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Die kranke Schöne

»Obwohl ich schreiben muß, schreibe ich nicht infolge meiner schwierigen materiellen Umstände. Ich bin ein Mann der unprivilegierten Klasse und muß als Bauer und Arbeiter alle Zeit des täglichen Brotes wegen totschlagen ... Wir reale Menschen müssen uns unsern Lebensunterhalt durch Arbeit und Tod erkaufen ...

So schreibt mir Archip, ein ehemaliger Sewastopoler Matrose, der an der Erhebung des Jahres 1915 teilgenommen und später teils als Flüchtling herumgeirrt, teils in Gefängnissen gesessen hat. Als seine Militärzeit zu Ende war, zog er aufs Land und lebte eine Zeitlang als Ackerbauer. Dann zog er wieder in die Stadt und arbeitet heute in einer der Moskauer Fabriken.

»Ich neigte mit meinem Verstand immer zur Wahrheit Gottes hin ... Ich dachte viel darüber nach, was das Leben sei und wie man es in Wahrheit erfassen könne. Ich las auch viel: sozialistische und dekadente Bücher und die Evangelien. Die Tür der Wahrheit ist versperrt. In der letzten Zeit lausche ich immer mehr dem Rauschen hinter dieser Tür ...

Der Brief ist dermaßen unorthographisch und »ungebildet«, daß man ihn nicht nur schwer verstehen sondern auch schwer entziffern kann. Archip schreibt mit seinen ungeheuerlichen Hieroglyphen, seinen kindlichen Krähenfüßen über die tiefsten Fragen der Metaphysik, der Mystik, über Leben und Tod, Gott und Ewigkeit.

Trotz der unmöglichen Orthographie und des ebenso unmöglichen Stils kommt hie und da eine ungeheure Kraft der Sprache zum Durchbruch; es ist keine persönliche, sondern eine allgemeine, elementare Kraft, wie wir sie in alten Heldengesängen, Märchen und Volksliedern finden. In der einzelnen Stimme hören wir das Brausen zahlloser Stimmen. Es ist eine unbewußte, eine elementare Gewalt. Man hat den Eindruck, daß, wenn der Schreiber dieser Briefe sich für einen »Schriftsteller« hielte, die ganze Kraft sofort schwinden und sich im trüben halb-intellektuellen Zwielicht auflösen würde.

Seine Briefe sind fast unlösbare Rätsel, ein Knäuel von Gedanken und Empfindungen, in dem alle Anfänge und Enden verworren und durcheinandergeraten sind. Vielleicht herrscht aber in diesem Wirrwarr eine eigene Ordnung, in dieser Zusammenhanglosigkeit ein eigener Zusammenhang, in dieser Unwissenheit ein eigenes Wissen, das von unserm intellektuellen Wissen verschieden ist? Vielleicht ist dieser Mensch, der »dem Rauschen hinter der Tür der Wahrheit« lauscht, ein Weiser?

»Der Tod ist durch das Leben schrecklich.« – »Alles ist unverständlich, alles ist schlecht, alles ist gut.« Muß man da nicht an die Aussprüche des halb-mythischen Altertums, an die Sentenzen eines Anaxagoras oder Heraklit des Dunklen denken? Die Worte sind wie schwere, ewige, unzerstörbare Monolithen.

Dem gewöhnlichen intellektuellen Blick erscheint aber alles als ganz gewöhnliche Unkultur, Unbildung, Unwissenheit und Einfall. Vor kurzem noch war eine andere Auffassung auch gar nicht möglich. Heute ist sie möglich. Und es ist noch eine Frage, welche der beiden Auffassungen die Realität dieser »realen Menschen, die sich ihr Brot durch Arbeit und Tod erkaufen«, tiefer erfaßt.

Im Jahre 1907 kam Archip einmal zu Tolstoi. Er beschreibt seinen Besuch wie folgt:

»Ich ging nach Jasnaja-Poljana zu Fuß, machte an die fünfzig Werst und war furchtbar müde. Lange wartete ich im Garten unter einem Baum und erfror beinahe im kalten Wind. Es war schon dunkel geworden. Plötzlich hörte ich Pferdehufe, und der Graf kam in seiner natürlichen Uniform Archip meint: »in seiner bekannten Bauerntracht.« Anm. d. Ü. geritten. Er sprang schnell aus dem Sattel, rief einem Diener und gab ihm das Pferd. Ich verbeugte mich vor ihm, auch er verbeugte sich. Nun fragt er mich mit mitleidiger Stimme: ›Was willst du?‹ Ich antworte: ›Nichts. Ich will Sie nur besuchen.‹ Der Graf fragte mich, aus welchem Landkreis ich stamme und wozu ich hergekommen sei. Ich beeilte mich, ihm alles zu sagen: daß ich viel lese und aus den Büchern sehe, daß ich ihn sprechen muß.

›Wozu soll der Mensch viel lesen?‹

Ich wollte ihm alles in zwei – drei Worten erklären, nach einer Minute sagte aber der Graf:

›Wenn du von mir sonst nichts willst, so leb wohl!‹

Ich verbeugte mich tief vor ihm und machte mich auf, um in die Wärme meines Hauses zurückzukehren. Ich war so überrascht, daß ich die Mütze vor ihm mit Verspätung zog. So ging er von mir mit seiner Verstoßenheit

Archip erklärt weiter recht verständlich, worin diese »Verstoßenheit« besteht.

»Der Graf Ljew Nikolajewitsch tut mir sehr leid: er hat ja in seinen Büchern geschrieben, daß man alles anders machen muß; wie man es aber anfangen soll, das wußte er nicht und weiß es wohl auch heute nicht. Er rät, eigenwillig und in Demut seine Waffen zu strecken, ruhig auf seinem Platz sitzen zu bleiben und auch keine Bücher zu lesen. Er war ja immer gut versorgt; ich glaube, er hätte es schwerer gehabt, wenn er Proletarier wäre und den ganzen Tag des täglichen Brotes wegen in der Kälte stehen und sich die Nase reiben müßte, damit sie ihm nicht erfriere. Und doch blieb er von den schrecklichen Qualen des Lebens nicht verschont, da er sich selbst töten wollte. Dann wurde er ruhig, streckte die Waffen und sagte sich: Erwarte nicht, daß alle es einmal gut haben, alles wird immer so bleiben, wie es ist ... Er beruhigte sich damit, daß niemand wisse, wozu der Mensch auf der Welt lebe. Und jetzt, da er sich so quält, tut er mir noch mehr leid. Nun findet er zu keiner Seele mehr den Weg, denn er ist für sich, und wir sind für uns. Er sagt, daß der Mensch nichts zu wissen braucht; der Mensch kann aber ohne das nicht leben. Er hat seinen Schmerz in sich erdrückt und sich auf seinen Platz zurückgezogen; ich glaube aber, daß es ihm gar nicht froh zumute ist; er stellt sich nur so, um sich selbst zu beruhigen. Ich war zwar müde und halb erfroren, und doch war es mir freudiger ums Herz als ihm. Viele meiner Freunde sitzen in Gefängnissen, – ich glaube, daß auch sie es besser haben als er.«

Der erste Brief Archips ist vom Jahre 1907, der letzte vom Jahre 1914. Die Briefe machen aber den Eindruck, als ob in diesen sieben Jahren weder in ihm selbst noch in seiner Umgebung auch nur die geringste Veränderung vorgegangen sei. Und wenn nicht nur diese sieben, sondern siebzig oder siebenhundert Jahre vergangen wären, würde er wohl immer dasselbe schreiben. Als ob es für ihn die uns zugemessene, persönliche Zeitspanne des kurzen Menschenlebens gar nicht gäbe, sondern nur die allgemeine Ewigkeit, das viele Jahrhunderte währende Leben eines ganzen Volkes; als ob er, der »in der Gewalt der Erde«, des ewigen, unbeweglichen Elements lebt, auch selbst unbeweglich und ewig wäre.

Das ist aber nur der äußere Eindruck; wenn man ihn aufmerksamer betrachtet, so sieht man, daß sich auch in Archips unbewegter Ewigkeit etwas bewegt und im Einklange mit unserer kurzen Lebensspanne, mit unserer sozialen Bewegung verändert.

»In der letzten Zeit habe ich eine gewisse Veränderung durchgemacht,« bemerkt er in einem Brief. Worin besteht nun diese Veränderung? In den sieben Jahren hatte er begriffen, was er schon im Jahre 1907, nach dem Besuch bei Tolstoi, einzusehen begann: daß das Christentum und der Tolstoismus nicht dasselbe sind.

»Tolstoi konnte niemals beten, auch ich konnte nicht beten. Wie oft habe ich mich gefragt, wozu Christus betete. Christus ist aber nicht Tolstoi und nicht ich: er hing nicht am Leben und fürchtete den Tod nicht, denn er kannte das Leben. Er kannte und wußte alles, darum nennen wir ihn auch einen Gottmenschen ... Was ist aber Tolstoi, was sind wir? Wir fürchten das Leben wie die gehetzten Hasen ... Wir einfache, reale Menschen müssen die Hand immer am Mützenschirm halten und wie die mittelalterlichen Narren sprechen: ›Zu Befehl, ja!‹ ›Zu Befehl, nein!‹ Und wenn es unsereinem einfallen wollte, einen Tolstoi zu verwirklichen, was für Qualen müßte er da über sich ergehen lassen! Man erleichtert sich damit das Leben nicht, sondern wird zum ewigen Sklaven ...«

»Tolstoi verwirklichen« – das heißt: nichts wissen, nichts wollen, nichts denken, »seinen Schmerz erdrücken« und sich sagen: »Erwarte nicht, daß alle es einmal gut haben, alles wird immer so bleiben, wie es ist« – das bedeutet eben »Sklave sein«. Der Mensch kann das aber nicht, auch Christus hat das nicht gelehrt. »Die Seele lechzt nach der wahren Freiheit und hört das Wasser des Lebens rauschen, das jeden Durst stillt.«

Nein, nicht umsonst waren für Archip diese sieben Jahre vergangen: er lebte die ganze Zeit von seinem Glauben, daß die Wahrheit Gottes den Sieg davonträgt – »meine Wahrheit, die Wahrheit des ganzen russischen Volkes und der ganzen Welt«. – Er hatte auch endgültig begriffen, daß diese »Wahrheit Gottes« die Freiheit ist.

Er hat auch noch manches andere begriffen und erkannt, was wir alle in diesen Jahren erkannt haben.

»Ich entsetzte mich, als meine Freunde um der Wahrheit willen verfolgt wurden ... Sie waren bleich vor Todesangst; sie wußten nichts; sie glaubten an die Wahrheit und glaubten so Gott zu dienen. Wir haben sie wie Märtyrer ins Jenseits geschickt. Wir glaubten, daß Gott ihnen dort ewiges Leben verleihe. Wir einfache Menschen glaubten an Gott und daß wir von Ihm eine Hilfe und eine Wiedergeburt zu erwarten haben.«

Der Glaube stellte sich aber als vergeblich heraus. »Sie (die Verfolger) leben bis zu ihrem Tode sorglos und tun jede Willkür. Niemand weiß, was er nach dem Tode zu erwarten hat. Vielleicht wird uns Gott nach unseren Verdiensten vergelten, und es gibt nur hier keine Wiedergeburt als Lohn für die Wahrheit. Sie (die Verfolgten) haben ja niemals erfahren, was das Leben schön macht.«

Hier in diesem Punkte fällt Archips Ewigkeit mit unserer kurzen Zeitspanne zusammen; hier durchdringt das gleiche Schwert unser Herz und das Herz des Volkes. Hier sind wir und das Volk eins.

In den Schmerzen, in der Krankheit sind wir eins, aber in der Gesundung noch nicht.

Tolstoi betet nicht, weil er durch die himmlische Wahrheit den Schmerz um die irdische Wahrheit in sich erdrückt und sich beruhigt hat: hier auf Erden wird ja alles so bleiben, wie es ist. Christus betet, weil er die ganze Qual um die Wahrheit der Erde bis zur Neige durchkostet hat; er sagt: »Es darf hier auf Erden nichts so bleiben, wie es ist: Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.« Ja, nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden, – das ist für Archip das Wichtigste.

Ich spreche seinen Gedanken zu Ende und drücke ihn deutlicher aus, als er es selbst getan hat. Er nähert sich ihm nur tastend, aber es ist derselbe Gedanke: die Wahrheit Christi als die Wahrheit der Erde.

»Das irdische Leben ist nicht das Reich Gottes ... Und in der Tat, wenn man genauer hinsieht, so liegt die ganze Erde in Todeskampf. Das Ende dieses Todeskampfes ist unbekannt ... Man sagt, daß unser Leben eine Hölle ist. Und doch finden wir darin das, was wir lieben, und es ist eine Freude für den Menschen, auf dieser Erde zu leben ... Viele haben sich vielleicht noch kein einziges Mal gefragt, was wir sind und was unsere Erde ist, im Winter mit ihrem weißen Schnee, im Sommer mit ihren paradiesischen Blumen. Unsere teure, bis zum Tode geliebte Mutter Erde scheint ja in allen Dingen schön und herrlich zu sein. In der Tat ist sie aber eine kranke Schöne. Heute erfreut sie uns, morgen läßt sie uns leiden. Sie liegt noch immer in Todeskampf ... Um uns für unser Unverständnis zu strafen, hat man das Evangelium vor uns versteckt, nun liegt es seit zweitausend Jahren verborgen, und niemand kennt es.«

Niemand kennt das Evangelium, weil niemand die Wahrheit Christi, nicht nur die vom Himmel sondern auch die von der Erde kennt. Durch die Erde zum Himmel, durch den »Todeskampf der Erde«, durch die unendliche Qual um die irdische Wahrheit zur himmlischen Wahrheit, – das drückt Archip mit folgenden Worten aus: »Man kann Gott durch Christus begreifen, man kann Ihn durch Christus lieb gewinnen und Ihm nahekommen.«

»In der Gegenwart kennen sich einige Leute schon etwas besser im Evangelium aus,« fügt er geheimnisvoll hinzu. »Sie sagen etwas, sprechen es aber nicht zu Ende, sie wissen etwas und erzählen es nicht. Aus irgendeinem Grunde sondern sie sich vom Leben ab wie Öl vom Wasser.«

(Hätten sie es »zu Ende gesprochen«, so hätten sie sich vielleicht vom Leben nicht »abgesondert«?)

Wer sind aber diese Leute der Gegenwart? Archip stammelt etwas von den »Dekadenten«, wir stammeln aber in unserer »intellektuellen« Sprache von »Gottsuchern«.

»Ich habe in der Zeitung ›Das Russische Wort‹ den Aufsatz des Herrn Mereschkowskij über Tjutschew Siehe Anmerkung Seite 9. gelesen. Er interessierte mich lebhaft. Tjutschew war ja im Grunde genommen ein ganz gewöhnlicher Mensch, klein und hager mit zerzaustem Kopf; vielleicht war er sich vieler Dinge gar nicht bewußt, vielleicht war er auch behext. Es gibt solche Menschen, die nichts wissen, die imstande sind, auch ein Menschenherz zu verzehren, und die immer sagen: Auf Erden ist alles erlaubt ... Er nahm das Leben viel zu oberflächlich, hielt es für unnützen, trockenen Kehricht, darum war er auch so zerzaust ...«

Archip staunt am meisten über diese »Zerzaustheit« Tjutschews. Er kehrt zu ihr immer mit einer eigentümlichen spöttischen Zärtlichkeit zurück. Anscheinend hält er auch sich selbst für »zerzaust« im gleichen metaphysischen Sinne. »Zerzaustheit« ist Empörung, Aufruhr, Liebe zum »Chaos«, Dämonismus, Besessenheit.

»Herr Mereschkowskij spricht von den russischen Leuten, die von einem bösen Blick behext sind. Vielleicht bin auch ich einer von diesen. Es ist gewiß so: mein zukünftiges Leben und mein Tod sind ja noch unbekannt,« bemerkt Archip.

Nicht nur sich allein hält er für »behext«: »wenn die Frau des Arbeiters in ihrer Enttäuschung ein Lied singt, so klingt es, wie wenn ihre Seele nach dem Sternenhimmel, nach den weiten Räumen des alten Chaos strebte ... ›O singt mir nicht das grause Lied vom alten Chaos ...‹ Eine Zeile aus einem Tjutschew'schen Gedicht. Anm. d. Ü. Und doch ist es unser ... Es kommt zwar nicht von Christus, ist aber gar nicht schlecht.«

Hier spricht er den Gedanken wieder nicht zu Ende. »Es kommt nicht von Christus,« nicht vom Sohn, vielleicht aber vom Vater? Vielleicht ist es das, was wir im neuen, Goethischen Sinne »dämonisch« also »göttlich« nennen?

Es stellt sich heraus, daß Tjutschew mit seiner »Zerzaustheit«, seinem Aufruhr, seiner Liebe zum Chaos und seinem »Dämonismus« dem Herzen Archips näher ist als Nekrassow.

»Tjutschew fing im Sterben zu leuchten an, vielleicht, weil er das Leben gar nicht schätzte und darin nur trockenen Kehricht sah; seine Haare waren nicht gekämmt sondern zerzaust, als wollte er sagen: das ist mir gleich. Nekrassow hat aber einen Todeskampf bestehen müssen, vielleicht weil er das Leben allzu sehr liebte und sich ganz dem Realen hingegeben hatte; sein Kopf war wohl immer schön gekämmt.«

Das heißt: Tjutschew hatte, wenn auch unbewußt, unreligiös, unchristlich, wenn auch nur heidnisch, alle Mißtöne der Welt, das Chaos im Kosmos, die ganze unendliche Qual, den Todeskampf der Erde, der »kranken Schönen«, auf sich genommen. Nekrassow aber kannte diese Qual nicht, oder wollte sie nicht kennen. Der eine ist ganz auf dieser Welt, der andere ganz auf der andern; die andre Welt ist aber mehr als diese: darum ist auch Tjutschew mehr als Nekrassow, – so lautet, glaube ich, der Gedanke Archips.

Wenn man mit ihm annimmt, daß der metaphysische Aufruhr, die Liebe zum Chaos, der »Dämonismus« (wiederum im alten und neuen, Goethischen Sinne) tatsächlich der russischen Seele eigentümlich sind, so gewinnt die für unsern intellektuellen Blick so unerwartete Wendung von Tjutschew zu Nekrassow eine eigene Bedeutung. Es ist ja die Wendung vom elementar Sozialen zum bewußt oder halbbewußt Persönlichen, vom »Sozialismus« zum »Individualismus«, die Wendung, die heute von der ganzen russischen Intelligenz durchgemacht wird. Hat denn diese Bewegung auch schon diese »realen Menschen« erreicht?

Noch bedeutungsvoller ist folgende Stelle in Archips Brief:

»Herr Mereschkowskij verhöhnt den Revolutionär: lechze nach anderer Labung, sonst ist alles verloren. Wonach strebst du? Nach bürgerlicher Freiheit? Sie ist ja nur eine Fortsetzung dieser Welt und kommt nicht von Gott. Man muß der Sache von einer andern Seite beikommen. Begreife die Wahrheit, und du wirst frei sein, – sagt Christus. Der Revolutionär hat es aber vergessen, es ist wohl zu schwer für ihn. Hätte er es begriffen, so hätte er sich vor dem, wonach er strebte, entsetzt.«

Archip irrt: ich habe nie etwas Ähnliches gesagt, im Gegenteil, ich predige immer, daß man den Revolutionär nicht verhöhnen darf; daß einer, der nach menschlicher Freiheit lechzt, schon den »andern Durst« empfindet; daß für ihn, selbst wenn er es noch nicht weiß, noch immer nichts »verloren« ist und daß man sich darüber gar nicht zu entsetzen braucht: wenn er es heute nicht weiß, so wird er es morgen erfahren.

Und wenn ich den Revolutionär wirklich »verhöhne«, wie kann sich Archip damit einverstanden erklären? Er, der sich erst vor kurzem entsetzt hat, als man seine Freunde »um der Wahrheit willen« verfolgte? Damals hat er sich entsetzt, und heute verhöhnt er selbst? Hat er eingesehen, daß der Glaube vergeblich ist, daß es hier auf Erden keine »Wiedergeburt« gibt? Daß hier alles zu Ende ist?

Wenn sich wirklich alles so verhält, so hat der, der »das Menschenherz verzehrt« und sagt, daß alles erlaubt sei, recht:

Sinn ist nicht in des Schöpfers Werk,
Sinn ist nicht im Gebet ... Aus einem Tjutschew'schen Gedicht. Anm. d. Ü.

Gibt es denn keinen Ausweg aus dem »Todeskampf der Erde«?

Ja, es gibt einen Ausweg, behauptet Archip. »Das Evangelium und auch Herr Mereschkowskij erklären eindringlich (obwohl es viele für lächerlich halten), daß es eine Wiederkunft Christi geben wird, und zwar eine ganz plötzliche.« Daß die Wiederkunft eine »plötzliche« sein wird, daß sie ohne jede Mitwirkung des Menschenwillens und außerhalb jeder historischen Entwicklung kommen wird, ist für Archip heute das Wichtigste, vielleicht sogar das einzig Wichtige.

Die Welt wird auch weiter im Argen, im Tode, im Chaos leben, und plötzlich wird die Wiederkunft Christi hereinbrechen und mit ihr die Umwandlung der Welt, und die andere Welt wird in diese Welt eindringen. Sie dringt auch heute schon in unsere Welt ein und ist in ihr gegenwärtig. »Die Erde ist noch immer dieselbe. Ich bezeuge es: alles ist gut, und selbst das, wovor es uns heute ekelt, ist gut. Alles ist unverständlich, alles ist schlecht, alles ist gut

Und daß man um der Wahrheit willen verfolgt wird, daß es Menschen gibt, die ein Menschenherz verzehren und sagen: »Alles ist erlaubt,« – ist auch das gut? Gehört auch das zu den Dingen, die »zwar nicht von Christus kommen, aber nicht schlecht sind«?

Das erinnert an »die Minuten der ewigen Harmonie« des besessenen Kirillow. In Dostojewskijs »Dämonen«. Wir wissen aber schon, womit das endet.

Die Wiederkunft Christi wird eine »plötzliche« sein. Was sollen wir aber heute tun? Uns beruhigen, die Hände im Schoße zusammenlegen, ruhig sitzen und warten? Das ist ja aber das Tolstoische und allgemein christliche »Nichttun«. Wozu dann der ganze Aufruhr gegen Tolstoi?

Ist das vielleicht unser Unverständnis, für das wir damit gestraft werden, daß »das Evangelium für zweitausend Jahre vor uns versteckt wurde, so daß es niemand kennt«?

Hier ist irgendein Widerspruch, ein Abgrund, ein Fehler nicht nur in der Sprache, sondern auch in den Gedanken Archips. Eine »Besessenheit«, eine »Behextheit«.

Wir möchten glauben, daß nicht wir es waren, die ihn mit unserer »Intellektualität« behext haben, und daß er mit seinen Anschauungen allein dasteht. Fürchterlich ist der Gedanke, daß es viele solche gibt und daß unser Gift schon bis ins Herz des Volkes gedrungen ist.

Ja, es ist unser Gift. Haben wir nicht in diesen sieben Jahren die gleiche Veränderung durchgemacht wie Archip? Haben wir uns nicht auch vom Tolstoischen »Nichttun« losgesagt, doch nicht um eines »Tuns« sondern um eines noch ärgern »Nichttuns« willen? Sind die »büßenden Intellektuellen«, die Leute von den »Wjechi« »Wjechi« (»Grenzpfähle«) ein von Struve und anderen nach der Revolution von 1905 herausgegebenes Sammelbuch, in dem der russischen liberalen Intelligenz die Leviten gelesen werden. Anm. d. Ü. nicht die gleichen Archips? Verhöhnen sie denn nicht auch den Revolutionär mit den Worten: »Das Lechzen nach menschlicher Freiheit kommt nicht von Gott, lechze nach andern Dingen?«

Unsere Erde ist eine »Kranke Schöne«. Ihre Krankheit ist religiöse Kontemplation, Untätigkeit, »Oblomowerei«, »Oblomowerei« (nach dem Helden des »Oblomow« von Gontscharow gebildet) – bekanntes Schlagwort, soviel wie Passivität, Faulheit, Trägheit. Anm. d. Ü. »Archiperei«. Ihr »Todeskampf« ist das ewige Schwanken zwischen Europa und Asien, zwischen Bewegung und Unbeweglichkeit, zwischen Tun und Nichttun.

»Alles ist unverständlich, alles ist schlecht, alles ist gut,« – das ist eine Lossagung von jedem Tun, von der Rettung, von Christus, der in die Welt mit dem Schwerte gekommen ist, um das »Schlechte« vom »Guten« zu scheiden.

Nun vollzieht sich die Umwandlung und Erlösung der Welt, doch nicht ohne Mitwirkung des menschlichen Willens. Wir »neigen immer mit unserem Verstand zur Wahrheit Gottes hin«; mit dem Verstand, doch nicht mit dem Willen.

Wir sind wie der Gichtbrüchige im Teiche Siloah: wir warten immer darauf, daß der Engel das Wasser trübe. Der Gichtbrüchige kann nicht aufstehen, kann aber seine Arme ausstrecken. Und wenn er die Arme nicht ausstrecken kann, so kann er die Augen heben; und wenn er die Augen nicht heben kann, so kann er es tun wollen.

Laßt es uns wollen – nur dann wird Christus unsere Erde, die kranke Schöne, heilen.


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