtbare Rache. Man wollte die Stadt völlig zerstören, begnügte sich aber schließlich mit zahllosen Hinrichtungen und Massenerschießungen unter den revolutionsfeindlichen Einwohnern. Wie in den Pariser Septembertagen und wie in Nantes nahm man außerdem eine »Massenentleerung der Gefängnisse« vor. Der radikale Bergparteiler Collot d'Herbois war mit der Exekution beauftragt, deren moralische Wirkung in Frankreich der revolutionären Regierung großen Abbruch tat. R. K. ; die allzu häufigen Hinrichtungen hatten die Zuschauer abgestumpft; einer von ihnen sagte bei der Rückkehr: »Wie soll ich es anfangen, guillotiniert zu werden.« In Paris entschlüpfen fünf Gefangene den Gendarmen; sie hatten nur noch einmal ins Vaudeville gehen wollen. Der eine kam zum Gericht zurück. »Ich kann die anderen nicht wiederfinden. Können Sie mir sagen, wo unsere Gendarmen sind? Geben Sie mir bitte Auskunft.«

Solche Anzeichen bewiesen allzu deutlich, daß die Schreckensherrschaft endgültig ihre Kraft verlor. Die unnatürliche Anspannung konnte nicht von Bestand sein. Die Natur, die allmächtige, unzähmbare Natur, die nirgendwo kräftiger Wurzel schlägt als auf den Gräbern, erschien siegreich wieder unter tausend unerwarteten Gestalten. Krieg, Schrecken und Tod, alles, was gegen sie zu sein schien, brachten ihr neue Triumphe. Niemals waren die Frauen so stark. Sie übertrafen sich selbst, hielten alles in Bewegung. Die Härte des Gesetzes machte die Schwachen des Gewährens gleichsam rechtmäßig. Sie meinten dreist, wenn sie dem Gefangenen ihre Gunst schenkten: »Wenn ich heute nicht liebenswürdig bin, dann ist es morgen zu spät.« Morgens begegnete man jungen, hübschen Leuten ohne Bart, die mit verhängtem Zügel ihr Kabriolett führten; das waren menschenfreundliche Frauen, welche die Machthaber des Tages aufsuchten und sie mit Bitten bestürmten. Von da bis zu den Gefängnissen führte das Mitleid sie einen weiten Weg. Ob es nun Trösterinnen von draußen oder Gefangene drinnen waren: Keine wehrte sich. Den letzteren bot ja die Schwangerschaft eine Möglichkeit, leben zu bleiben.

Ein Wort wurde unaufhörlich wiederholt und bei jeder Gelegenheit gebraucht: Die Natur! Der Natur folgen! Überlaßt euch der Natur! usw. Das Wort »Leben« ersetzte es im Jahre 1796: Leben wir unser Leben! Sein Leben versäumen, usw.

Man hatte Angst, es zu versäumen, man ergriff es im Vorbeischweben, man geizte mit jedem Krümchen, das es ihnen bot. Man stahl dem Schicksal alles, was man erwischen konnte. Die Menschenwürde war ganz vergessen. In diesem Sinne war die Gefangenschaft eine völlige Befreiung. Würdige Männer, ernste Frauen gaben sich her zu tollen Aufzügen, zu Verspottungen des Todes. Die beliebteste Belustigung war die Vorprobe des höchsten Dramas, das Anprobieren der letzten Toilette und das Einüben des Todesganges. Diese schauerlichen Possen ließen gewagte Zurschaustellungen der Schönheit zu, man wollte ein Bedauern für das erwecken, was der Tod ereilen sollte. Wenn man einem Royalisten Glauben schenken soll, so unternahmen vornehme, gesittete Damen auf wackeligen Stühlen das Wagnis. Selbst in der düsteren Conciergerie, in die man nur gebracht wurde, wenn man sterben mußte, sahen die tragischen, geweihten Eisenstäbe, die Zeugen der mannhaften Predigten Madame Rolands, oft zu gewissen Stunden sehr viel weniger ernste Vorgänge; Nacht und Tod hüllten sie in ihr Geheimnis.

Die Assignaten flößten kein Vertrauen ein [ * ] Bis zum 9. Thermidor hatte die revolutionäre Regierung etwa 6½ Milliarden Assignaten ausgegeben. Nach Robespierres Sturz nahmen die Ausgaben der nun wieder girondistischen Regierung ein bei weitem schnelleres Tempo an, in fünfzehn Monaten betrug die Summe der Assignatenemissionen dreißig Milliarden!! – Dazu kamen noch ungeheure Summen an falschen Assignaten. In England errichtete der Graf Artois eine Fabrik von Assignaten, die denen der Republik völlig ähnlich waren. Das Unternehmen beschäftigte bald siebzig Arbeiter und konnte zuerst eine Million, später zwei Millionen Franken pro Tag an falschen Scheinen nach Frankreich schicken. Auch die englische Regierung – das Pittsche Ministerium – gab falsche Assignaten aus, und es gab eine sehr erregte Debatte im Unterhaus, als der berühmte Dichter Sheridan diese Manipulationen aufdeckte. – Diese Fälschungen, besonders aber die Aufhebung des Maximalpreises der Lebensmittel unter der Reaktion im Dezember 1794 führte eine kolossale Entwertung der Assignaten herbei. – Auch die ungemessene Spekulation in Papiergeld tat das ihrige, um die Krisis zu verschlimmern. Schon in »normalen« Zeiten betrug der Wechselkurs bis zu 200 Francs Assignaten für ein Pfund Sterling. Nach dem Dezember 1794 bezahlte man für 100 Francs Assignaten in französischem Geld nur noch 19 Francs bar, nach einem halben Jahr 2 Francs, nach einem weiteren Vierteljahr 15 Sous (60 Pf)!! Eine Wagenfahrt kostete damals bis zu 6000 Francs in Assignaten!. R. K. , und man beschleunigte ihren Umsatz. Ebenso besaß der Mensch keine Sicherheit, länger zu dauern als das Papier; so überstürzten sich die Liebesverhältnisse, wurden gebrochen und erneuerten sich in ungewöhnlich schnellem Wechsel. Das Dasein verdunstete sozusagen. Nichts Festes gab es mehr, alles war flüssig und bald flüchtiges Gas.

Lavoisier [ * ] Der große Chemiker Lavoisier, der ein guter Republikaner war, wurde zusammen mit Malesherbes, dem Verteidiger Ludwigs XVI. vor dem Konvent, mit Madame Elisabeth und einigen anderen Ende April 1794 hingerichtet. R. K. hatte gerade seinen großen modernen Gedanken aufgestellt und bewiesen: fest, flüssig und gasförmig, die drei Formen der gleichen Substanz.

Was ist der Leib des Menschen und das Leben? Ein festgewordenes Gas [ * ] Ich finde zu meiner Freude bei Liebig (Neue Briefe über die Chemie, Brief XXXVI) die sehr wichtige Beobachtung, die mir trotz der äußersten Veränderlichkeit des physischen Wesens den festen Bestand und die Unabhängigkeit meiner Seele garantiert: »Ist das einmal erreichte, bewußte, denkende und empfindende Wesen, welches das Mensch genannte Gefäß mit kondensierter Luft bewohnt, eine einfache Wirkung seines Baues und seiner inneren Verfassung? Viele glauben es. Aber wenn das wahr wäre, so müßte der Mensch dem Ochsen oder jedem anderen niederen Tiere gleich sein, von dem er sich nach Zusammensetzung und Verfassung nicht unterscheidet.« Je mehr mir die Chemie beweist, daß ich materiell dem Tiere gleiche, um so mehr verpflichtet sie mich, meine Kräfte, die so verschieden und den seinigen so überlegen sind, zu einem anderen Prinzip in Verhältnis zu setzen. .


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