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Noch ein Schritt des nahenden Pöbels

Fliehe den Skandal! Und wenn du auch »Mordio! Zur Hilfe!« hörst. Es ist nicht das Opfer des Skandals, das so schreit, sondern der Skandal selbst. Geh stumm weiter: Schweigen ist für ihn die einzige Strafe.

Der Futurismus ist ein Skandal. Man soll an ihm schweigend vorbeigehen. Und wenn man schon etwas sagen soll, so nichts von ihm, sondern nur von den Gründen, die uns zwingen, von ihm zu sprechen.

Was gibt es nun wirklich für Gründe dafür, daß wir in diesen Skandal hineingeraten sind?

Die schändliche Unwissenheit der Zeitungskritik ist wohl einer der Hauptgründe; ferner unsere russische Charakterlosigkeit, Haltlosigkeit, Nachgiebigkeit. Wir sind zu allem bereit, und der Einzelne will nichts. Die Futuristen scheinen aber etwas zu wollen.

Darum hat der futuristische Skandal nirgends solche unanständigen Formen angenommen wie bei uns in Rußland. Zufällig kam er über uns in einem Augenblick, wo wir von der Epidemie der öffentlichen Vorträge, Dispute und Diskussionen ergriffen waren. Als ob Rußland heute wirklich eine Rüstkammer wäre, in der die Hämmer dröhnen und neue Waffen – eine neue Ideologie – schmieden. Wenn es aber nur die Zungen sind, die da arbeiten, und keine Hämmer? Wir haben den Futurismus, den Kubismus, den Akmeïsmus, den Symbolismus, den Realismus – eine tolle Sturmflut von »Ismen«. Der erste beste Hanswurst braucht nur die Tribüne zu betreten, damit alle Augen und Ohren aufreißen und zu schmachten anfangen: »Ach, dieser Futurismus! Ach, dieser Kubismus! Ach, dieser Marinetti!« Die Leute drängen sich wie die Schafe ohne einen Hirten.

Ein Rudel von Wilden, eine Bande von Hooligans ist hereingebrochen und verübt allerlei Unfug, – und alle fügen sich gutwillig und heben »die Hände hoch« wie die Ladengehilfen bei einem Raubüberfall.

»Wir wollen die Ohrfeige und den Faustschlag verherrlichen – den Krieg, den Militarismus, den Patriotismus, die zerstörende Geste der Anarchisten ... die vielstimmigen Stürme der Revolution ... die Verachtung des Weibes ... Wir wollen die Bibliotheken und die Museen vernichten ... Sollen nur die Brandstifter mit den rußigen Fingern kommen ... Da sind sie! Da sind sie schon! Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken! ... Greift zu den Spaten und Hämmern! Zerstört die Fundamente der berühmten Städte!« (Futuristisches Manifest 1909.)

Wenn es keine schamlose Reklame, kein einfacher Humbug ist, so ist es glatter Unsinn: man kann ja nicht den Patriotismus und den Militarismus mit dem Anarchismus, die Ohrfeige und den Faustschlag mit der Offenbarung einer neuen Wahrheit vereinigen.

Man könnte meinen, daß es wirklich nur Humbug oder Unsinn ist. Nun sagt man uns aber, daß »unser ganzes Zeitalter im Zeichen des Futurismus« stehe; daß er »die Renaissance der Kulturwerte« bedeute; daß »im Futurismus zweifellos eine heimliche unbewußte Religiosität enthalten sei«; daß »wir von ihm noch ein neues Wort zu hören bekommen werden«. (»Der Futurismus« von Heinrich Tastevin, Moskau 1914.)

Einem gänzlich unbekannten Kritiker mag man ja einen solchen Unsinn noch verzeihen. Nun sind aber auch der höchst aufgeklärte Peter Struve und der höchst akademische Valerij Brjussow Peter Struve – rechtsstehender »kadettischer« Politiker; Valerij Brjussow – der bedeutendste moderne russische Lyriker, »der Verfechter der Puschkin'schen Tradition in der Dichtung«. Die beiden geben die Monatsschrift »Russkaja Myslj« (Der russische Gedanke) heraus. Anm. d. Ü. nicht viel besser! Sie haben sich in ihrer »Russkaja Myslj«, diesem von allen »Dämonen« gereinigten und gesäuberten Tempel nun auch eine Zucht von diesem Ungeziefer angelegt und wissen jetzt nicht, wie damit fertig zu werden.

Der arme Brjussow! War er nicht der Hüter des reinen Feuers auf dem Altare der Kunst? Und wenn ihm heute die Tempelschänder sagen, daß »man auf den Altar der Kunst spucken soll«, so weiß er ihnen nichts zu antworten. War er nicht der Hüter der »großen russischen Sprache«? Wenn aber die Wilden oder Verrückten diese Sprache in ein unartikuliertes Tiergebrüll verwandeln, weiß Brjussow wieder nicht, was ihnen zu antworten. Er hat die Futuristen gehütet, wie der Hirte die Schafe hütet; die Schafe haben sich aber als Wölfe entpuppt und werden den Hirten auffressen.

Was ist der Futurismus? Die Bejahung der Zukunft. Das ist aber gar nicht neu: wer bejaht die Zukunft nicht? Der Futurismus wirkt nur dann neu, wenn die Bejahung der Zukunft in die Verneinung der Vergangenheit übergeht: »um das Neue zu schaffen, muß man das Alte vernichten«.

Eine solche Gegenüberstellung der Vergangenheit und der Zukunft bedeutet aber eine Verneinung der Ewigkeit, denn die Ewigkeit verbindet die Vergangenheit mit der Zukunft: alles, was war, und alles, was sein wird, ist in der Ewigkeit.

Der Futurismus ist eine nur scheinbare Bejahung der Zukunft, in Wirklichkeit aber eine Bejahung der Gegenwart, d. h. der nächsten Vergangenheit und der nächsten Zukunft, und eine Verneinung des Ewigen, d. h. der fernen Zukunft.

Der Futurismus ist die Seligsprechung des heutigen Tages, die Anbetung der bestehenden Ordnung der Dinge, »der vergänglichen Gestalt dieser Welt«, als einer ewigen Gestalt.

Nieder mit allem, was war! Nieder mit allem, was sein wird! Es lebe alles, was ist! Der Futurismus nennt sich »Futurismus« (von futurum – die Zukunft), um sein tiefstes Wesen – die Verneinung der Zukunft – zu verbergen.

Die Seele der Gegenwart ist der Positivismus als eine nicht wissenschaftliche sondern (natürlich unbewußt) religiöse Weltanschauung. Dieser ist aber zugleich auch die Seele des Futurismus: die Entwertung aller religiösen Werte, die Austilgung jedes Gefühls für das Metaphysische ist sein wichtigstes und wohl sein einziges Gesetz, – seine einzige aufrichtige Wahrheit; alles andere ist aber Lüge, Reklame, Humbug.

Der Futurismus ist ein aufgefrischter, neu auflackierter, gewendeter Positivismus.

»Der Positivismus ist eine mechanistische Weltauffassung.« Auch darin zeigt der Futurismus das gleiche Wesen wie der Positivismus.

»Nach dem Tierreiche beginnt das Reich der Mechanik ... Die ganze Welt wird wie eine große Induktionsspule regiert ... In allen Dingen herrscht die Vernunft.« Dies hören wir einerseits; andrerseits heißt es aber: »Ihr futuristischen Dichter! Ich lehrte euch, die Bibliotheken und Museen zu hassen. Ich möchte euch auch den Haß gegen die Vernunft lehren, um in euch die göttliche Intuition zu wecken.« Die Vernunft wird verneint und bejaht. Wiederum ein Unsinn. Die Vernunft hat mit der Zerstörung der Bibliotheken ebensowenig zu tun, wie die Intuition mit der Induktionsspule.

Der Futurismus ist die Bejahung, nicht einmal der Mechanik, sondern der seelenlosen Maschine. Er ist ein Mord an der Psyche, an der »Weltseele«, am »Ewig-Weiblichen«. Daher kommt die »Verachtung des Weibes«, die »Entwertung der Liebe«. Die natürliche Zeugung, die Mutterschaft wird abgeschafft und durch eine »mechanische Fortpflanzung« ersetzt.

Der Mensch wollte einst die Natur durch die Mechanik beherrschen. Der vermeintliche König wurde aber zum Sklaven seiner Sklaven. Der Futurismus ist ein Sklavengesang auf die Maschine, die Beherrscherin der Welt.

Alles Organische ist langsam, und je vollkommener, um so langsamer; alles Mechanische ist schnell, und je vollkommener, um so schneller. Die Geschwindigkeit ist die Schönheit der Maschine. »Wir Futuristen verkünden, daß die Welt durch eine neue Schönheit – die Schönheit der Schnelligkeit bereichert worden ist.«

Das Moment der Schnelligkeit ist aber nur eines von den vielen Momenten, die die Bewegung, selbst vom Standpunkte der Mechanik aus, bestimmen: der langsame Lauf eines Rades an einem vollbeladenen Wagen erfordert mehr Kraft als die schnelle Rotation des gleichen Rades in der Luft.

So verhält es sich in der Physik; – um wievielmehr in der Welt des Geistigen. Die leise Bewegung der lächelnden Lippen der Gioconda ist bedeutsamer als der dröhnende Lauf einer Lokomotive oder eines Motors. In der Mechanik eines ganzen Planetensystems gibt es nichts, was sich mit dem Wachstum eines Pflanzenkeimes vergleichen ließe.

Um den Sinn einer Bewegung zu begreifen, muß man nicht nur ihre Geschwindigkeit kennen, sondern auch wissen, was sich bewegt und wohin die Bewegung gerichtet ist.

Der Futurismus will das gar nicht wissen; ihm ist es ganz gleich, was sich bewegt und wohin es sich bewegt; ihm ist nur darum zu tun, daß die Bewegung eine möglichst schnelle sei, selbst wenn sie gar kein Ziel hat. Wir bewegen uns sehr schnell; vielleicht ist es aber nur die Bewegung eines Steines, der in einen Abgrund fällt, oder eines Verrückten, der sich aus einem Fenster stürzt?

Vielleicht geht unsere Bewegung immer auf der gleichen Stelle vor sich? Vielleicht drehen wir uns nur wie ein Eichhörnchen im Rade: es ist die Unbeweglichkeit in der Bewegung. Ein Chinese oder ein Oblomow, Held des »Oblomow« von Gontscharow – ein passiver, fauler, träger Mensch. Anm. d. Ü. die in einem Aëroplan sitzen, bleiben Chinese und Oblomow. Auch ein Schwein, das durch den Himmelsraum fliegt, bleibt immer dasselbe Schwein.

Der neue Materialismus der Bewegung ist in keiner Weise besser als der alte Materialismus der Materie. »Das Automobil ist schöner als die Nike von Samothrake.« Für wen? Für den Hottentotten. Der Futurist ist ein Hottentott, ein nackter Wilder in steifem Hut.

Eine Verwilderung in der Kultur ist wohl möglich. Die geistigen Wirkungen der Technik werden heute überschätzt. Der Mensch verändert sich eigentlich furchtbar wenig. Der »Sterbliche« bleibt sterblich, d. h. ein Tier, das den Tod bei elektrischem Lichte ebenso kennt wie im Lichte des ersten Holzfeuers. Der Tod ist durch keine Technik zu überwinden. Die Kenntnis des Todes ist bedeutsamer als alle anderen Kenntnisse der Sterblichen.

Man betrachte nur aufmerksam die Menschengesichter im Straßenpublikum der großen Städte: diese furchtbare Vertierung! Der Mensch ist in den Straßen von Paris und London ebenso einsam wie der Troglodyt in seiner Höhle. Zwischen all den Telegraphen, Telephonen, Aëroplanen und Panzerschiffen ist er immer ein Gorilla, ein Tier des Waldes.

Beispiele verwilderter Kulturen bieten uns Babylon, Assyrien und Rom in ihrer Verfallszeit. Das Wesen der echten Kultur ist die Einmütigkeit und Gemeinsamkeit: alle sind eins; alle sind vom gleichen beseelt; das Wesen der verwilderten Kulturen ist die Zersplitterung und Vereinsamung: jeder ist allein, überall triumphiert der Individualismus.

Vor kurzem noch schmachteten wir in unserer Einsamkeit:

Ich wollt', ich wäre nicht Valerij Brjussow ... Aus einem frühen Gedichte Brjussows.

Heute schmachten wir nicht mehr, sondern triumphieren:

Ich, der große Ssewerjanin Igor Ssewerjanin ist der Führer der russischen futuristischen Dichter. Anm. d. Ü.,
Bin berauscht von meinem Sieg ...

Der Futurismus ist der triumphierende Individualismus, der Individualismus ohne das Tragische. Die Tiefen des Seins sind tragisch. Der Verzicht auf das Tragische ist ein Verzicht auf jede Tiefe, die Bejahung des Flachen und Seichten, des »Lakaientums«.

Die Geschichte ist die Bewegung in der Zeit. Die Zeit ist tiefer als der Raum. Der Körper bewegt sich im Raume, der Geist in der Zeit; im Raume gibt es nur das, was ist; in der Zeit aber auch das, was war und was sein wird. Der Futurismus verneint die Bewegung in der Zeit, verneint die Geschichte, weil er jede Tiefe verneint und alles Flache bejaht.

In Japan ist kürzlich eine neue Industrie entstanden: die Gewinnung von Kohlen aus den Menschenknochen, die auf den Schlachtfeldern der Mandschurei gefunden werden. Der Preis beträgt 92 Kopeken für 100 Zin. Aus dieser Kohle wird Pulver gemacht, das zur Füllung von Granaten verwendet wird. »Ehre sei der unbändigen Asche des Menschen, die im Geschütz zu neuem Leben erwacht!« ruft Marinetti entzückt aus. »Beeilt euch und steckt eure teuren Verschiedenen in die Kanonenrohre, um euch die Wege in die Zukunft zu bahnen!«

Die Wilden fressen ihre greisen Eltern. Die Beschimpfung der Vergangenheit, die Verneinung der Geschichte, – das ist das Wesen ihrer Kultur und auch des Futurismus.

»Wenn man die Menschen fürchtet, verzieht man sie.« Auch wenn man ihnen zürnt, verzieht man sie. Es lohnt sich nicht, den Futurismus zu fürchten oder ihm zu zürnen. Heute ist er da, morgen ist er aber schon verschwunden und vergessen. Auch diese Welle wird sich legen wie viele vorhergehenden. In ihr spiegelt sich dasselbe wie in allen vorhergehenden.

Schwere, schwarze, mächt'ge Lider
Rissen weit sich auf, und glühend
Durchs Geleuchte hin und wieder
Blickten Riesenaugen nieder
Unheildrohend, flammensprühend ... Aus einem Gedicht Tjutschews, zitiert nach der Fiedler'schen Übersetzung (Reclam). Anm. d. Ü.

Es sind die Riesenaugen des »Tieres«. »Wir müssen uns das Tier zum Beispiel nehmen,« erklärt der Futurismus. Ja, wenn man nicht zu Gott strebt, so strebt man zum Tier, denn der Mensch schwankt immer zwischen Gott und Tier.

Das Tier selbst sehen wir noch nicht; wir sehen nur seine Spiegelung in den Wellen unserer Zeit. Eine Welle nach der andern rollt heran und legt sich wieder, das Spiegelbild aber bleibt; folglich existiert das, was die Spiegelung hervorruft, – das Antlitz des Tieres.

»Wer ist dem Tier gleich und wer kann mit ihm kriegen?« Die Futuristen selbst denken am allerwenigsten an diese Weissagung: um so erstaunlicher ist die Übereinstimmung aller Symptome.

Der Futurismus verherrlicht die elektrische Kraft als »die einzige Mutter der zukünftigen Menschheit«, als »das blendende Reich der göttlichen Elektrizität«. Die Elektrizität ist das Gewitterfeuer, das der Mensch vom Himmel herunterholt. Aber auch das Tier der Apokalypse »tut große Zeichen und macht Feuer vom Himmel fallen«.

»Wir bereiten die Schaffung des mechanischen Menschen vor,« erklärt der Futurismus. Der mechanische Mensch, der Automat ist »die Gestalt des Tieres«, denn man muß sich doch »das Tier zum Beispiel nehmen«. Aber auch das Tier der Apokalypse »verführt, die auf Erden wohnen, daß sie dem Tier ein Bild machen sollen. Und es ward ihm gegeben, daß es dem Bilde des Tiers den Geist gab, daß des Tiers Bild redete und daß es machte, daß, welche nicht des Tieres Bild anbeteten, ertötet würden«. Von Gott zum Tier, vom Tier zum Automaten, zum seelenlosen Mechanismus, – das ist der abwärts führende Weg, den der Futurismus eingeschlagen, den aber schon die Apokalypse vorausgeahnt hat.

Vom Futurismus begonnen und von der Apokalypse vorausgeahnt ist auch die Verbindung der »großen Hure« mit dem »Tiere«, der Wollust mit der Grausamkeit. »Die Unzucht ist eine große Macht ... Man muß die Fleischeslust von allen Hüllen entblößen ... Ihr Frauen, kehrt zur Grausamkeit zurück, fallt wütend über die Besiegten her, nur weil sie die Besiegten sind, und verstümmelt sie ... Eine Frau, die den Mann durch Tränen festhält, ist schlimmer als die Dirne, die ihren Geliebten zwingt, mit dem Revolver in der Hand die Herrschaft über den Abschaum der Großstadt auszuüben.« So spricht das futuristische Weib. »Die Hure mit dem Tier« – ist die Prostituierte mit ihrem Zuhälter. »Und an ihrer Stirn war geschrieben der Name, das Geheimnis: die große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden.« Babylon ist die moderne Großstadt, wo die von der »göttlichen Elektrizität« beleuchtete, »von dem Blute der Heiligen trunkene, mit Scharlach und Purpur bekleidete, mit Gold und Edelsteinen (d. h. mit allen Kulturwerten) geschmückte« hüllenlose Prostitution herrscht. Was ist das, eine Vision oder die realste Wirklichkeit?

Der Futurismus in der Kunst ist belanglos, doch der Futurismus im Leben ist von ungeheurer Bedeutung. Er ist tatsächlich eine Offenbarung der Zukunft, doch nicht in dem Sinne, wie er es sich selbst denkt, – er ist eine umgekehrte, ungewollte Apokalypse.

Der Futurismus gleicht der Zukunft ebenso wie das Junge dem Tiere, wie der Wurm dem Drachen; er ist noch kraftlos, zahnlos und flügellos, aber es jucken ihm schon die Stellen, wo dereinst Zähne und Flügel wachsen werden. Das unheilkündende Surren des Propellers, das Schwirren der stählernen Drachenflügel – das ist der Gesang des Futurismus, das ist die echte Zukunftsmusik.

»Eine apokalyptische Anekdote!« kichert der aufgeklärte Herr Peter Struve. Der nicht weniger aufgeklärte Carlyle kichert aber nicht. »Ihr nähert euch unaufhaltsam dem Ende der Welt,« sagt er mit furchtbarem Ernst. »Ihr vollendet buchstäblich euren Weg, ihr bewegt euch Schritt für Schritt vorwärts, bis ihr plötzlich am Rande der Erde steht; bis ihr euren letzten Schritt nicht mehr auf der Erde, sondern in der Luft, über den Tiefen des Ozeans und der brodelnden Abgründe macht; oder gilt das Gesetz der Schwerkraft nicht mehr?« (» Past and Present«, III, 2)

Das Gefühl des »Endes« ist das einzige echte Gefühl im Futurismus, obwohl er es selbst noch gar nicht richtig empfindet.

»Wir stehen am äußersten Ende der Jahrhunderte ... Raum und Zeit sind gestern gestorben, – wir leben schon im Absoluten ... Auf dem Gipfel der Welt stehend, schleudern wir den Sternen unsere Herausforderung ins Gesicht!« – ruft der Futurismus mit der Ungeniertheit eines Chljestakows. Chljestakow = Hauptfigur in Gogols »Revisor«; im übertragenen Sinne soviel wie Aufschneider und Hochstapler. Anm. d. Ü. Lächerlich ist ein Chljestakow, der in der Sternenwelt steht; lächerlich, vielleicht aber auch schrecklich? Dieses futuristische Gefühl des Endes ist falsch und echt, wirklich und gespenstisch. Der Futurismus ist noch nicht das Ende, aber der Versuch des Endes. Vielleicht wird dieser Versuch ebenso fehlschlagen wie tausend andere; aber wenn einer von den Tausenden gelingt und Sie, hochverehrter Herr Peter Struve, den letzten Schritt nicht mehr auf der Erde sondern in der Luft machen, da werden Sie schon zu kichern aufhören! ...

Der Futurismus ist der Positivismus der nächsten Zukunft, die Strafe für den Positivismus der jüngsten Vergangenheit. Die Erhaltung der Kultur und die Abschaffung der Religion oder ihre Herabsetzung zu einem der »Kulturwerte« (zu dem Golde und den Perlen der »großen Hure«) – das ist der Traum des Positivismus. Daß aber die Religion die Seele der Kultur ist, und daß man die Seele nicht herausholen kann, ohne zuvor den Körper getötet zu haben, – das begriff erst der Futurismus. Der neue Positivismus ist besser als der alte.

Die Religion ist für die beiden »klerikaler Unrat, von dem man die Erde säubern muß«. – »Was zaudert ihr noch? Hält euch der Graben zurück, der große mittelalterliche Graben, der die Kathedrale schützt? Macht ihn dem Erdboden gleich! Ihr Greise, werft die Schätze, unter denen sich eure Rücken krümmen, hinein: die unsterblichen Statuen, die vom Mondlicht übergossenen Gitarren, die Lieblingswaffen eurer Vorfahren und alle Edelmetalle ... Was, ist der Graben noch immer zu tief? Stürzt euch dann selbst hinein! Mögen eure alten Leiber, zu einem Haufen zusammengeworfen, die Bahn für die hehre Hoffnung der Zukunft sein! Und ihr, ihr Jungen und Rüstigen, schreitet über sie hinweg! Im Galopp, vorwärts!«

Aufgeklärtester Herr Peter Struve, akademischster Herr Valerij Brjussow, was sagen Sie dazu? Wissen Sie, wer auf Ihre Körper tritt? Wenn Sie es noch nicht wissen, so werden Sie es bald erfahren.

Der Futurismus ist ein neuer Schritt des nahenden Pöbels. Geht ihm entgegen, ihr Herren Ästheten, Akademiker und »Vorkämpfer der Kultur!« Ihr könnt ihm nicht entrinnen. Ihr habt ihn selbst geboren: er ist aus euch erstanden wie Eva aus Adams Rippe. Keine Kultur kann euch vor ihm retten. Für manchen ist er der Pöbel, für euch aber der König. Er kann mit euch alles tun, was er nur will: er wird euch in die Augen spucken, und ihr werdet sagen: »Göttlicher Tau!« Stürzt also dem nahenden Pöbel vor die Füße!

Was ist der »Pöbel«? »Ein Knecht, wenn er König wird!« Sprüche, 30, 22. Anm. d. Ü. Ohne den König Christus kann man den Pöbel nicht besiegen. Nur wenn man mit dem wahren König ist, kann man zu dem Knecht, der König geworden ist, sagen: »Du bist kein König, sondern der Pöbel!«


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