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Der Dichter des Ewig-Weiblichen

Turgenjew ist vergessen, überflüssig, wertlos im Vergleich zu Tolstoi und Dostojewskij. So lautet der Gedanke, der noch nicht ausgesprochen ist, sich aber schon in vielen schüchtern regt.

Ist dem wirklich so? Werden wir wirklich niemals zu Turgenjew zurückkehren?

Vielleicht ist es kein bloßer Zufall, daß gerade in unsern Tagen, die so wenig mit Turgenjew gemein haben, ein sehr bedeutsames Buch über ihn erschienen ist: das vom »Turgenjew-Verein« an den Höheren Frauenkursen zu Petersburg unter Piksanows Redaktion herausgegebene »Sammelbuch«, das vieles Unbekannte und Unveröffentlichte enthält.

»Wir sind faul und gar nicht neugierig.« In den letzten dreißig Jahren haben wir uns mit allerlei Unsinn abgegeben und sind dabei an einer so wichtigen Manifestation des russischen Geistes wie Turgenjew ganz achtlos vorbeigegangen: es gibt noch kein einziges wissenschaftliches Werk über ihn, keine kritische Ausgabe seiner Werke, keine erschöpfende Biographie und selbst keine vollständige Sammlung seiner Briefe. Wir haben Turgenjew einfach übersehen. Diejenigen, die sein lebendiges Gesicht noch gekannt haben, werden bald sterben, und wir haben von ihnen nichts über den Menschen Turgenjew erfahren. Und was wissen wir über den Dichter? Über Tolstoi und Dostojewskij ist manches gesagt worden, über Turgenjew aber nichts, außer einigen allgemeinen Redensarten. Ja, wir sind faul und gar nicht neugierig.

Nun haben wir endlich dieses »Sammelbuch«.

Vielleicht ist auch das kein bloßer Zufall, daß es Frauenhände waren, die sich als die ersten dieses »Sängers der Frau« so liebevoll annahmen.

Hier geschah aber etwas Seltsames, beinahe Unheimliches: die liebenden Frauenhände, die das Bahrtuch, die reine Hülle der Vergessenheit vom toten Dichter abhoben, deckten dabei die Blöße des Toten auf.

»Was haben sie mit mir gemacht!?« würde der lebende Turgenjew entsetzt ausrufen, wenn er sich in dieser Entblößung sähe.

Wenn er aber auch sehen würde, mit welchen Augen wir ihn in seiner Entblößung anblicken, so würde er vielleicht begreifen, daß er sich gar nicht zu entsetzen braucht, daß nun statt des toten Bahrtuches des Ruhmes oder der Vergessenheit (beides ist ja so ähnlich!) unsere lebendige Liebe zu ihm seine Blöße bedeckt.

»Liebe uns, wenn wir schwarz sind; wenn wir weiß sind, wird uns jeder lieben,« lautet ein russisches Sprichwort. Turgenjew ist in diesem Buche nicht einmal schwarz, sondern grau wie jene unscheinbare Puppe, aus der der Schmetterling ausgeschlüpft ist. Dort, in seinen Werken oder irgendwo über ihnen beben die weißen Flügel der unsterblichen Psyche, hier aber ist nur seine sterbliche Hülle geblieben.

Ist denn dieses kleine graue Wesen wirklich Turgenjew? Ja, er ist es. Worüber staunen wir so? Wissen wir denn nicht, daß das Los eines jeden Dichters ist: »Von allen Elenden auf Erden der Allerelendste zu sein?« Aus dem Puschkinschen Gedicht »Der Dichter«. Anm. d. Ü.

»Er ist klein wie wir, er ist gemein wie wir.« Nein, wir sollen uns merken, daß er »wenn auch klein und gemein, doch nicht so wie wir, sondern anders ist«; wenn wir die Puppe anblicken, wollen wir an den Schmetterling denken.

Wir haben auch schon früher einiges über die menschlichen Schwächen Turgenjews gehört. In den »Erinnerungen« der Golowatschowa-Panajewa (1824–1870) lesen wir:

»Turgenjew unterhielt mich mit der Schilderung seiner Auslandsreise und erzählte mir einmal von der Feuersbrunst auf dem Dampfer, mit dem er von Stettin aus gefahren war; er hätte die Geistesgegenwart nicht verloren, hätte die weinenden Frauen beruhigt und die von der Panik wahnsinnig gewordenen Männer ermutigt ... Ich habe von dieser Katastrophe von einem meiner Bekannten gehört, der mit dem gleichen Dampfer reiste; dieser Bekannte erzählte mir, daß irgendein junger Fahrgast vom Kapitän bestraft werden mußte, weil er, als man das Rettungsboot herunterließ, um die Frauen und Kinder zuerst auszuschiffen, sich vordrängte, um als erster ins Boot zu steigen, und fortwährend jammerte: ›Mourir si jeune!‹ Dieser Fahrgast war Turgenjew.«

Als wir das lasen, wollten wir es nicht recht glauben. Nun finden wir im »Sammelbuch« einen Brief seiner Mutter, Warwara Petrowna, der jenen Bericht bestätigt:

»... Warum fielen auf dem Dampfschiff gerade deine Lamentationen so auf? Die Gerüchte gelangen ja überall hin. Zu meinem großen Mißvergnügen mußte ich es schon von vielen hören ... ›Ce gros monsieur Tourguéneff, qui se lamentait tant, qui disait: Mourir si jeune ...‹ Eine Gräfin Tolstoi ... Dann eine Fürstin Golitzin ... Und noch viele andere ... Es waren ja Damen dabei, Familienmütter ... Warum spricht man gerade von dir? Daß du ein ›gros monsieur‹ bist, ist nicht deine Schuld. Du hast dich aber so feig benommen, und die andern mußten das in ihrer Angst merken ... Das hat auf deiner Reputation einen Fleck hinterlassen, wenn auch keinen ehrlosen, so doch einen lächerlichen ...«

Wer weiß von sich, wie er sich in Todesgefahr benehmen wird? Wer wagt es, das Benehmen eines andern in Todesgefahr zu verurteilen? Es ist weniger schlimm, daß Turgenjew so furchtbar erschrak, als daß er nachher so gewissenlos log.

»Turgenjew, wann hören Sie einmal auf, den Chljestakow Chljestakow = Hauptfigur in Gogols »Revisor«; im übertragenen Sinne soviel wie Aufschneider und Hochstapler. Anm. d. Ü. zu spielen? Es ist ja empörend ... Ich muß mich für Sie schämen! ...« sagte einmal Bjelinskij zu ihm. (Erinnerungen der Golowatschowa-Panajewa.)

Nicht viel schöner ist die Geschichte mit der »Fetistka«, dem leibeigenen Dienstmädchen einer seiner entfernten Verwandten. Er verliebte sich so in das Mädchen, daß er, wie er später selbst gestand, »bereit war, ihr zu Füßen zu fallen und ihre Schuhe zu küssen«; er kaufte sie ihrer Besitzerin für 700 Rubel ab (der Preis ist ganz ungeheuerlich: leibeigene Mädchen kosteten damals 25, 30, höchstens 50 Rubel), machte sie zu seiner Geliebten und verheiratete sie nachher, als er ihrer überdrüssig geworden war, mit irgendeinem kleinen Petersburger Beamten. Zwölf Jahre später kam diese Fetistka einmal ohne Wissen ihres Mannes auf Turgenjews Erbgut Spaßkoje, nur um »einen Blick auf ihren Herrn zu werfen«. Er hatte mit ihr nur gespielt, sie aber hatte ihm ihre Seele gegeben. Nach dieser Begegnung schrieb Turgenjew seinem Freunde, Maslow:

»Als sie im Jahre 1853 von mir fortging, war sie in anderen Umständen. In Moskau brachte sie einen Sohn, namens Iwan zur Welt, den sie ins Findlingshaus gab. Ich habe gewichtige Gründe, anzunehmen, daß dieser Sohn nicht von mir ist: beschwören kann ich es aber nicht. Vielleicht ist er auch mein Werk. Iwan wurde später zu einem Bauern in die Kost gegeben ... Diese Fetistka hat ja einen schwachen Kopf ... Wenn Iwan noch am Leben ist, und es mir gelingt, ihn aufzufinden, so bin ich bereit, ihn in eine Handwerkerschule zu geben und für ihn zu zahlen ... Ihr Mann weiß von nichts. Er ist ein stiller und anständiger Mensch.«

Schlimm ist hier wiederum nicht das, daß der Dichter, der sich sonst »des armen Volkes« annimmt und der »Sänger der Frau« ist, mit einer Frau, mit einem lebendigen Menschen wie mit einer Sklavin oder einem leblosen Gegenstand verfährt, sondern daß sein Gewissen dabei so ruhig bleibt. »Ich bin bereit, für ihn zu zahlen.« Was will man denn noch? Alles ist klar und einfach. Eine kalte Klarheit der Vernunft, eine kalte Trockenheit des Herzens.

»Du bist der größte Egoist von allen Egoisten. Ich prophezeie es dir: du wirst von deiner Frau nicht geliebt werden. Du verstehst nicht zu lieben, d. h. du wirst nicht deine Frau, nicht den lebenden Menschen, sondern deinen Genuß lieben.«

Diese Prophezeiung der Mutter ging nur zum Teil in Erfüllung: er wurde tatsächlich nicht geliebt, liebte aber selbst nicht nur »seinen Genuß«. Die bezaubernde Frau »mit unschönem, langem, gelbem Gesicht, mit dem mächtigen Unterkiefer eines Pferdes« und einem starken Kopf – Madame Viardot nahm an ihm für Fetistkas »schwachen Kopf« Rache.

»Wenn sie Ihre legitime Tochter wäre, würden Sie sie ganz anders erziehen,« sagte Tolstoi zu ihm, als Turgenjew einmal mit der Erziehung seiner illegitimen Tochter prahlte.

»Ich geriet ganz außer mir, sagte, daß ich ihm den Schädel zertrümmern würde, rannte aus dem Zimmer und schlug die Türe hinter mir zu.«

Tolstoi schickte Turgenjew eine Forderung, entschuldigte sich aber nachher. »Er schrieb mir, daß er sich schuldig fühlt, daß er aber ein feindseliges Gefühl gegen mich, dessen Unverzeihlichkeit er wohl einsieht, nicht unterdrücken kann; daß er mich haßt und mich nie wieder sehen will; die Duellforderung nimmt er aber zurück und bittet mich um Entschuldigung.« (»Sammelbuch«, Erinnerungen der Ostrowskaja.)

Sie hassen einander, wissen aber nicht warum; sie wissen nur, daß sie einander nie wieder sehen dürfen, daß sie weder die gleiche Luft atmen noch in der gleichen Welt leben können: das Sein des einen schließt das Sein des andern aus. Es ist ein Haß von überirdischer, transzendenter Ordnung. Sie hassen einander nicht nur physisch wie Feuer und Wasser, sondern verneinen einander auch metaphysisch wie zwei Antinomien.

Turgenjew hatte Tolstoi bis an sein Ende nicht verstanden. Als er ihn in seinem Briefe, den er auf dem Totenbette schrieb, anflehte, »zur Literatur zurückzukehren«, verstand er ihn vielleicht noch weniger als damals, da er »ihm den Schädel zertrümmern« wollte. Einem Tolstoi zu raten, zur Literatur zurückzukehren, ist dasselbe, wie einem Flusse, der sich ins Meer ergießt, zu raten, zu seiner Quelle zurückzukehren, oder einem mit Früchten beladenen Apfelbaum zu raten, von neuem zu blühen: es ist gut, daß Tolstoi diesem Rat nicht folgte und uns alles gab, was er zu geben vermochte: die Blüten und die Früchte.

Er verstand auch Dostojewskij nicht; er lehnte ihn ab und haßte ihn durchaus metaphysisch. »Ich zweifele nicht, daß Dostojewskij ein Wahnsinniger ist« (Brief an Polonskij, 1875). »Ich habe in dies Chaos hineingeschaut: mein Gott, was ist es für ein versauertes Zeug mit Spitalgestank; ein unnützes und unverständliches Gestammel und psychologisches Herumstochern.« (An Ssaltykow, 1875.) Er vergleicht ihn mit dem Marquis de Sade: »Und wenn man bedenkt, daß alle russischen Bischöfe für diesen Marquis de Sade Seelenmessen gelesen und sogar Predigten über seine große Liebe zu allen Menschen gehalten haben!« (Brief an Ssaltykow, 1882.)

Er versteht die großen russischen Dichter nicht, weil er auch in Rußland selbst das Wichtigste nicht versteht.

»Ich erhoffe mir viel mehr von Frankreich, als von Rußland, wo alles wie eine ekelhafte Brühe auseinanderfließt.« (An Ssaltykow, 1876.) – »Alles Russische erregt in mir Ekel.« (An den Fürsten Urussow, 1880.) – »Ich kann für mich, für meine Heimat und für mein Volk nur erröten und schweigen.« (An Kolbassin, 1882.)

Untreue gegen die Heimat, Untreue gegen die Mutter (sie aber liebt ihn: »mein ganzes Leben hängt von dir ab ... ich bin wie ein Faden an einer Nadel: wohin die Nadel geht, dorthin folgt auch der Faden,« – und er stößt sie von sich); Untreue gegen die Frau, Untreue gegen sich selbst, gegen sein Wort, das höchste Heiligtum des Dichters. Keine Festigkeit, kein Halt, kein Wille. »Inhalt ohne Willen« sagt er von sich selbst und von seiner ganzen Generation, den Menschen der 40er Jahre. Inhalt ohne Willen, Körper ohne Knochen. »Ich bin ganz verschwommen ...« – »Ich bin der unglücklichste Mensch ... Man sollte mich für meine Charakterschwäche auspeitschen!« Ja, er ist schwach, weich, flüssig, fließend, veränderlich, wellig wie das Wasser, das weibliche Element.

So »mißgestaltet« ist er von Geburt: er ist natürlich eine »Mißgeburt«, die Mißgeburt eines Genies. Das Genie ist im Innern ein Wunder an Schönheit und Harmonie, äußerlich aber ein Ungeheuer. Es ist eine erschreckende Einseitigkeit: Reichtum und Üppigkeit in dem einen Teile, Armut in allen übrigen. Das Genie ist wie der Kaufmann im Evangelium, der sein ganzes Gut verkaufte, um eine einzige Perle zu kaufen. Turgenjews Perle ist das Ewig-Weibliche.

Die ganze männliche Hälfte der Welt sieht er fast gar nicht; dafür sieht er die weibliche Hälfte so, wie niemand anderer.

In diesem Punkte besteht in ihm nicht der geringste Widerspruch zwischen dem Menschen und dem Künstler, zwischen der Puppe und dem Schmetterling. Die Gipfel des Geistes sind hier mit den Wurzeln des Fleisches und des Blutes verbunden.

»... Ma chère fille, ma Jeanette! ... Ja, gewiß, gewiß, vous êtes ma favorite! Pst ... um Gottes Willen, daß es nur niemand hört!« (Brief der Mutter, 1838.)

Niemand darf es hören, denn es ist ein physiologisches Geheimnis, das man wie die Scham nicht entblößen darf.

Die Seele einer Frau im Körper des Mannes. Im grauen alten Riesen Iwan Ssergejewitsch Turgenjew steckt die kleine vierzehnjährige Jeanette.

Er hat eine »feine, hohe Stimme, die bei seinem mächtigen Körperbau besonders auffällt«. (Golowatschowa-Panajewa.) Mit dieser komischen weiblichen Stimme jammerte er wohl: » mourir si jeune!« Mit der gleichen Stimme sang er aber auch das »Lied der triumphierenden Liebe«, den Hymnus auf das Ewig-Weibliche, den die Welt nie vergessen wird.

Das Weibliche ist im Weibe schön; im Manne erscheint es aber »weibisch«, als etwas Schwächliches, Verlogenes, Untreues, Gemeines, als etwas, wofür man zuweilen einen Menschen totschlagen kann.

Er ist den Frauen »gut Freund«; sie wissen es und fühlen sich zu ihm hingezogen, aber nur bis zu einer gewissen Grenze: er ist der Frau allzu parallel, um ihr in einem Punkte zu begegnen und sich mit ihr endgültig zu verbinden; er ist ihr nahe, er ist von ihr unzertrennlich, aber mit ihr unvereinbar und unvermischbar. Daher kommt seine hoffnungslose Liebe zu der Viardot, diese so schreckliche und so lächerliche Liebe. In ihr ist die große Qual, die große Wahrheit und das ganze Gewissen Turgenjews enthalten; aber auch sein Gewissen ist ganz eigentümlich und weiblich.

So ist es in seinem Leben, so ist es auch in seinem Schaffen.

Die seit Ewigkeiten stumme Natur des Weibes hat in Turgenjew wohl zum erstenmal ihre Stimme gefunden. Die Turgenjewschen Frauen und Mädchen stehen nicht nur in der russischen, sondern auch in der gesamten Weltliteratur einzig da.

Shakespeare dringt in seine Desdemona, Goethe in sein Gretchen, Puschkin in seine Tatjana Heldin in Puschkins »Eugen Onjegin«. Anm. d. Ü. künstlerisch, also von außen und als Mann ein; Turgenjew braucht in die Frau nicht einzudringen: er sieht sie von innen. Er schreibt nicht nur von der Frau, er ist die Frau.

Zuweilen scheint er auch seine männlichen Helden (die ewigen Freier und Verliebten) mit, weiblichen Augen zu betrachten und in sie wie eine Frau verliebt zu sein.

Nach Jakob Böhme, Schelling und den andern großen Mystikern ist das Wesen der Natur, die »Weltseele«, weiblich. Vielleicht schildert, »beschreibt« Turgenjew niemals die Natur wie die andern Dichter, weil er sie nicht von außen, sondern von innen, wie eine Frau sieht? Er spricht nicht von ihr, aber sie spricht von sich selbst durch ihn. Die andern lieben die Natur, er ist in sie verliebt.

Das Ewig-Weibliche hat zwei Pole: die Liebe der Mutter und die Verliebtheit der Jungfrau. In der Welt der göttlichen Wesenheiten verbinden sich diese beiden Prinzipien in der Jungfrau-Mutter; in der Welt der Erscheinungen widersprechen sie aber einander.

Schopenhauer irrte, als er die sinnliche Wollust als den »Willen zur Fortsetzung der Art« mit der Verliebtheit verwechselte: die Verliebtheit ist nicht der Wille zur Art, sondern der Wille zur Persönlichkeit. Darin liegt eine unlösbare Antinomie: die Unendlichkeit der Art bedeutet das Ende, den Tod der Persönlichkeit, die Unsterblichkeit der Persönlichkeit dagegen das Ende der Art. Der Wechsel der Geschlechter und Generationen innerhalb der Zeit versetzt aber die Vollendung der Persönlichkeit in die Art.

Der kürzeste und höchste Augenblick der Verliebtheit ist die Bejahung der absoluten Persönlichkeit im Geschlecht. Die Verliebtheit strebt nach der Ehe, nach der Verbindung der Liebenden, doch nach einer andern Ehe, nach einer andern Verbindung, als sie die fleischliche Umarmung zu geben vermag; nur wenn die Verliebtheit schwach und sich selbst untreu wird, fällt sie in die Ehe. Die »glückliche Ehe« ist das Ende der Verliebtheit.

Die Verliebtheit ist eine »unverhoffte Freude«, ein überirdisches Geheimnis der Erde, die Erinnerung der Seele an ihre Erlebnisse vor der Geburt:

Sie schmachtete lange im Erdengefild,
Von höherem Sehnen erfüllt,
Und nimmer ersetzte den himmlischen Klang
Der irdische trübe Gesang. Aus dem Lermontow'schen Gedicht »Der Engel«, zitiert in der Fiedler'schen Übersetzung (Reclam). Anm. d. Ü.

Daß der »himmlische Klang« der Verliebtheit durch das langweilige Lied der Ehe nicht ersetzt werden kann, weiß Turgenjew besser als irgendein Mensch.

Das Antlitz des Menschen ist die graue Puppe, die sterbliche Hülle des unsterblichen Schmetterlings – der Persönlichkeit: das Antlitz muß sterben, damit die Persönlichkeit geboren werden kann. Darum gehen bei Turgenjew alle Verliebten zugrunde.

Unser Stamm sind jene Afra,
Welche sterben, wenn sie lieben.

Darum ist die »erste Liebe« auch immer die letzte. Die Liebe verlangt nach einem Wunder; in der natürlichen Ordnung der Dinge ist aber das Wunder unmöglich. Darum ist die Ehe als die Vollendung der Liebe hier auf Erden undenkbar. Darum ist das »Lied der triumphierenden Liebe« zugleich auch das Lied des triumphierenden Todes, aber auch der Unsterblichkeit, das »Hohelied«, jene »Sphärenmusik«, die »die Sonne und die andern Gestirne bewegt« (l'amor, che muove il sol e l'altre stelle).

Das Christentum ist die Offenbarung der Persönlichkeit. Die Bejahung der Persönlichkeit im Geschlecht – die Verliebtheit wurde zugleich mit dem Christentum geboren. (Platos »Eros« ist nur eine dunkle Vorahnung des Christentums innerhalb des Heidentums).

Die christliche Liebe ist die Verliebtheit in ihrer höchsten, überirdischen Form: die Verklärung des Geschlechts im gleichen Maße wie die Verklärung der Persönlichkeit. Die geschlechtlose »brüderliche« Liebe ist die Dämmerung, das Erlöschen der Liebe Christi; mit ihrem vollen Lichte strahlt diese Liebe aber in der Ehe: das Himmelreich ist die »königliche Hochzeit«, und die in das Himmelreich Eintretenden sind die »Geladenen«.

»Ich bin in erster Linie Realist ... Ich bin gleichgültig gegen alles Übernatürliche und glaube an nichts Absolutes,« sagte Turgenjew (zu Miljutina, 1875). So ist es in seinem Bewußtsein, aber nicht in seinem Wollen und Schaffen: hier dringt er in solche Tiefen des religiösen Volksgeistes ein (z. B. in den »Lebenden Reliquien«), in die wohl weder Tolstoi noch Dostojewskij eingedrungen sind; in diesen Tiefen entsteht der schöpferische Grundgedanke Turgenjews – das Ewig-Weibliche.

In der Menschheit als Gesellschaft, wie auch in der Menschheit als Persönlichkeit gibt es zwei einander bekämpfende Prinzipien – das männliche und das weibliche. Ihre Verbindung ist wohltätig, ihre Trennung verderblich. Das Männliche ohne das Weibliche ist die Kraft ohne Liebe, der Krieg ohne Frieden, das Feuer ohne Wasser – ein alles verzehrender Samum.

Diesen Samum hat die Menschheit schon einmal kennen gelernt: die altersschwache Männlichkeit Roms, die jugendliche Männlichkeit der Barbaren hatten beinahe die Welt verwüstet. Sie wurde nur durch das Ewig-Weibliche errettet. Der »arme Ritter« Der»Arme Ritter«– ein Tschaadajew gewidmetes Puschkin'sches Gedicht. Weitere Zitate aus diesem Gedicht finden wir auf Seite 124. Anm. d. Ü. hatte eine überirdische Vision.

Treu dem wonnig süßen Glauben,
Voller Liebe rein und mild,
A. M. D. mit seinem Blute
Schrieb er fromm auf seinen Schild.

Der Beginn der neuen Zeit ist die Wiedergeburt der altersschwachen römischen und der jugendlichen barbarischen Männlichkeit. Wenn die Seele des Mittelalters eine kontemplative, passive und weibliche war, so ist die Seele unserer Zeit eine aktive und männliche: der Rationalismus, der Sieg der »reinen Vernunft« in der Wissenschaft, Philosophie und Religion, in allem kulturellen und sozialen Schaffen ist der Sieg des männlichen Prinzips.

Und nun wirkt das Männliche ohne das Weibliche wieder wie damals verderblich: es ist wieder eine Kraft ohne Liebe, ein Krieg ohne Frieden, ein Feuer ohne Wasser, ein verzehrender Samum. Die Welt geht wieder an Männlichkeit zugrunde.

Muß nicht wieder das Ewig-Weibliche sie retten?

Der germanisch-romanische Westen ist männlich, der slavisch-russische Osten weiblich. Wir wissen von der Welt etwas, was die andern Völker nicht wissen: daß die Welt der Friede Vgl. Anmerkung auf S. 109. Anm. d. Ü. ist, kein Krieg, kein Haß, sondern die ewige Liebe, das Ewig-Weibliche.

Die wahre Weiblichkeit verlangt aber Mut. Wir haben auch diesen Mut: die heimliche Weiblichkeit ist die offenbare Männlichkeit.

Die offenbare Linie unserer Männlichkeit geht von Peter dem Großen und Puschkin (Puschkin ist ja der Sänger des großen Peter) zu Tolstoi und Dostojewskij, den Titanen des russischen Wollens und Denkens; die heimliche, nächtliche Linie der Weiblichkeit führt aber von Lermontow zu Turgenjew: von Lermontow, dem Sänger der himmlischen Jungfrau, über Tjutschew, den Sänger der irdischen Geliebten, und Nekrassow, den Sänger der irdischen Mutter, zu Turgenjew, dem Sänger des Ewig-Weiblichen. Diese Linie geht vielleicht noch weiter – vom Dichter Turgenjew zum Propheten Wladimir Ssolowjow, und von diesem zu uns.

Wisset, das Ewig-Weibliche schreitet
Unsterblich im Fleische vom Himmel einher.
Im ewigen Lichte der neuesten Göttin
Vermischt sich der Himmel mit Erde und Meer.
Ihr Hochmüt'gen, Stolzen, seid ihr nicht Männer?
Wer streitet mit Weibern? ein feiger Gesell!
Und wenn nur um eure Ehre zu wahren,
Ihr Lieben, ihr Stolzen, ergebt euch doch schnell!

Sie werden sich nicht so bald ergeben, aber einmal werden sie es doch tun müssen. Einmal muß die Prophezeiung in Erfüllung gehen: »Der Same des Weibes wird der Schlange den Kopf zertreten.«

Ist es nicht Zeit, in unsern Tagen, den Tagen der ungerechten und unewigen Männlichkeit, in den Tagen des nicht menschlichen und sogar nichttierischen, sondern teuflischen Hasses, sich der ewigen Liebe, des Ewig-Weiblichen zu erinnern?

Der Sänger des Weiblichen ist Turgenjew. Wenn wir uns der ewigen Liebe erinnern, so werden wir auch seiner gedenken.

Ja, wir werden noch zu Turgenjew zurückkehren.


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