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Wenn man nachts erwacht und sich sagt »Es ist Krieg!«, steigt im Herzen Grauen auf. Ob man Kriege überhaupt führen darf, welchen Sinn dieser Krieg hat und wie man ihn rechtfertigen kann, – wie wir diese Fragen auch beantworten, das Grauen läßt sich durch nichts verscheuchen.
Die Menschenfresserei erschien einst allen als etwas Natürliches. Die Menschen aßen Menschenfleisch, ohne sich dabei den Kopf zu zerbrechen, ob man es essen darf oder nicht. Mit der Zeit hörten sie auf, es zu essen, nicht weil sie sich irgendwelche Skrupeln machten, sondern einzig aus dem Grunde, weil ihnen das Menschenfleisch nicht mehr schmeckte. Und wenn heute jemand versuchen wollte, wieder Menschenfleisch zu essen, so würde ihn wohl das gleiche Schicksal ereilen wie die Gefährten Don Juans, die nach dem Schiffbruch, von Hunger gepeinigt, einen Menschen töteten und verzehrten: sie wurden verrückt – » went raging mad«.
Die Menschen halten den Krieg noch immer für etwas Natürliches, und sie führen Kriege, ohne sich zu fragen, ob man es tun darf oder nicht. Sie werden einmal aufhören es zu tun, ebenfalls ohne viel nachzudenken, wenn sie der Kriege einmal überdrüssig geworden sind. Dieser Überdruß macht sich schon jetzt bemerkbar. Leonardo da Vinci nennt den Krieg den »tierischsten Wahnsinn« ( bestialissima pazzia); Tolstoi sagt über den Krieg solche Wahrheiten, wie sie vor ihm noch niemand gesagt hat. Was in den wenigen Großen zum Ausbruch kommt, finden wir auch bei vielen Geringen: da hat ein russischer Soldat einen Österreicher verwundet, ihn dann aus der Schlacht getragen und ist, als der Österreicher seinen Wunden erlag, vor Mitleid und Grauen wahnsinnig geworden.
Unsere Empörung über die angeblichen »deutschen Greuel« gleicht der Empörung der Menschenfresser über solche, die das Menschenfleisch halbroh verzehren. Es ist besser, man ißt es ohne Empörung. Je schlimmer, um so besser: so wird man um so schneller des Krieges überdrüssig werden. Der Mensch kann in diesem Kriege nicht länger Mensch bleiben: er muß verlieren. Man sagt, daß in diesem Kriege selbst die Pferde bissig geworden sind: die Menschen stecken die Tiere mit ihrer eigenen Tierheit an.
Die Augen schließen, sich abwenden, das Schreckliche fliehen – das ist die erste Regung des Menschen, der eingesehen hat, was der Krieg ist. Man kann ihm aber gar nicht entfliehen: ob wir wollen oder nicht, wir sind alle im Kriege, wir sind die Mörder und die Opfer, die Menschenfresser und die Gefressenen.
Der Einzelne kann dem Kriege nicht entrinnen. Alle sind an ihm schuld und alle müssen Buße tun. Einer, der sich allein abwendet und sich die Hände wäscht, begeht vielleicht eine größere Sünde, als wenn er zugleich mit allen am Kriege teilnimmt.
Der heilige Kassian und der heilige Nikola kamen einmal zu Gott ins Paradies.
»Wo bist du gewesen, heiliger Kassian?« fragte Gott.
»Ich war auf der Erde. Ich traf zufällig einen Bauern, der mit seinem Wagen im Schmutz stecken geblieben war. Er bat mich, ihm zu helfen, den Wagen herauszuziehen; ich wollte aber mein paradiesisches Kleid nicht beschmutzen und ging weiter.«
»Und wo hast du dich so schmutzig gemacht, heiliger Nikola?«
»Auch ich war auf der Erde. Ich ging den gleichen Weg und half dem Bauern, den Wagen herauszuziehen.«
»Höre, Kassian,« sagte Gott: »zur Strafe dafür, daß du dem Bauern nicht geholfen hast, sollst du nur einmal in vier Zähren deinen Namenstag haben. Und du, Nikola, weil du dem Bauern geholfen hast, – zwei Namenstage im Jahre.«
Der Wagen der Menschheit ist in Blut und Schmutz stecken geblieben. Wir dürfen nicht teilnahmslos vorbeigehen und die Reinheit unserer paradiesischen Kleider schonen. Wir müssen helfen, den Wagen herauszuziehen, und wenn wir uns auch dabei mit Blut und Schmutz beflecken.
Daß auch im Kriege etwas Gutes steckt, sehen heute alle ein. Die Welt ist schon einmal so eingerichtet, daß um den Preis eines großen Übels zuweilen eine große Wohltat erkauft, wird. Der Satan dient Gott aus Versehen; der Mensch muß aber trotzdem zwischen Gott und Satan wählen.
Eine der »Wohltaten« des Krieges ist die Erkenntnis des Volkes. Wir glaubten immer an das Volk; heute brauchen wir nicht mehr zu glauben: wir sehen und kennen es. Nicht daß das Volk tapfer ist, ist so wunderbar, sondern daß es, trotz aller Versuche, aus ihm ein Tier zu machen, seine Menschlichkeit, das Ebenbild Gottes in sich wahrt. Das Goldgestein war von Erde und Rost bedeckt. Da schlug aber das Schwert ein, und das Gold erstrahlte in seiner ganzen Pracht. Das goldene Herz des Volkes!
Noch erstaunlicher ist die Erkenntnis dessen, was wir bisher mit Verachtung das europäische »Spießbürgertum« nannten. Dieser Krieg bedeutet höchstwahrscheinlich das Ende der alten »spießbürgerlichen« Ordnung und den Anfang einer neuen, noch unbekannten. Man muß zugeben, daß dieses Ende nicht ohne Größe ist. Wenn der Anfang des »spießbürgerlichen« Europas in der Großen Revolution schön war, so ist sein Ende in diesem Großen Kriege nicht weniger schön. Das goldene »Spießbürgerherz«!
Das Ende des »Spießbürgertums« ist das Ende des Individualismus, der vermeintlichen, unreligiösen Bejahung der Persönlichkeit.
»Heute ist nur eines von beiden möglich: entweder man zieht in den Krieg oder flüchtet sich in sich selbst,« sagte einer der letzten russischen »Individualisten« zu mir.
Das ist natürlich eine Selbsttäuschung: man kann sich gar nicht vor dem Krieg in sich selbst flüchten, denn der Krieg ist nicht nur um uns herum, sondern auch in uns selbst. Gerade in diesem Kriege, der keine Führer, keine Helden, keine Persönlichkeiten kennt, tritt die Kleinheit des einzelnen und die Größe aller besonders klar zutage.
Darin steckt eine Wahrheit, aber auch eine Lüge, oder die Gefahr einer Lüge. Der Krieg ist die Dämmerung der Persönlichkeit, und zwar nicht nur der vermeintlichen, sondern auch der echten. Von Byron bis Ibsen, von Dostojewskij bis Nietzsche hat der spießbürgerliche Individualismus die religiöse Frage von der Persönlichkeit noch immer nicht beantwortet, diese Frage aber zu einer so brennenden gemacht, wie sie es noch niemals war. Eine Antwort auf diese Frage – ist das, was Europa, nicht von diesem Kriege, sondern von dem, was nach diesem Kriege kommen wird oder kommen kann, erwartet.
Und was erwartet davon Rußland?
Für Rußland gibt es zwei Möglichkeiten.
Die eine ist die Versklavung: der Sieg des tierischen Nationalismus und Militarismus, der schrecklicher wäre als jede Niederlage. Fast alles, was heute getan und gesagt wird, zielt darauf hin; fast alles Blut, das heute fließt, ist Wasser auf diese Mühle. Darf man dann den Sieg wünschen? Ist der innere Feind nicht schlimmer als der äußere?
Die andere Möglichkeit ist die Befreiung. Wir alle hoffen, daß das Volk in diesem Kriege – und wenn auch noch unbewußt – irgendeine Wahrheit sucht, und daß diese Wahrheit die »Erneuerung« Rußlands bedeuten wird. Die Hoffnung allein genügt aber nicht: man muß dieser Möglichkeit vorarbeiten, man muß den plötzlichen elementaren Ausbruch im Bewußtsein fixieren. Die russische Intelligenz ist Rußlands Bewußtsein. Heute darf sie sich weniger als je von sich selbst lossagen.
Wer glaubt heute nicht an alles, was man nur will, und oft mit wahnsinnigem, beinahe verbrecherischem Leichtsinn? Billig ist der Glaube geworden, teuer der Zweifel. Der Zweifel und das Bewußtsein sind »Erkundungsflugzeuge« über dem feindlichen Lager. Wir dürfen die Zweifel nicht fürchten, wir dürfen nicht unsere eigenen Flieger abschießen.
»Krieg dem Kriege«, »Krieg für den Frieden« – diese Worte sind leer, und noch schlimmer als leer: verlogen, solange der Nationalismus in tierischer Gestalt herrscht. Wir sehen ihn nur an unseren Feinden. Laßt uns ihn auch an uns selbst sehen!
Die Überwindung des Krieges ist die Überwindung des Nationalismus. Das Christentum verneint nicht die Gewalt, sondern überwindet sie und »lebt sie aus sich hinaus«. Die religiöse Antinomie der Gewalt, die Antinomie des Krieges: »man darf nicht und muß« Krieg führen, »man darf nicht und muß« töten – ist in der positiven Ebene unlösbar. Die Aufgabe der russischen Intelligenz, des russischen Bewußtseins besteht nun in der Überführung der Frage vom Kriege aus der positiven in die religiöse Ebene, wo diese Antinomie ihre Lösung findet: »man darf nicht und muß nicht«.
Wenn dieser Krieg der »Krieg der ganzen Welt« ist, so ist sein Ende der »Friede der ganzen Welt«.
»Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt.«
Die Welt wollte ihren eigenen Frieden, ohne Christus geben, und nun sehen wir, was sie uns gegeben hat. Diese Lektion müssen wir uns merken.
Der Friede der ganzen Welt ist der letzte Friede, die letzte Befreiung. Den großen befreienden und religiösen Sinn – nicht des Krieges (denn der Krieg hat keinen religiösen Sinn), sondern dessen, was nach dem Kriege kommen wird oder kommen kann, dem Volke klar zu machen, – das ist die Aufgabe des russischen Bewußtseins.
»Solange kein Donner kracht, bekreuzigt sich der Bauer nicht.« Nun hat aber der Donner gekracht, und der Bauer hat sich bekreuzigt. Bekreuzigen wir uns nun auch. Das Volk wird auf uns nicht hören und wird uns nicht folgen, solange wir es nicht getan haben.
Die Deutschen sagen: Religion ist »Privatsache«. Wohin diese Bejahung der vermeintlichen religiösen Persönlichkeit, des religiösen Individualismus führen kann, sehen wir heute. Die Religion ist aber keine »Privatsache«, sondern eine allgemeine, wohl die allgemeinste von allen menschlichen Angelegenheiten.
Was hat das Christentum, was hat Christus als das Grundprinzip einer religiösen Menschengemeinschaft zu bedeuten? – solange wir diese Frage nicht beantwortet haben, werden wir auch nicht sagen können, was Rußland von diesem Kriege zu erwarten hat.