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»Trocken ist das Holz, unberufen!« flüstern abergläubische Menschen, wenn in ihrer Anwesenheit jemand sagt, daß es einem Kranken wieder besser gehe.
Als wieder einmal ganz abenteuerliche Gerüchte von fabelhaften russischen Siegen verbreitet wurden, hielt es die Heeresleitung für notwendig, die Gesellschaft und die Presse vor allzu großer Leichtgläubigkeit zu warnen. Die Gerüchte fanden tatsächlich großen Glauben. Solche Gerüchte werden leider wohl immer wieder aufkommen und immer wieder Glauben finden!
»Wir werden siegen ... wir siegen ... wir haben schon gesiegt, den Feind vernichtet, zerschmettert ...« Wenn man das liest, möchte man gerne sagen: »Trocken ist das Holz, unberufen! ...«
Es heißt zwar, daß Worte keinen Einfluß auf die Ereignisse haben können. Doch, sie haben wohl einen Einfluß! Das Maß der Worte ist auch das Maß des Fühlens, Denkens und Wollens. In den Worten kein Maß zu wahren, heißt lügen, heißt falsch denken, falsch fühlen, falsch handeln.
Wahnsinniges Selbstvertrauen, wahnsinnige Angst sind zwei Seiten der gleichen Erscheinung. Eine Niederlage ist wohl schwer zu ertragen; ein Sieg aber wohl noch viel schwerer: wie leicht kann man da im Rausche den Kopf verlieren. Daß wir dazu besonders neigen, ist aus vielen Anzeichen ersichtlich.
»Eines Abends ging ich an den Fleischläden vorbei und blieb vor der Kapelle des heiligen Nikola stehen, um ein Gebet zu verrichten, damit ich heil durchkäme: die Fleischhändler halten sich nämlich böse Hunde. Da höre ich bei Jefrossim Iwanowitsch eine Nachtigall schlagen und sehe durch die Spalten zwischen den Brettern ein Lämpchen vor einem Heiligenbilde brennen. Ich blicke durch die Spalte und sehe den Jefrossim Iwanowitsch selbst mit einem Messer in der Hand über einem frisch geschlachteten Stierkalb stehen. Das Stierkalb liegt noch lebend vor seinen Füßen und schlägt mit den Beinen aus; der Kopf hängt noch am halb durchschnittenen Hals, und das Blut fließt in Strömen. In einer dunklen Ecke steht ein anderes Stierkalb und wartet zitternd und brüllend auf das Messer. Über der dampfenden Blutlache hängt aber ein Käfig mit einer Nachtigall, und die Nachtigall schlägt wie besessen. In der Ferne über der Oka dröhnt ein schwacher Donner. Es wurde mir ganz bange zu Mute ...« (»Ein Raub« von Nikolai Ljesskow.) Nikolai Ljesskow (1831–95) bedeutender, heute ziemlich vergessener russischer Schriftsteller. Anm. d. Ü.
Der heutige russische »zoologische« Nationalismus erinnert an diese über der Blutlache schlagende Nachtigall. Das Blut fließt natürlich nicht aus dem Grunde, weil die Nachtigall schlägt; und doch ist es so schrecklich, den Nachtigallenschlag über der Blutlache zu hören.
In einer Zeitung las ich neulich den »Witz« über einen alten kranken Deutschen, den man unmöglich fangen konnte. Er versteckte sich in einem Nachtasyl; als man ihn da aufstöberte, sprang er aus dem Fenster und stürzte sich tot. »Erst in diesem Augenblick wurde man seiner habhaft.«
Der zweite »Witz« handelt von zwei alten deutschen Schwestern, die vom Klavierstundengeben lebten. Sie waren in Rußland geboren und hatten seit vielen Jahren in Petersburg gewohnt. Als die Ausweisung aller deutschen Staatsangehörigen angeordnet war, baten sie um die Erlaubnis, in Gatschina bei Petersburg bleiben zu dürfen. Nach einigen Tagen kam man zu ihnen in die Wohnung mit einem günstigen Bescheid auf ihr Gesuch und fand sie tot vor. Die Armen hatten sich voreilig erhängt: sie hatten wohl genug Nachtigallen über Blutlachen singen hören.
Dieser Gesang ist zwar ekelhaft, aber aufrichtig. Das lügenhafte Geschwätz, das ohrenbetäubende Marktgeschrei sind aber noch ekelhafter. Die heiligsten, schrecklichsten Worte werden so oft mißbraucht, bis sie vollkommen entwertet sind.
Ein neuer, zu kolossalen, »apokalyptischen« Dimensionen ausgewachsener Chljestakow Siehe Anmerkung Seite 47. lügt, was er lügen kann, und die Menschen verschlingen die mit seinen Lügen vergifteten Zeitungsblätter wie Brot.
Vor mir liegt eine Zeitschrift mit patriotischem Titel. Auf der einen Seite des Umschlages ist Rußland in Gestalt eines siegreichen Ritters Georg dargestellt, wie er mit der Lanze einen Drachen durchbohrt; auf der anderen Seite – Deutschland als ein Menschenfresser, der an einem Knochen nagt. Im Leitartikel wird aber erklärt, daß der Krieg »eine Erscheinung von übermenschlicher Ordnung« sei, »ein Sinai, von dessen göttlicher Höhe die Menschheit unter Donnern neue Gesetze empfange«; der Krieg werde »alles heilen und alles lösen«.
In der gleichen patriotischen Zeitschrift richtet ein bekannter Schriftsteller an seine Kollegen, die sich über die »deutschen Greuel« empören und zugleich die anderen Völker vor »nationaler Selbstüberhebung und Gehässigkeit« warnen, die Frage, wer diese anderen Völker seien: ob vielleicht die Russen gemeint seien? Er vergißt, was im vorhergehenden Aufsatz über den »im Herzen der Russen aufgespeicherten Haß gegen die Deutschen« gesagt ist, und erklärt: »zu meinem großen Stolz brauche ich für unser Volk in dieser Beziehung nicht zu fürchten«: »für die Ideen Europas ist Rußland schon längst zu einem zweiten Vaterland geworden, das sie oft dankbarer aufnimmt, als ihr erstes Vaterland«. Das heißt: Rußland ist freier, besser und aufgeklärter als alle Länder Europas. Während alle die anderen Völker »im eigenen Safte schmoren«, haben wir Russen »einen weiten und freien Geist« ... Kein anderes Volk hat so viel »Verständnis für die Schönheit und die wahre Größe« wie wir. »Unser einziger Fehler ist unsere übertriebene Bescheidenheit und unser Mangel an Selbstvertrauen.«
Man kann wohl groß und bescheiden sein. Aber man kann nicht sagen: ich bin groß und bescheiden. Mögen mich die anderen loben. Wenn ich mich selbst lobe, können die anderen sagen: Der leerste Topf gibt den lautesten Klang!
Ein junger Slavophile wies neulich in einem öffentlichen Vortrage mit Berufung auf Dostojewskij nach, daß die Deutschen keine Christen seien: »die echten Christen und Träger des Gottesgedankens sind nur wir Russen«.
»Der Westen hat schon alles gesagt, was er zu sagen hatte. Ex Oriente lux. Nun ist Rußland berufen, die geistige Führung Europas zu übernehmen. Es trägt die schwere Last der Verantwortung für die geistigen Schicksale der Menschheit auf sich,« verkündet Bulgakow. »Es war schon längst die Zeit, so etwas zu sagen!« ruft Rosanow aus, von diesen Worten Bulgakows entzückt.
»Es dämmert ein neuer, vielleicht der letzte Tag der Weltgeschichte,« prophezeit Wladimir Ern. »Nach dem ewigen Plane des Schöpfers hat Rußland mit der Plötzlichkeit eines Wunders die erste Rolle bei der nun beginnenden Weltkatastrophe (d. h. dem Jüngsten Gericht) bekommen. Es wird über die Schicksale der Weltgeschichte entscheiden ... Es muß sich vor der Vorsehung beugen und dem Engel, der mit der frohen Botschaft kommt, antworten: Siehe, ich bin des Herrn Magd, wie du gesagt hast!«
Der vorher zitierte bekannte Schriftsteller kann zufrieden sein: wenn wir bisher an »übertriebener Bescheidenheit« krankten, so befreien wir uns jetzt gänzlich von ihr. Ein anderer, weniger bekannter Schriftsteller behauptet, daß »das ganze deutsche Volk vertiert ist ... Deutschland ist wie eine Wanze, die sich vollgesogen hat ...«
»Außer Goethe, (der aber im heutigen Deutschland erloschen ist) kann man alle Deutschen aus der menschlichen Gemeinschaft hinausjagen,« erklärt Wassilij Rosanow. Daraus zieht er (in der »Nowoje Wremja) folgenden Schluß: »Haue den Deutschen auf die Schnauze mit dem Bajonett, mit der Faust, mit der Peitsche, mit dem Stock, mit jedem Ding, das du zur Hand hast!« Über diesen Ausruf entsetzte sich die »Times« und bemerkte mit Recht, daß »der Plan, sechzig Millionen Menschen hinzumorden zumindest phantastisch ist«.
»Plötzlich ist alles umgefallen; ich kann die plötzliche Änderung des Tones unserer Zeitungen und Zeitschriften gar nicht anders bezeichnen: alle, die gestern westlerisch waren, sind heute slavophil geworden,« erklärt Rosanow tief gerührt.
Ja, alles ist »umgefallen«. Und jedes ruhige Wort erscheint in diesem wilden Chor als Vaterlandsverrat. Man hört nichts als Nachtigallenschlag über Blutlachen.
»Wir waren in der Gewalt einer plötzlichen Sturmflut von Gefühlen, die von keinem Damm der Vernunft eingeengt war. Es war eine maßlose Selbstüberhebung vor den andern Völkern ... Nun ist aber die Frage: welchen Nutzen brachte uns unser Haß gegen sie?« (Erwiderung Wolfgang Heines auf einen Aufsatz Sombarts.)
Das hat ein Deutscher über Deutschland gesagt. Wir wollen hoffen, daß man dasselbe nicht auch von Rußland sagen kann.
Selbstüberhebung ist dem einfachen russischen Volke fremd. Unser Volk ist in der Tat einfach. Daß diese Einfachheit und nicht die sogenannte »Demut« und »Selbsterniedrigung« das Wesen des russischen Geistes ausmacht, kann man an den großen und selbständigen Äußerungen des russischen Wesens wie Puschkin, Tolstoi und Peter den Großen erkennen.
Die Russen »erwiesen sich als die geistigen Sklaven der Deutschen«? Und unsere Erhebung gegen die Deutschen ist nur ein Sklavenaufstand? Das mag bei denen von uns, die von der schrecklichen Pest der nationalen Selbstüberhebung angesteckt sind, der Fall sein; sonst ist es aber eine Verleumdung des russischen Volkes.
»Als Gymnasiast hörte ich von meinem verstorbenen Bruder, daß es unter den Garderegimentern ein spezielles Regiment gäbe, das ausschließlich aus Männern von ungewöhnlicher Körpergröße und abstoßender Häßlichkeit bestünde. Nur einer, der etwas Grausames, Tierisches im Ausdruck und irgendeine Ungeheuerlichkeit in den Augen, in der Nase usw. habe, könne in dieses Regiment aufgenommen werden,« erzählt Rosanow. »Einmal sah ich dieses Regiment; es war ein unendlicher Zug schwerer Reiter ... Riesengroße, kräftige, mißgestaltete Männer ... Nun erlebte ich etwas Seltsames: die übertriebene Männlichkeit, die ich vor mir sah, rief in meiner organischen Struktur irgendeine Veränderung hervor und machte das Männliche in mir zum Weiblichen. Ich spürte auf einmal eine ungewöhnliche Zärtlichkeit, Schläfrigkeit und Ermattung in meinem ganzen Wesen ... Ich hatte den Wunsch, daß die Soldaten noch riesenhafter seien und ihre Zahl noch größer. Mein Herz überfloß von Liebe ... Dieses Gefühl bezog sich auf die ganze Masse, und zwar nicht nur auf die Menschen, sondern auch auf die Pferde (d. h. auf die Tiere: denn auch die Menschen waren Tiere). Diese Kolosse der Physiologie, der Lebenskraft weckten in mir ein ausgesprochen weibliches Gefühl von Willenlosigkeit, Hingebung und ein unüberwindliches Verlangen, möglichst lange in ihrer Nähe zu weilen ... An allen Gliedern bebend, kam ich nach Hause ... Es war mir, als hätte ich eines der Weltgeheimnisse geschaut ... Ich flüsterte: Was ist weibliche Schönheit, ein hübsches Gesichtchen usw.? Kraft – das ist die einzige Schönheit in der Welt ... Vor der Kraft fallen alle nieder, alle beten sie an ... In der Kraft liegt das Geheimnis der Welt ... ebensosehr wie in der ›Vernunft‹, ebensosehr wie in der ›Weisheit‹ ... Vielleicht sogar wie in der ›Heiligkeit‹ ... Nicht das ist ihr tiefstes Wesen, daß sie zerschmettern kann, sondern daß von ihr ein eigentümlicher Zauber ausgeht. Sie zieht alles an. Durch die Kraft hält die Sonne die Erde und alle Planeten auf ihren Bahnen fest: nicht durch ihr Licht, nicht durch ihre Wahrheit, sondern nur dadurch, daß sie riesenhafter als sie alle ist. Riesenhafter und stärker ...
»Mein Kopf war ganz klar, aber mein Herz schlug wie bei einem Weibe ...
»Das Wesen einer Armee besteht darin, daß sie uns alle in schwache, zitternde Frauen verwandelt, die die Luft vor sich umarmen ... Und wir sind beinahe bereit mit den Worten des Hoheliedes zu sprechen: ›Wo ist mein Freund? Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht, ich rief ihn, aber er antwortete nicht‹ ...«
Nun wissen wir, worin das Geheimnis der Welt besteht: nicht in Schönheit, nicht in Güte, nicht in Wahrheit, sondern in Häßlichkeit, in Ungeheuerlichkeit, in Bosheit, in Tierheit. Nun wissen wir, was man als seinen Gott »anbeten« soll. Eine Verkörperung dieses Gottes ist aber der Krieg und der Militarismus.
Das ist vielleicht gar nicht neu: alle Materialisten und Militaristen sagten und taten das gleiche. Neu ist hier nur die Schamlosigkeit.
Das ist es, was unsere Nachtigallen über Blutlachen singen ...