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Der Dekabrist Bulatow

Alexander Michailowitsch Bulatow Eine historische Persönlichkeit. Anm. d. Ü. war einer der Helden von 1812. Bei Smolensk wurde er schwer am Kopfe verwundet und wäre wohl gestorben, wenn seine Soldaten ihn nicht aus dem Feuer getragen hätten. Bei Borodino geriet er so weit in die feindlichen Reihen, daß das ganze Regiment ihn für verloren hielt; er war aber wie durch ein Wunder mit nur sechs Mann von der ganzen Kompagnie am Leben geblieben. Im Jahre 1814 schritt er, mit Wunden bedeckt, mit verbundenem Kopf und dem rechten Arm in der Binde im Triumphzuge der Russen durch Paris, vor dem Kaiser mit der linken Hand salutierend. Die Franzosen riefen: » Vive le brave!« und warfen ihm Blumen vor die Füße. Der Kaiser bemerkte ihn und verlieh ihm den goldenen Tapferkeitsdegen.

In seinem Äußeren erinnerte aber dieser tapfere Soldat an eine Porzellanpuppe: er hatte eine ungewöhnlich weiße Gesichtsfarbe, ungewöhnlich zarte rosige Wangen und ungewöhnlich blaue Augen. Sein Gesicht war nicht ganz symmetrisch: ein Auge stand etwas höher als das andere, und das ganze Gesicht erschien daher ein wenig schief, wie wenn es aus zwei nicht zusammengehörenden Hälften zusammengeklebt wäre. Dies war es wohl, was ihm einen so schweren, seltsamen, beinahe unheimlichen Ausdruck verlieh. Wenn er aber lächelte, wurde sein Gesicht sofort regelmäßig und beinahe schön. In seinem Lächeln leuchtete seine Seele, die einfache und wie eine Degenklinge gerade Soldatenseele.

Nicht umsonst liebten ihn seine Kameraden wie einen Bruder; die Soldaten verehrten ihn und hingen an ihm wie an einem Vater, denn dieser schlichte ungebildete Oberst war ebenso einfach wie sie. Seine ganze Lebensweisheit bestand aus wenigen Sätzen: niemand schmeicheln, immer den geraden Weg gehen, treu und wahrhaftig dem Kaiser und dem Vaterlande in der Front dienen; sein Wort unter allen Umständen halten; die Freunde nicht verraten; die gemeinen Soldaten nicht kränken, »weil auch unter diesen rauhen Mänteln edle Russenherzen pochen«; die Ehre heiliger als das Leben schätzen; und »jeden Augenblick bereit sein, für das Wohl des Vaterlands zu sterben«; keinen Alkohol trinken, Karten aber »höchstens nur mit kleinen Einsätzen« spielen.

Er hatte noch eine Angewohnheit, die ganz außerhalb aller dieser Regeln stand: wenn er nur sah oder hörte, daß ein Starker einen Schwachen beleidigte, bekam er einen Anfall von Raserei, einen »Kinderkrampf«, wie es die Kameraden im Scherze nannten.

Sein Vater war nach fünfzigjährigen treuen Diensten, von Araktschejew Dem allmächtigen, grausamen Kriegsminister unter Alexander I. Anm. d. Ü. verleumdet, in Ungnade gefallen und nach Sibirien verbannt worden. Als der Sohn davon erfuhr, geriet er in Raserei und beschloß »einer Verschwörung beizutreten« (obwohl er damals noch nichts von irgendwelchen Verschwörungen gehört haben konnte), um sich an Araktschejew zu rächen und vielleicht sogar ein Attentat gegen den Kaiser selbst zu versuchen. Dieser wahnsinnige Gedanke verflüchtigte sich zugleich mit dem Anfall der Raserei; aber etwas davon, was er sogar selbst nicht mit Worten hätte ausdrücken können, blieb in ihm zurück.

Im Herbst 1825 bekam Bulatow einen Urlaub von drei Monaten zur Teilung des von seinem Vater hinterlassenen Vermögens, und begab sich aus der Stadt Kerensk im Pensaschen Gouvernement, wo er das 12. Jägerregiment kommandierte, nach Petersburg.

Hier traf er einmal im Theater zufällig Rylejew, Kondratij Rylejew – bedeutender Dichter und einer der Hauptteilnehmer am Dezemberaufstand von 1825. Über ihn, wie auch über den Dekabristen-Aufstand und dessen übrige Teilnehmer findet der Leser viel Interessantes im Roman Mereschkowskij's »Alexander I.« R. Piper & Co, 1913). Anm. d. Ü. mit dem er im I. Kadettenkorps erzogen worden war. Dieser war sonst ein vorsichtiger Mensch; an den Worten oder am Schweigen seines einstigen Freundes fiel ihm aber wohl etwas auf, was ihn bewog, »eine Angel auszuwerfen«. Er nahm Bulatow auf die Seite und teilte ihm »mit leisem Lächeln« mit (dieses Lächeln machte wohl auf Bulatow einen unangenehmen Eindruck, denn er merkte es sich für immer), daß in Rußland schon seit acht oder neun Jahren eine Verschwörung bestehe und daß es »im nächsten Jahre zur Entscheidung kommen werde«.

»Offen gestanden,« berichtete später Bulatow, »glaubte ich ihm nicht und hielt seine Worte nur für Geschwätz, wie es damals unter den jungen Leuten in der Hauptstadt Mode war.«

Es ist auch möglich, daß sein Herz in jenem Augenblick schneller schlug, daß ihm der noch ungerächte Schimpf, den man seinem Vater angetan, in den Sinn kam ...

Er gab Rylejew keine Antwort, kam mit ihm nicht mehr zusammen und vergaß das Gespräch, oder versuchte es zu vergessen. Er beeilte sich, die Erbschaftsangelegenheit zu erledigen, um schneller zu seinem Regiment zurückzukehren.

Am 27. November lief in Petersburg die Nachricht vom Tode des Kaisers Alexander I. ein. Das ganze Land leistete Konstantin I. den Treueid. Der neue Kaiser erließ aber noch immer kein Manifest, und überall verbreiteten sich Gerüchte, daß an der Sache etwas nicht in Ordnung sei und daß Konstantin auf den Thron verzichtet habe. Nun begann das Interregnum.

Von außen sah alles ruhig aus, im Innern aber war das Land in Aufruhr. Hatte Konstantin auf den Thron verzichtet, so mußte Nikolai Kaiser werden. Diesen liebte man aber nicht, man sagte, daß er »böse, rachsüchtig und geizig sei, einem Deutschen gleiche und von Deutschen umgeben sein werde«; am meisten fürchtete man, daß Araktschejew unter Nikolais Regierung am Ruder bleiben und mit seinem Araktschejewschen Geiste Rußland zugrunde richten würde.

Unruhe war unten im Volke, noch mehr aber oben, an den Stufen des Thrones. Aus Petersburg nach Warschau und aus Warschau nach Petersburg jagten in einem fort Kuriere, die Sache wollte sich aber noch immer nicht klären. Die bösen Zungen sagten, daß »die russische Krone heute wie ein Trinkgeld angeboten werde; man werfe sie wie einen Strohreifen, mit dem die Kinder spielen, von einem Kopf auf den andern hinüber«.

Bulatow liebte Nikolai ebensowenig wie alle, die »das Wohl des Vaterlandes wollten«. Was soll nun werden, wenn er wirklich Kaiser wird? »Für Kaiser und Vaterland« – diese Losung hatte für Bulatow bisher immer den einzig richtigen, vollen Klang gehabt; jetzt klang sie aber in seinen Ohren wie ein gesprungenes Glas. Für den Kaiser gegen das Vaterland, für das Vaterland gegen den Kaiser – ist das möglich? Und wenn das möglich ist, wie soll man das eine vom andern scheiden? Was soll man wählen? ...

Am Sonntag den 6. Dezember, am Namenstage Nikolais, war Bulatow beim Oberleutnant des Leibgarde-Grenadierregiments Panow zu Mittag geladen. Die Gesellschaft bestand aus Offizieren, die er zum größten Teil nicht kannte.

Trotz seines Grundsatzes, keinen Alkohol zu sich zu nehmen, mußte er doch trinken: zuerst auf das Wohl der beiden alten Grenadiere, die ihn bei Smolensk aus dem Feuer getragen hatten; dann auf das Wohl des Regiments, bei dem er im Jahre 12 gedient hatte; zuletzt auf die Braut des Gastgebers; auf ihr Wohl trank er sogar aus ihrem Pantoffel.

Nach dem Essen begannen – »sehr freie Gespräche«, in denen, wie Bulatow meinte, die Anwesenden »nur ihren Geist zeigen wollten«. Er rief Panow auf die Seite und bat ihn, die jungen Leute, »die solchen Unsinn schwatzen« und leicht hereinfallen könnten, zu bändigen.

Als Bulatow zu den Gästen zurückkehrte, sprachen sie gerade von Araktschejew. Ein blutjunger Artillerieleutnant versuchte Araktschejew zu verteidigen. Bulatow begann mit ihm zu streiten, kam ins Feuer und warf dem Leutnant einige Grobheiten an den Kopf.

»Ich wünschte nur, mein Herr, daß Sie selbst der Araktschejew wären: dann hätten Sie von mir die Wahrheit zu hören bekommen!« sagte Bulatow, um das Gespräch abzubrechen. Der Leutnant erklärte sich aber bereit, Araktschejew zu sein, und Bulatow erleichterte sich ordentlich das Herz. Der Leutnant fühlte sich wohl gar nicht verletzt und lachte nur. Bulatow verstummte und blickte ihn erstaunt an. Er konnte sich noch immer nicht beruhigen; außerdem hatte er das ungewohnte Gefühl, etwas zu viel getrunken zu haben.

»Als Araktschejew seine Geliebte verlor, vernachlässigte er das Wohl des Vaterlandes,« begann er von neuem. »Ich bin aber der Ansicht, daß ein Mensch, der um das Wohl des Vaterlandes besorgt ist, auch sein eigenes Leben nicht schonen darf ...«

Er sprach immer vom »Wohl des Vaterlandes« und wiederholte diese Worte so hartnäckig und mit solcher Qual, wie wenn er ihren Sinn begreifen wollte und es nicht könnte.

Plötzlich griff er nach einer Pistole, – er wußte nicht, ob sie geladen war oder nicht, und wie sie ihm in die Hand geraten war.

»Freunde,« sagte er, die Mündung der Waffe an seine Schläfe drückend, »wenn das Wohl des Vaterlandes mein Leben erheischte, würde ich sofort sterben!«

»Sie sollen leben! Sie sollen leben!« schrien alle auf. »Ihr Leben ist für das Wohl des Vaterlandes notwendig, besonders bei den jetzigen Umständen ...«

– Was sind das für Umstände? – hätte Bulatow beinahe gefragt, fragte über nicht. Er kam zu sich und fühlte, daß ihm der Kopf nicht nur vom Wein schwindelte. Plötzlich wurde er wieder still und nachdenklich: immer öfter wurde er von einer seltsamen Nachdenklichkeit befallen; es war wie ein Starrkrampf oder eine Ohnmacht.

Er verließ bald die Gesellschaft und fuhr nach Hause. Er hatte auch bis zuletzt nicht verstanden, wie sich die Sache verhielt: er war sanftmütig wie eine Taube, doch nicht so klug wie eine Schlange.

Panow und seine Gäste – lauter Mitglieder der Nordischen Geheimen Gesellschaft – hatten Bulatow nur prüfen wollen, und er hatte die Prüfung bestanden. Die Falle war so geschickt gestellt, daß er gar nicht merkte, wie er in sie geriet; anfangs nur »mit einer Kralle«; aber »wenn die Kralle stecken geblieben ist, ist der ganze Vogel verloren«.

Am nächsten Tage fuhr Bulatow auf Panows Wunsch zu Rylejew, der krank war. Dieser brachte die Rede gleich auf die Verschwörung: er wußte wohl schon von der gestrigen Prüfung.

Bulatow gab ihm wieder, wie damals im Theater, keine Antwort. Rylejew merkte aber an seinem Schweigen und seiner Aufregung, daß er diesmal »angebissen« hatte.

»Als alter Freund konnte ich es vor dir nicht verheimlichen,« sagte er fortfahrend. »Man kennt dich hier als den edelsten Menschen ... An unserm Komplott nehmen nur entschlossene Männer teil ...«

»So muß es auch sein, denn Kleinmütige taugen zu solchen Unternehmungen nicht,« sagte endlich Bulatow, dem nun sein eigenes Schweigen peinlich geworden war.

Seine Worte machten auf Rylejew guten Eindruck.

»Man hat dich hier schon lange erwartet, und dein erstes. Erscheinen zog die Aufmerksamkeit Aller auf sich,« warf er wieder die Angel nach ihm aus.

Das sollte besagen: willst du mit uns sein, ja oder nein?

In diesem Augenblick kam irgendein Besuch. Rylejew bat Bulatow, am nächsten Tag wiederzukommen.

Bulatow hatte nun Zeit, sich die Frage zu überlegen. Um sie zu beantworten, mußte er aber wissen, was »bei den jetzigen Umständen« das Wohl des Vaterlandes verlangte. Das wußte er noch immer nicht. Und je mehr er darüber nachdachte, um so weniger wußte er es. Ob es ihm Rylejew sagen konnte?

Am nächsten Tage wurde das Gespräch fortgesetzt. Rylejew enthüllte ihm das Ziel der Verschwörung: »die Abschaffung der monarchischen Regierung«, d. h. »der Tyrannenherrschaft«.

»Was hat das Vaterland für einen Nutzen davon?« fragte Bulatow.

Rylejew verstand die Frage nicht, oder wollte sie nicht verstehen und begann von der parlamentarischen Regierungsform, vom Zweikammersystem und von Abgeordnetenwahlen zu sprechen. Das war aber gar nicht das, was Bulatow brauchte: er mußte wissen, ob Kaiser und Vaterland eines oder zwei verschiedene Dinge seien; und wenn es zwei Dinge seien, was hätte er dann zu wählen, wie sollte er sein Herz teilen, wie mit dem einen Herzen zwei sich widersprechende Dinge lieben?

Rylejew bekam wieder Besuch.

»Er ist unser!« sagte Rylejew, Bulatow dem Gast vorstellend.

Durch dieses eine Wort »unser« wurde Bulatow in die Verschwörung aufgenommen.

Nun wußte er schon, daß das Ganze doch kein Scherz war, wie er anfangs angenommen hatte. Mit dem Leben treiben die Menschen keinen Scherz. Auch er trieb mit seinem Gewissen und seiner Ehre keinen Scherz. Warum sagte er nicht: »Nein, ich bin nicht der Eurige?« Weil er mit gutem Gewissen weder ja, noch nein sagen konnte und, von Grauen ergriffen, fühlte, daß die Lösung für ihn je dringlicher, um so unmöglicher wurde ...

Von Minute zu Minute erwartete man in Petersburg die endgültige Antwort aus Warschau: wer nun Kaiser sei, Konstantin oder Nikolai?

Am 12. Dezember versammelten sich die Verschwörer abends bei Rylejew. Auch Bulatow, den Rylejew eigens eingeladen hatte, kam hin.

Hier traf er zum ersten Male die führenden Mitglieder der Geheimen Gesellschaft: lauter junge Kompagniechefs und Hauptleute; nur ein einziger Oberst war dabei: der Fürst Trubetzkoi, der zukünftige »Diktator« der Verschwörung. Er schwieg die ganze Zeit und blickte »so hochmütig wie ein echter Monarch«. Dies mißfiel Bulatow, und er fragte sich, ob Trubetzkoi vielleicht an die Kaiserkrone dachte. Er hatte »mehr Ernst« erwartet.

Man sprach wieder vom »Wohle des Vaterlandes«.

»Wie groß sind unsere Kräfte?« fragte Bulatow den Hausherrn.

Dieser erwiderte höchst unbestimmt: »Infanterie, Kavallerie, Artillerie.« Nach der Zahl der anwesenden Hauptleute zu schließen, konnten es aber höchstens sechs Kompagnien sein. Ob Rylejew nicht sie alle betrüge? Bulatow konnte sich noch aus seiner Kadettenzeit erinnern, daß Rylejew ein Mensch war, der einen Brei wohl einzubrocken aber nicht auszulöffeln verstand.

Er merkte aber doch, daß unter den Anwesenden mehr gute als schlechte Menschen waren, und hatte zugleich den Eindruck, daß alle sehr ungern an der Verschwörung teilnahmen, weil sie, ebenso wie er, im Zweifel waren, wo das Wohl des Vaterlandes sei, und sich mit dieser Frage ebenso wie er quälten.

Ohne über diese Hauptfrage einig zu werden, faßten sie einen, nach Bulatows Ansicht »kindischen« Entschluß: falls Konstantin auf den Thron verzichten würde, die Regimenter zu empören und sich auf dem Senatsplatze zu versammeln; »das Weitere würde sich schon von selbst ergeben«. Alle bauten ganz besonders auf Bulatow, der an Jahren älter und im Range höher war und gemeinsam mit dem »Diktator« Trubetzkoi das Kommando übernehmen sollte.

Er widersprach nicht, weil er sich noch immer zu nichts entschließen konnte. Die »guten Menschen« taten ihm leid: wie sollte er sie in diesem Augenblick der Gefahr, die nicht nur ihrem Leben, sondern auch ihrer Ehre und ihrem Gewissen drohte, im Stich lassen?

Er fühlte sich wie ein Soldat, der während der Schlacht plötzlich erblindet ist: er konnte weder kämpfen noch fliehen.

Am gleichen 12. Dezember lief im Winterpalais die Nachricht von der Verzichtleistung Konstantins ein, und für den 14. wurde die Vereidigung der Truppen auf den neuen Kaiser Nikolai I. angesetzt.

Bulatow erfuhr davon aus einem kurzen Billet Rylejews, das mit den drei Worten schloß: »Ehre – Wohl – Rußland.«

Er begriff, daß er sich nicht mehr zu entscheiden brauchte: die Sache entschied sich von selbst.

Am 14. Dezember befand sich Bulatow auf dem Senatsplatze dicht neben dem Kaiser Nikolai Pawlowitsch.

»Ich sah den Kaiser,« berichtete er später in seinen Aufzeichnungen. »Sein Mut gefiel mir. Ich stand höchstens sechs Schritte von ihm entfernt und hatte einen Dolch und ein Paar Pistolen bei mir ... Es tat mir sehr leid, daß ich ihm nicht nützlich sein konnte ... Ich mußte an die Versammlung vom 12. denken, in der beschlossen wurde, den Kaiser zum Wohle des Vaterlandes zu töten. Nun stand ich dicht vor ihm, war vollkommen ruhig und dachte mir, daß ich in eine für mich unpassende Gesellschaft hineingeraten war ... Ich erfuhr, daß Oberst Stürler verwundet worden war, und erschauderte beim Gedanken, daß vielleicht mein unglückseliger Name die Ursache der schweren Verwundung dieses treuen Dieners des Kaisers und Vaterlandes gewesen sein mochte ... Man begann aus Kanonen zu schießen ... Ich stand in ihrer Nähe und ärgerte mich über die Führer der Verschwörung, die, ohne eine Ahnung von militärischen Dingen zu haben, die Menschen zwecklos opferten ... Und als ich hörte, daß ein Offizier des aufrührerischen Moskauer Regiments entwaffnet und in Stücke gehauen wurde, geriet ich in Wut. Wie schändlich so eine Verschwörung auch ist, ich hätte mein Wort doch gehalten, wenn sie mich über die tatsächliche Stärke der Truppen wahrheitsgemäß unterrichtet und vor mir das Wohl des Vaterlands nicht verheimlicht hätten. Vielleicht hätten wir auch dann eine Niederlage erlitten, ich würde aber den letzten Tropfen meines Blutes nicht so billig hergeben ... Als die aufrührerischen Truppen schon zerstreut waren, fuhr ich in höchster seelischer Erregung nach Hause ... Als ich immer wieder hörte, daß die Sache der Aufrührer gut stünde, freute ich mich darüber und bedauerte es zugleich ... Obwohl ich den Kaiser verehrte, wollte ich mich an ihm doch für alle die Wehrlosen, die niedergemetzelt worden waren, rächen ... Ich erfuhr, daß die Artillerie sich weigerte, den Treueid zu leisten; ich ärgerte mich, daß sie den Aufrührern nicht zu Hilfe eilte, und freute mich zugleich darüber, daß sie sich ruhig verhielt. Mein Diener Iwan Ssemjonow hatte irgendwo gehört, daß die Sache um zwölf Uhr von neuem losgehen sollte ... Bevor ich mich zu Bett legte, gab ich den Befehl, ein gesatteltes Pferd für mich bereit zu halten. Bald erfuhr ich aber von dem in unserem Hause wohnenden Hauptmann Poljanskij, daß alles zu Ende sei.«

Bulatow brachte es nicht fertig, sein Herz zwischen Kaiser und Vaterland zu teilen; es spaltete sich aber von selbst. Nun hatte er zwei Herzen: das eine war für den Kaiser, das andere für das Vaterland. Seine größte Qual bestand aber darin, daß er selbst nicht wußte, welcher Bulatow der echte und welcher der Doppelgänger war. Vielleicht gab es auch keinen echten, sondern nur zwei Doppelgänger, die einander zu erwürgen trachteten.

»Am nächsten Tag begab ich mich in das Generalstabsgebäude zur Vereidigung ... Mein Haß gegen den Kaiser wuchs von Stunde zu Stunde ... In höchster Aufregung stürzte ich in den Saal und drängte mich vor. Man las eben das Manifest vor. Ich hörte zu und zitterte. Alle hoben die Hände, und ich tat dasselbe. Alle leisteten den Eid, und auch ich leistete ihn. Nun ist die Vereidigung zu Ende, alle küssen die Heilige Schrift und das Kreuz ... Das ist mein Verbrechen: ich küsse das Evangelium und das Kreuz und schwöre dabei, am Kaiser Rache für meine niedergemetzelten Kameraden zu nehmen. Ich taumelte vor dem Kreuz zurück, fiel beinahe um und wunderte mich, daß niemand es merkte. Jeder, der mich angeblickt hätte, hätte gesagt, daß ich ein Verbrecher sei, wie es auf der Welt noch keinen ähnlichen gegeben habe.«

Das ist der eine Bulatow; hier ist aber der andere:

»Mit diesen Gedanken verließ ich das Generalstabsgebäude. Der Kaiser fuhr zu den Truppen. Er erschien mir gütig und gnädig. Er nickte mir zu, und es schien mir, daß er mir auch zulächelte. Wie konnte ich ihn nur auf Grund der bloßen Gerüchte so hassen?«

In diesem Augenblick würde Bulatow wohl Araktschejews Ausspruch verstanden haben: »Was kümmert mich das Vaterland? Wenn der Kaiser nur am Leben bleibt!«

Es gibt zwei Bulatows, zwei Doppelgänger. Sie wechseln miteinander ab, sie folgen aufeinander so schnell wie die Herzschläge bei schnellem Laufen oder wie die Schwingungen eines Pendels.

Er glaubte verrückt zu werden. Zuweilen war er ganz geistesabwesend.

Nach einem dieser Anfälle von Geistesabwesenheit kam er »mit der schwärzesten Seele« in den kaiserlichen Gemächern des Winterpalais zu sich.

Der Großfürst Michail Pawlowitsch ging auf ihn zu.

»Was wünschen Sie?« fragte er Bulatow mit jener Freundlichkeit, mit der an diesem Tage im Winterpalais alle »Verdächtigen« empfangen wurden.

»Ich muß den Kaiser sprechen,« antwortete Bulatow.

Er war schrecklich anzusehen; sein Gesicht schien mehr als je aus zwei ungleichen Hälften zusammengeklebt zu sein.

Der Großfürst verstand sofort, um was es sich handelte, und ging mit der Meldung zum Kaiser. Bulatow blieb auf seinem Platz stehen.

Jemand schrie plötzlich:

»Stricke her!«

Bulatow erbleichte: er glaubte, daß man ihn binden wolle. Er griff nach dem Dolch und den Pistolen: er hatte sie aber nicht bei sich, hatte sie wohl zu Hause vergessen. Sein Zorn wurde noch größer.

Er hatte sich aber geirrt: die Stricke galten nicht ihm, sondern jemand anderem. An diesem Tage griff man die Aufrührer auf den Straßen auf, führte sie ins Palais, empfing sie hier »mit großer Freundlichkeit«, nahm sie gleich ins Verhör, durchsuchte sie, band sie mit Stricken, legte sie in Ketten und schickte sie auf die Festung.

Jemand sagte zu Bulatow, daß er zum Kaiser gehen solle. Er trat in eine Tür und erblickte Nikolai Pawlowitsch, der ihm entgegenging.

Bis zum letzten Augenblick wußte er nicht, welcher von den Doppelgängern nun sprechen und handeln würde.

Es geschah aber etwas, was er am allerwenigsten erwartet hatte.

»Ich bin ein Verbrecher ... Laß mich erschießen ...« begann er. Plötzlich fühlte er, wie man ihn umarmte und küßte, und wurde starr. Er konnte lange nicht begreifen, wer es war; als er endlich begriff, daß es der Kaiser war, der ihn begnadigte, ihm dankte und ihn seinen »Kameraden« nannte, wurde er von höchstem Grauen ergriffen. In den Armen des Kaisers fiel er beinahe in Ohnmacht ...


Erst in der Festung kam er zu sich.

Er wußte, daß er sterben würde; er hatte sich selbst zum Tode verurteilt: ein Mensch, der solches durchgemacht hat, darf nicht länger leben; er fühlte sich aber ruhig und glücklich: nun konnte er »für Kaiser und Vaterland« sterben.

Die verdammten Doppelgänger waren nun verschwunden. Sein Herz, das ebenso einfach und aufrecht war, wie der Degen eines Soldaten, war in zwei Teile gebrochen. Die kaiserliche Gnade schmolz es, wie der Blitz Eisen schmilzt, und lötete die beiden Stücke zusammen. Nun hatte er wieder ein Herz, mit dem er eines lieben konnte: den Kaiser und das Vaterland.

»Volk, wie ungerecht sind deine Reden! Was wollt ihr für einen Kaiser haben? Sieh nur, Rylejew, was ich für das Wohl des Vaterlandes, das du mir nicht enthüllen wolltest, zu opfern bereit war! Wohin hast du meine Seele geführt? In die ewige Qual ... Der Kaiser hat sie aber erlöst ... Mein Gott, wie danke ich Dir!« betete er, vor Glück weinend.

Er zweifelte nicht, daß die Gnade des Kaisers wie die Gnade Gottes sei. Wenn er einen solchen Verbrecher wie ihn begnadigt hatte, wie sollte er nicht auch alle andern »unschuldigen Verbrecher« begnadigen? Sie waren Verbrecher, weil sie sich gegen ihren Kaiser erhoben; sie waren unschuldig, weil sie es »zum Wohle des Vaterlandes« getan.

»Ich höre sein Engelsherz klopfen ... Wer wagt es zu sagen, daß dieser Kaiser, der den verruchtesten Verbrechern seine Gnade erweist, nicht auch nach der Liebe des Volkes und dem Wohle des Vaterlandes strebt? ... Ich zweifle nicht, daß er alles tun wird ... Von wem soll er aber erfahren, was das Volk braucht?«

Natürlich von ihm, Bulatow. Er hatte geschworen, dem Kaiser »das Murren des Volkes« zu hinterbringen und ihm die ganze Wahrheit zu eröffnen, ohne ihn selbst, noch seine Günstlinge, noch irgend jemand auf der Welt zu schonen.

Er schrieb darüber an den Großfürsten Michail Pawlowitsch unendliche Briefe.

Auf einem dieser Briefe machte der Kaiser mit Bleistift den eigenhändigen Vermerk:

»Man hindere ihn nicht zu schreiben, zu schwatzen und zu lügen soviel er will.«

Groß war das Erstaunen Bulatows, als man ihn eines Tages ins Verhör nahm und ihm eröffnete, daß er vor Gericht kommen würde. Hatte ihn denn nicht der Kaiser selbst begnadigt? Was für ein Gericht steht über der kaiserlichen Gnade?

»Ich bin schuldig, werde aber kein Wort sagen,« antwortete er den Richtern auf alle ihre Fragen; schließlich verstummte er ganz.

Er wartete auf eine Antwort vom Kaiser. Die Antwort kam nicht. Er konnte nicht begreifen, was das zu bedeuten hatte. Wenn er wüßte, daß die andern fünf, denen der Galgen drohte, ebenfalls begnadigt wären, hätte er es begriffen.

Nun wurde er wieder von »schwarzen Gedanken« heimgesucht: Hatte er sich geirrt? Hat ihm der Kaiser verziehen, ihn aber nicht begnadigt? Oder hat er ihn begnadigt, aber nicht verstanden? Das Herz drohte wieder in zwei Stücke zu zerbrechen. Er war erst eben aus der Hölle gekommen und sollte schon wieder in die Hölle hinabgeworfen werden! ...

Schließlich hielt er es nicht aus und verlangte eine Antwort.

»Da ich den Verstand zu verlieren fürchte und es vorziehe, mein Leben zu verlieren, bitte ich Eure kaiserliche Majestät um die allergnädigste Bestätigung des Urteils. Ich muß ein Urteil haben. Ohne Verzeihung nehme ich die Freiheit nicht an ... Ich flehe Eure kaiserliche Majestät an, entweder alle zu begnadigen, oder mich zum Tode zu verurteilen.«

»Il parle comme un fou. Je ne puis pour le moment rien pour lui,« schrieb der Großfürst auf diesen Brief.

Die Lage war tatsächlich schwierig. Was sollte man mit dem »Verrückten« anfangen? Ein schneller Tod wäre wohl für Ihn die einzige Gnade. Man konnte ihn aber doch nicht ohne Gerichtsurteil erschießen lassen, wie er es wollte!

Bulatow fuhr fort, aus seiner Hölle zu schreien. Er flehte nicht mehr um die Begnadigung aller, sondern nur um ein Todesurteil für sich selbst; falls man es ihm versagte, drohte er, Selbstmord zu begehen.

»Ich werde wohl eine Menge verschiedener Todesarten finden können: Messer, Stricke, Hacken, meine Halsbinde und selbst mein Portepee könnten meine Tage verkürzen, ich will aber die Großmut meines Kaisers nicht mißbrauchen ... Also bitte ich Eure Hoheit, das von mir gewählte Todesurteil zu bestätigen und mich unverzüglich erschießen zu lassen.«

Man erschoß ihn nicht, und Bulatow begriff endlich die schreckliche Wahrheit.

»Seit dem 30. dieses Monats (Dezember), als ich mich von der Geringschätzung des Kaisers und Eurer Hoheit überzeugt hatte, begann ich mich auf den von mir erwählten Tod vorzubereiten: durch freiwilligen Hunger Selbstmord zu begehen. Nach meiner Berechnung werde ich am Tage der Erscheinung Christi (6. Januar) mein Leben beschließen, und ich wünsche zum Wohle meines Kaisers und meines Vaterlandes ins Grab zu steigen. Ich habe zur Verteidigung der unschuldigen Verbrecher und zum Wohle des Vaterlandes die Wahrheit gesprochen und werde dadurch meinen ehrlichen Namen wiedererlangen und mein Kreuz nicht schänden.«

Am Tage, den er sich festgesetzt, begann er zu hungern. Nach drei Tagen war er schon sehr schwach, und es war klar, daß er nicht mehr lange leben würde.

Der Großfürst Michail Pawlowitsch hatte ein gutes Herz. Er besuchte Bulatow in der Festung und bemühte sich, ihn umzustimmen und zu überreden; als er aber sah, daß alles vergebens war, fing er an, mit ihm wie mit einem Verrückten zu sprechen: er versprach ihm, seine Bitte zu erfüllen, wenn er das Abendessen zu sich nehmen wollte. Bulatow ging darauf ein, obwohl er dem Großfürsten nicht recht traute.

»Ich gab Eurer kaiserlichen Hoheit das Wort, heute zu Abend zu essen, und ich habe es gehalten. Nun erwarte ich, daß auch Eure Hoheit das Wort halten und heute mein Todesurteil bestätigen werden ... Am 6. Januar, am Tage der Erscheinung Christi nehme ich keine Gnade mehr an und ich schwöre, daß ich, falls morgen mein Schicksal sich nicht entscheiden wird, seine kaiserliche Majestät und Eure kaiserliche Hoheit in allen Dingen anlügen und betrügen werde.« Lüge für Lüge, Betrug für Betrug.

Am 5. Januar hatte Bulatow noch immer keine Antwort, und am 6., am Tage der Erscheinung Christi, begann er wieder zu hungern.

Er wollte vor dem Tode beichten und kommunizieren, aber man erlaubte es ihm nicht. Man hoffte noch immer, daß er zur Vernunft kommen würde. Er wurde aufs strengste überwacht. Man bemitleidete ihn und quälte ihn. Man setzte ihm die schmackhaftesten Speisen und die erfrischendsten Getränke vor. Er rührte aber nichts an, nagte an seinen Fingern und sog aus ihnen Blut, um seinen Durst zu stillen.

Man hatte ihm wohl einigemal gewaltsam Speisen eingeflößt, denn seine Qualen dauerten länger, als er es erwartet hatte: ganze zwölf Tage.

So streng die Aufsicht auch war, gelang es ihm doch, die Wächter zu überlisten. Am 18. Januar abends, als einer von ihnen hinausgegangen oder eingeschlafen war, zerschmetterte sich Bulatow den Kopf an der Wand.

Man brachte ihn sofort ins Spital. Am Morgen des nächsten Tages, dem 19. Januar, gab er den Geist auf. Ob P. Pjotr Myslowskij, der Beichtvater aller für die Verschwörung vom 14. Dezember Verurteilten ihm noch das heilige Abendmahl gereicht hatte? Es ist wohl anzunehmen, daß der gutmütige Priester dieses Vergehen auf sich nahm.

War Bulatow ein »Wahnsinniger«? Kann die menschliche Qual vielleicht eine solche Grenze erreichen, daß, der, der sie erduldet, einem jeden, der sie noch nicht erfahren hat, als »wahnsinnig« erscheint? Jedenfalls waren die Worte, die er in seinen letzten Augenblicken sprach, gar nicht wahnsinnig.

»Jeder Christ, der sein Kreuz hat, muß es tragen, denn auch unser Heiland trug das Kreuz, das ihm sein Vater auferlegt.«

Die Schuld an seinem Tode nahm er auf sich und machte niemand dafür verantwortlich: »Ich verfluche den Tag nicht, an dem ich in die Verschwörung hineingeraten bin. Nein, ich segne diesen Tag und danke meinem alten Freund Rylejew.«

Auch die übrigen Verschwörer möchte er »wie Freunde umarmen«. Seinen ärgsten Feind Araktschejew bittet er um Verzeihung: »Nachdem ich mich an ihm für seinen Haß gegen das russische Volk gerächt habe, bitte ich ihn um Verzeihung und danke ihm dafür, daß sein Name allein mich bewogen hat, der Verschwörung beizutreten.« Den Kaiser entband er von dem Versprechen, ihn zu begnadigen.

So starb dieser Wahnsinnige.


Unter den »unschuldigen Verbrechern« des 14. Dezembers gab es wohl viele geistig stärkere und freiere Männer; es gab aber unter ihnen niemand, der reineren Herzens gewesen und mehr gelitten hätte als Bulatow.

»Bis zu meinen letzten Atemzügen liebe ich mein Vaterland und das russische Volk und sterbe für ihr Wohl den qualvollsten Tod.«

Das sagte er und das tat er.


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