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Den Geist dämpfet nicht

Haben wir genügend Munition für unsere Geschütze, genügend Brot für die Hungernden, genügend Verbandzeug für die Verwundeten? Schließlich ist ja auch das eine Frage der Kultur. Daß die Kultur auch dem Kriege dient, wissen wir; daß aber der Krieg für die Kultur geführt wird, das haben wir schon vergessen.

Die ersten Verwundeten sind nicht die Soldaten auf den Schlachtfeldern, sondern wir, Menschen der Kultur. Das, was alle Kulturwerte zusammenhielt, ist nicht mehr, und alles ist auseinandergefallen, wie eine Perlenschnur, aus der man den Faden herausgezogen hat. Alles ist entwertet, alles ist seines Sinnes beraubt. Die Zwecklosigkeit jeder Mühe ist so offenbar, daß die Arbeit einem aus den Händen fällt. Wozu? Für wen? Zwei Zeilen des militärischen Tagesberichts sind wichtiger als sämtliche Werke Goethes und Puschkins.

Kultur während des Krieges ist ein Gastmahl während der Pest. »Gastmahl während der Pest« – Titel eines Puschkin'schen Gedichts. Anm. d. Ü. Daß das »Land der heiligen Wunder« verwüstet wird, ist nicht das Schlimmste. Weit schlimmer ist die Selbstvernichtung, die Selbstverwüstung des Geistes.

Die Schicht der Kultur, die wie eine zerbrechliche Eiskruste den Sumpf der Barbarei überdeckte, erwies sich viel dünner, als die Männer sich vorgestellt hatten. Bei Berücksichtigung aller Größenverhältnisse kann man wohl sagen, daß eine solche Senkung des Kulturniveaus wie die, die jetzt der Menschheit droht, sich nur noch zur Zeit der Einfälle der Barbaren bemerkbar machte; damals kam aber die Zersetzung von außen, heute kommt sie von innen. Und die Vernichtung droht nicht irgendeinem bestimmten Gebiete der Kultur, sondern der Kultur als Ganzem.

Niemand weiß, wie das enden soll, – das ist das Gefühl, das wir uns noch nicht einzugestehen wagen. Es sieht wie das Ende der Welt aus. Niemand weiß, wie das enden soll, denn die Senkung des Kulturniveaus ist noch kein Ende, sondern ein Anfang vom Ende, ein Symptom, wie die Senkung des Wasserspiegels in den Brunnen vor einem Erdbeben.

Die Wünsche Rousseaus und Tolstois gehen jetzt in Erfüllung, wenn auch in einem anderen Sinne, als sie es sich dachten: als »Rückkehr zur Natur, zur Einfachheit«. Wie weit das noch gehen soll, ist wiederum unbekannt. »Die Natur des Menschen ist breit, viel zu breit, ich würde sie enger machen!« – auch dieser Wunsch geht jetzt in Erfüllung. Der Mensch ist enger, dürftiger geworden. Selig sind, die da geistlich arm sind. Es ist leichter, daß ein Kamel durchs Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher – natürlich ein geistlich Reicher – Krieg führe.

Die kostbarsten Schätze des Geistes werden hinweggefegt wie Kehricht. »Soll nur alles niederbrennen – man wird es viel schöner neu aufbauen.« – Das ist aber kein Trost für die Abgebrannten. Doch bei der Feuersbrunst, die wir jetzt erleben, gibt es scheinbar keine Abgebrannte: ein jeder glaubt, daß nur fremdes Gut verbrennt.

Schweigen die Musen, wenn Waffen rasseln? Nein, sie schreien »Evoë!« wie trunkene Bacchantinnen, während sie den Orpheus in Stücke reißen.

Wenn Rußland vorläufig noch heil ist, so doch nur dank seinen »subjektiven Denkformen« – dem Raum und der Zeit. Wir können mehr vertragen, weil wir in allen Dingen langsamer sind.

Es gab zwei Rußland; heute gibt es nur eines. Ob es wirklich eines ist, ob die russische Intelligenz als Vertreterin des Volksbewußtseins und des Volksgewissens irgendeine Existenzberechtigung hat, das ist die große Frage.

Daß die sogenannte »Einigkeit« viel zu schnell und viel zu stürmisch zustande gekommen ist, kann leider nicht mehr bezweifelt werden. »Es ist kein Unterschied zwischen Juden und Griechen«; es ist aber ein Unterschied zwischen Barbaren und Griechen, zwischen Sklaven und Freien. Liegt nicht die Hauptaufgabe des Bewußtseins und des Gewissens in der Scheidung des Griechentums vom Barbarentum, des Wahren vom Falschen?

Falsche Liebe ist schlimmer als Haß. Daß die Liebe der russischen Intelligenz zu ihrer Heimat sich nicht als falsch erwiesen hat, konnte nur den Blinden oder vielmehr solchen, die sich freiwillig geblendet haben, unerwartet kommen.

In der Unmöglichkeit, seine Heimat anders als mit »hassender Liebe« zu lieben, liegt die Tragik des einen Rußlands. Der Übergang von hassender zu liebender Liebe ist aber schwierig und qualvoll. Ob wir diese Schwierigkeiten heute vertuschen oder vereinfachen, die Lüge bleibt in jedem Falle dieselbe ...

Dumme Menschen rennen in wilder Panik hin und her. Das ist zwar traurig, aber noch trauriger ist, daß auch die Klugen den Kopf verlieren. Sie schweigen, wenn man nicht schweigen darf, und sagen, was man nicht sagen soll.

Die Lüge ist Phantasie, aber der Menschenmord ist Wirklichkeit. Der Teufel ist der »Vater der Lüge«, er ist aber auch der »Menschenmörder«. Der Zusammenhang zwischen Lüge und Menschenmord ist heute klarer als je. Je phantastischer die Lüge, um so wirklicher der Mord.

Wir leben zwar in den Tagen der großen »Nüchternheit«, es gibt aber noch immer eine Menge Betrunkener.

Es ist schrecklich, als einziger Nüchterne unter vielen Betrunkenen zu sein. Nüchternheit erfordert heute großen Mut. Mögen nun die, denen der Rausch noch nicht in den Kopf gestiegen ist, bis zum letzten Atemzuge wiederholen: Der Krieg wird enden, die Kultur wird bleiben; Himmel und Erde werden vergehen, aber der menschliche Gedanke und das menschliche Wort werden nicht vergehen.

Es gibt wohl einen Weg aus der Wildheit zur Kultur; aber aus der Verwilderung zur Kultur führt kein Weg. Die Kultur kehrt nie wieder, wenn man sie einmal verloren hat. Ihr Wesen ist Stetigkeit und Unverlöschlichkeit. Ihr Feuer kann man wohl neu anfachen, solange es noch glimmt; wenn es aber einmal erloschen ist, kann man es nicht neu entzünden.

» Den Geist dämpfet nicht« – diese Worte sind heute die wichtigsten von allen, die je gesprochen worden sind.


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