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Von der religiösen Lüge des Nationalismus

»Krieg dem Kriege« – das ist der uns erwünschte Sinn dieses Krieges. Ist das aber auch sein tatsächlicher Sinn?

Dem Militarismus, als einer Scheinkultur, wird das Prinzip der wahren, allmenschlichen Kultur gegenübergestellt. Dieses Prinzip erweist sich aber vor unseren Augen als abstrakt und wirkungslos. Solange die europäische Menschheit existiert, ist die Idee der allmenschlichen Kultur noch nie so mit Füßen getreten worden wie jetzt.

Die Behauptung, daß Deutschland keine Kultur habe, ist dumm und leichtsinnig. In diesem Kriege kämpft nicht eine Kultur gegen eine Barbarei, sondern eine scheinbar wahre Kultur gegen eine scheinbar falsche. Zur Scheidung der echten von der falschen gibt es aber in der Kultur selbst keinen absoluten Maßstab.

Das Wesen der Kultur ist übernational und universell. »In der Gesamtheit hat die Menschheit immer danach gestrebt, sich allmenschlich einzurichten. Viele große Völker mit großer Geschichte hat es gegeben, doch je höher diese Völker standen, um so unglücklicher waren sie, denn um so stärker erkannten oder empfanden sie die Notwendigkeit der allweltlichen Vereinigung der Menschen. Große Eroberer, wie Timur und Dschingis-Chan, zogen wie Wetterwolken mit Wirbelsturm über die Erde, in dem Bestreben, die Welt zu erobern, und auch sie drückten, wenn auch unbewußt, dasselbe mächtige Bedürfnis der Menschheit nach der allgemeinen und weltumfassenden Vereinigung aus.« (Dostojewskij, »Großinquisitor«)

Dieses Bestreben ist eine der wichtigsten Triebkräfte der alten, vorchristlichen Menschheit. Assyrien, Medien, Mazedonien sind mißlungene Versuche einer solchen weltumfassenden Vereinigung. Der erste gelungene Versuch ist Rom. » Tu regere imperio, Romane, memento,« – das ist der tiefste Sinn des römischen Kaiserreichs. Rom ist die Welt, und der römische Friede – » pax romana« – bedeutet tatsächlich den »Weltfrieden«. Das ist das erste Moment einer äußeren, staatlichen, anscheinend ewigen, in der Tat aber vergänglichen allweltlichen Vereinigung, eines anscheinend stabilen, in der Tat aber labilen Gleichgewichts. Die Einfälle der Barbaren – vorwiegend Germanen – waren eine Art nationale Reaktion gegen die römische Einheit; die Rückkehr der Völker zur selbständigen Existenz zertrümmert die äußere Einheit des römischen Reiches von innen, wie warme Frühlingsgewässer die Eisrinde sprengen.

Das zweite Moment ist die nicht mehr äußere, sondern innere Vereinigung im Namen des Logos, der göttlichen und nicht mehr menschlichen Vernunft. Die abstrakte Idee der Menschheit wird zum erstenmal in der Idee der weltumfassenden Kirche verkörpert, und der römische Friede wird zum Frieden Gottes – » pax Dei«. Aber die Kirche selbst versucht in ihrem Schoße die Vermengung zweier unvereinbarer Prinzipien – des staatlichen und des kirchlichen. Darum erweist sich auch die zweite Vereinigung, der zweite »Weltfriede« als wenig dauerhaft. In die Einheit dringt wiederum der Nationalismus ein, doch diesmal nicht von außen, sondern von innen; er sprengt die Kirche zunächst in zwei Hälften – die abendländische und die morgenländische und dann in eine Menge nationaler und lokaler Kirchen. In diesem Sinne ist die Reformation, die wohl nicht zufällig von den Germanen ausging, als ein zweiter »Einfall der Barbaren« zu betrachten.

Das dritte Moment ist die Große Französische Revolution, und ihre unausbleibliche Folge – das Napoleonische Kaiserreich, eine Wiedergeburt der alten römischen Einheit. Napoleon, der als Ziel seiner Eroberungen » le reigne de la raison humaine«, die Herrschaft der menschlichen, nur menschlichen Vernunft erklärte, stimmte darin mit Robespierre überein. Und die allweltliche Vereinigung wurde zum drittenmal vom Nationalismus gesprengt: der Kampf für die nationale Selbständigkeit gegen das Napoleonische Kaiserreich, also letzten Endes gegen die Revolution führte zur Heiligen Allianz und zur schlimmsten Reaktion.

Das vierte, in der Weltgeschichte aber noch nicht verwirklichte Moment ist der Sozialismus. Heute sehen wir nur seine Ohnmacht, die allweltliche Vereinigung herbeizuführen.

Dieser Krieg ist eine Fortsetzung der »Befreiungskriege« gegen Napoleon (1812–1815). Von außen betrachtet ist auch er ein »Befreiungskrieg« gegen den Imperialismus, der sich angeblich im »preußischen Militarismus« verkörpert. Das ist aber nur der äußere Eindruck: ein tiefer Zusammenhang zwischen Nationalismus und Imperialismus besteht in der Tat nicht nur bei den Deutschen, sondern auch bei allen ihren Gegnern. Bei allen Völkern Europas glimmt heute unter der Asche des Nationalismus das Feuer des Imperialismus. Der Unterschied ist nur quantitativ und nicht qualitativ.

Was ist nun der Nationalismus? Die Aufstellung der relativen nationalen Wahrheit als einer absoluten und allmenschlichen. »Deutschland, Deutschland über alles« und »Ergebt euch, ihr Völker, denn Gott ist mit uns«, beide Losungen sind gleich gotteslästerlich. Der Nationalismus bejaht heuchlerisch auch alle anderen Völker; in der Tat schließt er sie aber aus. Wenn die nationale Wahrheit absolut ist, so ist sie einzig und ausschließlich, denn es kann neben ihr nicht noch eine andere absolute Wahrheit geben.

Mit dem Patriotismus, dem Heimatsgefühl stimmt der Nationalismus metaphysisch nicht überein. Auf der geistigen, inneren Ebene ist der Begriff der Heimat weiter als der Begriff des Staates: der Staat ist für das Persönlichste und Lebendigste im Leben des Volkes viel zu eng. Auf der materiellen, äußeren Ebene ist aber der Begriff des Staates weiter, als der Begriff der Heimat: in einem Staate kann es viele Völker und viele Heimatländer geben. Das heißt, daß der Patriotismus auch außerstaatlich sein kann: die Juden und Polen haben heute keinen Staat, wohl aber eine Heimat. Das Wesen des Nationalismus ist immer staatlich. Doch das Wesen des Staates selbst ist übernational. Der Begriff der Nation findet im Begriffe Staat Raum, aber nicht umgekehrt: ein Staat kann auch aus vielen Nationen bestehen. Es gibt keinen noch so kleinen Staat, der nicht danach strebte, auf Kosten von noch kleineren zu einem Großstaate zu werden. Das unausbleibliche, metaphysische Ziel des Staates ist der Aufstieg zur »Großmacht«, der Imperialismus, die Nation, die ihre eigene, relative Wahrheit als eine absolute und allmenschliche aufstellt.

Aus diesem Grunde ist der Nationalismus, der metaphysisch mit dem Imperialismus stets verquickt ist, kriegerisch und eroberungssüchtig.

Es gibt keinen Nationalismus ohne Imperialismus. Unter dem ewigen Vorwande der Verteidigung seines Vaterlandes sucht er immer Fremdes und Wehrloses an sich zu reißen. Ex ungue leonem: man erkennt den Löwen oder den Wolf an den Krallen: der Nationalismus ist ein Wolf im Schafspelze.

Der Kampf gegen den Nationalismus ist die Hauptaufgabe der russischen Intelligenz. Dieser Kampf ist wohl in keinem Lande und zu keiner Zeit so unversöhnlich geführt worden wie bei uns. Von Tschaadajew bis Wladimir Ssolowjow ist das russische »Westlertum«, der Kampf gegen das Slavophilentum nichts anderes als der Kampf gegen den Nationalismus. »Verflucht sei jedes Volkstum, das die Menschlichkeit aus sich ausschließt!« dieses Vermächtnis Bjelinskij's ist die Losung der ganzen russischen Gesellschaft.

In diesem Sinne ist Peter der Große unser Urbild: er war der erste Westler und zugleich der russischste von allen Russen. Und wie sehr er auch die nationale Idee mit der des Staates verwechselte, sein eigentliches Wesen ist doch immer übernational und allweltlich. Dasselbe sehen wir an Puschkin und an der ganzen russischen Literatur: das Nationale erhebt sich in ihr immer zum Allmenschlichen.

Die schwere Sünde des Slavophilentums ist die scheinbare Anerkennung und die tatsächliche Verneinung des Allweltlichen. Das russische Slavophilentum zeichnet sich durch seine Schlappheit, Rückgratlosigkeit, das Nichtkönnen oder Nichtwollen, einen Gedanken zu Ende zu denken, den Punkt auf das i zu setzen, aus. Diesen nicht zu Ende gesprochenen Gedanken enthüllt uns in kristallklarer, mathematisch präziser Form der furchtloseste und konsequenteste von allen russischen Slavophilen, Tjutschew Siehe Anmerkung Seite 9. Er gibt diesem Körper einen Rückgrat und setzt auf alle i die Punkte. Seine Logik ist erbarmungslos: wenn man seine Prämissen hinnimmt, ist man auch gezwungen, alle seine Schlüsse zu ziehen.

Das Wesen der Revolution – behauptet Tjutschew – ist das menschliche »Ich«, das sich an die Stelle Gottes setzt, die zu einem politischen und sozialen Recht erhobene Autokratie des menschlichen »Ich«. Dieses Wesen ist »antichristlich«, denn der »Antichrist« ist der Mensch, der sich zu Gott erhoben hat, ein »Gottmensch«.

Und er zieht daraus folgende Schlüsse:

Das Wesen des europäischen Westens ist die Revolution, das Antichristentum, also die absolute Lüge; eine auf Lüge aufgebaute menschliche Gemeinschaft ist aber dem Untergange geweiht.

»Wird Frankreich die Kraft haben, sich von der Revolution loszusagen und wieder christlich und monarchisch zu werden?« fragt Tjutschew 1870 am Vorabend der Kommune. »Wenn es nicht die Kraft dazu hat, so ist Frankreichs Untergang unausbleiblich.« Und nicht nur Frankreichs Untergang, sondern auch der des ganzen europäischen Westens. »Der Westen tritt zurück, alles stürzt, alles geht zugrunde in dieser schrecklichen Feuersbrunst. Die Zivilisation mordet sich mit eigenen Händen,« prophezeite er schon 1848. Im Jahre 1873, nach der Kommune schreibt er: »Die ganze Nation hat Gehirnerweichung ... Ein Zustand, der an Idiotie grenzt ... Ein Anfall von Tobsucht hat sich des ganzen Europa bemächtigt ... Die ganze Welt ist zu einer Verkörperung der Lüge geworden ... Das letzte Wort des Westens ist das Wort Judas, der, nachdem er den Heiland verraten, zu dem einzig vernünftigen Schlusse kam, daß er sich erhängen müsse.«

Die andern Slavophilen hassen den Westen wohl nicht weniger als Tjutschew; sie schämen sich aber dessen und wissen selbst nicht, was sie tun, wenn sie wie der Bär in der Fabel die Fliege auf der Stirne des schlafenden Freundes mit einem schweren Stein zerschmettern wollen. Tjutschew aber weiß es. Allerdings ist es für ihn nur ein »Spiel des Geistes«; was aber für ihn ein Spiel ist, wird bei den anderen zur Tat.

Fast alle Gedanken Dostojewskij's vom »Gottmenschtum« und der Revolution sind schon vorher von Tjutschew ausgesprochen worden.

Die Menschen verbergen verschämt das Geheimnis ihrer Geburt; ebenso verbergen die Slavophilen ihren Haß gegen den Westen. Tjutschew entblößte diese Scham, und wenn sie sich als ungeheuerlich erwies, so ist es nicht seine Schuld, sondern die Schuld der Lehre, die er predigte.

Ein menschenmordender Haß ist die gegen Westen gerichtete Scham des Slavophilentums. Hier ist aber die andere, gegen Rußland gerichtete Scham:

Mit der Kreuzeslast beladen,
Hat dich, Heimat, allerwegen
Schon in Knechtgestalt durchwandert
Unser Herr mit seinem Segen ...

Das heißt: Christus hat Rußland allein gesegnet und alle anderen Völker verdammt. »Rußland, Rußland über alles,« »Ergebt euch, ihr Völker, denn Gott ist mit uns,« mit uns allein, und sonst mit niemand.

»In der Welt gibt es nur zwei Mächte: Rußland und die Revolution. Zwischen ihnen kann es keinerlei Kompromisse und Abmachungen geben: was für die eine das Leben ist, ist für die andere der Tod. Vom Ausgang ihres Kampfes hängt die Zukunft der Menschheit ab ... Über dem großen Trümmerhaufen des Westens schwebt das noch größer gewordene Rußland als heilige Arche empor ... Wer wagt es, an Rußlands Berufung zu zweifeln? ...

Wer will, der mag an Rußland zweifeln,
Wenn es nur selber an sich glaubt!

»Nun sind wir in einen Krieg mit ganz Europa verwickelt« schreibt er 1854, am Vorabend des Krimkrieges. »Es ist eine Verschwörung gegen uns ... In der Weltgeschichte hat es noch nie einen so schändlichen Anschlag gegeben ...« Die Erhebung Europas gegen Rußland, ist die Erhebung des Antichrist gegen Christus:

Die gotteslästerlichsten Völker,
Den gotteslästerlichsten Geist
Spie gegen uns der Hölle Schlund ...

Es ist der letzte Kampf der ganzen westeuropäischen Menschheit gegen Rußland. Es ist wohl möglich, daß Rußland zugrunde geht. Wenn es aber nicht zugrunde geht, so wird der Westen es nicht mehr mit Rußland zu tun haben, sondern mit einem neuen und endgültigen Riesenkörper, für den die Weltgeschichte noch keinen Namen hat. Die Prophezeiung Napoleons auf St. Helena: »Europa wird in 50 Jahren entweder revolutionär oder kosakisch sein« geht vor unseren Augen in Erfüllung.

Die Revolution und Rußland sind »Meer und Fels«: die Wellen kämpfen gegen den Fels, zerschellen an ihm und werden sich einmal früher oder später legen:

Und in schweigendem Erliegen
Werden friedlich sie sich schmiegen
Unter deinen Riesenfuß.

Ganz Europa liegt unter dem »Riesenfuße« Rußlands. Oder, wie es Chomjakow Chomjakow (1809–50) slavophiler Dichter. Anm. d. Ü. weissagte:

Und dem demutvollsten Volke
Gibt der Herr das Weltensteuer,
Seinen Donner und sein Schwert ...

Eine solche »Demut« würde wohl auch der Satan selbst gerne hinnehmen!

Tjutschew deckt die Scham des Slavophilentums am schonungslosesten dort auf, wo sie am verschämtesten ist: in der Frage vom religiösen Sinn der Autokratie.

Die Gewalt des Zaren – die weltliche wie die geistliche – ist von Gott: der Zar ist der Gesalbte Gottes; der Zar ist nicht nur Zar, das Oberhaupt des Staates, sondern auch der Hohepriester, das Oberhaupt der Kirche, der Statthalter Christi, ein umgekehrter Papst: in Rom wird die Kirche zum Staate, in Rußland der Staat zur Kirche. In der Gegenüberstellung der beiden Theokratien, der westlichen und der östlichen, besteht auch die Grundidee Dostojewskij's, der weiter als alle Slavophilen geht. Doch auch er geht den Weg nicht zu Ende. Das tut nur Tjutschew:

Verherrlicht seist du, Zar, verherrlicht und gerühmt,
Doch nicht als Zar: als Statthalter des Herrn!

D. h. als Papst des Dritten Russischen Roms.

Was die neuen Slavophilen (Bulgakow, Berdjajew u. a.) kindlich lallen, das hat Tjutschew deutlich ausgesprochen: Autokratie und Orthodoxie sind aneinander gebunden wie Form und Inhalt, wie Körper und Geist; die Autokratie ist die Apokalypse der Orthodoxie; die Orthodoxie findet in der Autokratie ihre Erfüllung; sie voneinander losreißen, heißt sie töten.

Der letzte Schluß, den er zieht, ist das russische Weltreich.

»Man kann die Idee des christlichen Weltreiches nicht verwerfen, ohne zugleich auch die christliche Kirche zu verwerfen: sie sind korrelativ. Die Kirche hat dem Weltreich ihre Weihe gegeben und es damit zu einem absoluten gemacht.« Die einzige Weltkirche bedeutet das einzige Weltreich.

Der Verwirklichung dieses Gedankens müssen zwei große Taten vorangehen: auf weltlichem Gebiete die Schaffung eines Slavisch-Orthodoxen Reiches, auf geistlichem – die Wiedervereinigung der Kirchen, oder, genauer gesagt, die Absorbierung der westlichen Kirche durch die östliche.

»Das Weltreich bestand immer, nur die Herrscher wechselten ab. Die vier ersten Reiche waren: Assyrien, Persien, Mazedonien und Rom. Mit Konstantin dem Apostelgleichen begann das endgültige fünfte Reich: das christliche; seine Vollendung ist Rußland.«

Wie das »Christentum« dieses christlichen Weltreiches beschaffen ist, kann man daraus ersehen, wie Tjutschew über die Schicksale der einzelnen Völker entscheidet:

»Entweder Polen, oder Rußland: beide können nicht zugleich existieren.« Da aber natürlich Rußland existieren muß, so muß Polen vernichtet, von dem »Riesenfuße« Rußlands zertreten werden. Und zwar nicht nur Polen allein, sondern auch Österreich, Italien, Deutschland und alle die »gotteslästerlichen Völker«. Zertreten, erwürgt, hingemordet »mit dem Kruzifix und dem Schwert in der gleichen Hand«, wie Tjutschew vom Ersten Rom sagt, was er ebensogut auf das Dritte russische Rom anwenden könnte. Mord unter der Fahne Christi, das Reich des »Tieres« unter dem Namen des Reiches Gottes.

Die byzantinische Restauration Tjutschews, dieses kostbare Gewebe, erwies sich für die russische Politik als ungeeignet. Die Sache ließ sich mit billigeren Mitteln machen. Wenn man aber den verschossenen Fetzen des heutigen slavophilen Nationalismus genau betrachtet, so kann man darauf das gleiche byzantinische Muster – Adler und Kreuze – entdecken wie auf dem golddurchwirkten Ornat Tjutschews. Er enthüllt das tiefste Wesen dessen, was auch heute noch als »russischer Stil«, »russischer Geist« hingestellt wird. Tjutschew ist weder besser noch schlechter als die andern Slavophilen; er ist nur aufrichtiger.

In diesem Kriege feiert der slavophile Nationalismus, der endgültig zu einem »zoologischen Patriotismus entartet ist, seine Triumphe. Darum ist die traditionelle Aufgabe der russischen Gesellschaft – der Kampf gegen den Nationalismus – heute schwieriger und verantwortungsvoller als je.

Der Kampf wurde bisher auf der positiven Ebene geführt. Die endgültige Überwindung des slavophilen Nationalismus ist aber nur auf der Ebene möglich, auf der sich dieser Nationalismus selbst bewegt – nämlich auf der religiösen.

In dieser Beziehung kann die polnische Intelligenz heute zu einer mächtigen ideellen Verbündeten der russischen Intelligenz werden. Der polnische Messianismus hat die Frage vom Verhältnis der nationalen Wahrheit zur allmenschlichen immer religiös behandelt, d. h. so, wie es die russische Intelligenz bisher nicht zu tun vermochte.

Der polnische Messianismus ist dem russischen slavophilen Nationalismus am entgegengesetztesten. Das Wesen der messianischen Idee ist nicht die räuberische, gewalttätige Herrschaft eines einzelnen Volkes über alle anderen, sondern der Dienst, das Opfer, das Leid. »Wer Herr sein will, muß Knecht werden, wer der erste sein will, muß der letzte sein.«

Die große Leidensgeschichte Polens ist ein welthistorisches Golgatha. Außer dem Volke Gottes, dem ausgesprochen messianischen Volke Israel, hat noch kein Volk so viel wie das polnische erduldet. Die Idee der Selbstaufopferung und des Dienstes wird von den Polen wie von keinem andern christlichen Volke verkörpert. Rußland hat für Europa geblutet; Polen – für Rußland. »Durch Polens Wunden werden wir genesen.« In diesem Sinne ist das polnische Volk das wahrhafte Volk Gottes.

Die beste Arznei gegen die alte russische Krankheit – den slavophilen Nationalismus ist der polnische Messianismus, der selbstaufopfernde Dienst der höchsten allmenschlichen Wahrheit.

Darum kann die geistige Annäherung Rußlands an Polen, die wir heute beobachten, zur Rettung für beide Völker werden. »Noch ist Polen nicht verloren«: dieser Ruf soll in unsern Herzen den Widerhall wecken: »Noch ist Rußland nicht verloren!«

Wir gingen zusammen zugrunde. Nun werden wir auch zusammen gerettet werden.


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