Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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VII.

Als Blumentrost am nächsten Morgen den Kranken untersuchte, mußte er staunen: das Fieber war verschwunden, und die Wunden hatten sich geschlossen; die Besserung war so plötzlich gekommen, daß sie wie ein Wunder erschien.

»Nun, Gott sei Lob und Dank,« freute sich der Deutsche. »Bis zur Hochzeit wird er nun ganz gesund werden!«

Diesen ganzen Tag über fühlte sich der Zarewitsch recht wohl, und der Ausdruck einer stillen Freude wich nicht von seinem Gesicht.

Um die Mittagsstunde verkündete man ihm das Todesurteil.

Er hörte es ruhig an, bekreuzigte sich und fragte, an welchem Tage die Hinrichtung vollzogen werden sollte. Man antwortete ihm, daß der Tag noch nicht festgesetzt sei.

Man brachte ihm das Mittagessen. Er aß mit gutem Appetit. Dann bat er, das Fenster zu öffnen.

Der Tag war frisch und sonnig wie im Frühjahre. Der Wind brachte den Duft von Gras und Wasser herbei. Dicht unter dem Fenster der Kasematte wuchs in den Ritzen der Festungsmauer gelber Löwenzahn.

Er blickte lange Zeit zum Fenster hinaus; draußen flogen Schwalben mit lustigen Schreien vorbei; durch das Gefängnisgitter hindurch erschien der Himmel so blau und so tief, wie er es in der Freiheit niemals ist.

Gegen Abend beleuchtete die Sonne die weiße Mauer am Kopfende seines Bettes. Und wieder glaubte er, in diesen Strahlen den schlohweißen Greis mit dem jugendlichen Gesicht, dem stillen Lächeln und dem sonnengleichen Kelch in den Händen zu sehen. Und während er ihn anblickte, schlief er so ruhig und so süß ein, wie er lange nicht geschlafen hatte.

Am nächsten Tage, Donnerstag, den 26. Juni, um acht Uhr früh waren in der Garnisonsfolterkammer wieder der Zar, Menschikow, Tolstoi, Dolgorukij, Schafirow, Apraxin und die übrigen Minister versammelt. Der Zarewitsch war so schwach, daß man ihn aus der Kasematte in die Folterkammer tragen mußte.

Man befragte ihn wieder: »Was hast du noch auf dem Herzen? Hast du jemanden falsch beschuldigt oder einen Mitverschworenen verschwiegen?« Aber er antwortete nicht mehr.

Man zog ihn auf die Wippe. Wieviel Knutenschläge er bekam, wußte niemand. Man schlug ihn ohne zu zählen.

Nach den ersten Schlägen wurde er plötzlich ganz still, hörte zu stöhnen und zu ächzen auf, nur seine Muskeln spannten sich an, als ob sie erstarrt wären. Das Bewusstsein schien ihn aber nicht verlassen zu haben. Sein Blick war klar und sein Gesicht ruhig, obwohl in dieser Ruhe etwas lag, das selbst diejenigen, die gewohnt waren, Torturen zu sehen, mit Grauen erfüllte.

»Man darf ihn nicht weiter schlagen, Majestät!« raunte Blumentrost dem Zaren zu. »Er kann noch sterben. Es ist auch zwecklos. Er fühlt nichts mehr: es ist die Katalepsie . . .«

»Was?« Der Zar blickte seinen Leibarzt erstaunt an.

»Katalepsie ist ein Zustand . . .« begann dieser deutsch zu erklären.

»Du bist selbst eine Katalepsie, Dummkopf!« unterbrach ihn Peter und wandte sich von ihm ab.

Der Scharfrichter hielt einen Augenblick inne, um Atem zu holen.

»Was schläfst du? Haue zu!« rief der Zar.

Der Scharfrichter fing wieder an zu schlagen. Aber dem Zaren kam es vor, als ob er mit Absicht die Wucht der Knutenschläge abschwäche, weil ihn der Zarewitsch dauerte. Peter glaubte, in den Gesichtern aller Anwesenden Mitleid und Empörung zu lesen.

»Hau zu!« schrie er wieder. Er sprang auf und stampfte voller Wut mit den Füßen. Alle blickten ihn entsetzt an: man glaubte, er sei von Sinnen. »Hau zu, mit voller Kraft, sage ich dir! Oder hast du es verlernt?«

»Ich haue ja. Wie soll ich denn anders hauen?« brummte Kondraschka in den Bart und hielt wieder inne. »Nach russischer Art hauen wir, bei den Deutschen haben wir es nicht gelernt. Wir sind rechtgläubige Christenmenschen. Es ist gar nicht schwer, sich eine Sünde auf die Seele zu laden. Man kann einen leicht zu Tode schlagen. Er atmet ja kaum, der Ärmste! Er ist doch kein Vieh, sondern ein Christenmensch!«

Der Zar lief auf den Scharfrichter zu.

»Warte nur, du Teufelssohn, ich werde dich selbst so durchhauen, daß du es lernst!«

»Lehre es mich, Zar, lehre mich, ich bin ja in deiner Gewalt!« erwiderte der Scharfrichter und sah den Zaren finster an.

Peter entriß die Knute den Händen des Scharfrichters. Alle stürzten sich auf den Zaren, um ihn zurückzuhalten, aber es war schon zu spät. Er holte mit der Knute aus und schlug den Sohn mit aller Kraft. Seine Schläge waren ungeschickt, doch so furchtbar, daß sie alle Knochen zermalmen konnten.

Der Zarewitsch wandte sich nach seinem Vater um und blickte ihn so an, als ob er ihm etwas sagen wollte. Dieser Blick erinnerte Peter an den Blick des dunklen Antlitzes unter der Dornenkrone auf der alten Ikone, vor der er einst zu dem Vater mit Umgehung des Sohnes betete. Vor Entsetzen bebend, fragte er sich: »Was soll das bedeuten: der Sohn oder der Vater?« Und wieder war es ihm, als ob sich vor seinen Füßen ein Abgrund auftäte und ihm daraus ein kalter Hauch entgegenwehte, vor dem sich seine Haare sträubten.

Er beherrschte sich, holte noch einmal mit der Knute aus, fühlte aber an seinen Fingern das Blut, das an der Knute klebte und warf sie angeekelt von sich.

Alle scharten sich um den Zarewitsch, nahmen ihn von der Wippe und legten ihn auf den Fußboden.

Peter ging auf seinen Sohn zu.

Der Zarewitsch lag da, den Kopf in den Nacken zurückgeworfen; seine Lippen waren halb geöffnet und schienen zu lächeln; sein Gesicht war heiter, rein und jung wie bei einem fünfzehnjährigen Knaben. Er blickte den Vater wieder so an, als ob er ihm etwas sagen wollte.

Peter kniete nieder, beugte sich zum Sohn herab und umschlang seinen Kopf mit den Händen.

»Es ist nichts, es ist nichts, mein Teurer!« flüsterte der Zarewitsch. »Mir ist wohl, alles ist gut. Gottes Wille geschehe in allen Dingen.«

Der Vater drückte seine Lippen an die des Sohnes. Dieser war aber ganz schwach und sank wie leblos in seinen Armen hin; seine Augen wurden trübe, sein Blick erlosch.

Peter erhob sich schwankend.

»Wird er sterben?« fragte er den Leibarzt.

»Vielleicht lebt er noch bis zum Abend,« erwiderte Blumentrost.

Alle liefen auf den Zaren zu und führten ihn aus der Folterkammer fort.

Peter war plötzlich ganz schwach, still und gehorsam wie ein Kind geworden: er ging, wohin man ihn führte, und machte alles, was man von ihm verlangte.

Im Vorraum der Folterkammer bemerkte Tolstoi, daß die Hände des Zaren blutig waren. Er ließ ein Waschbecken bringen, und der Zar wusch sich gehorsam die Hände. Das Wasser färbte sich rosa.

Man führte ihn aus der Festung, setzte ihn in eine Schaluppe und brachte ihn ins Palais.

Tolstoi und Menschikow wichen nicht von seiner Seite. Um ihn abzulenken und zu zerstreuen, sprachen sie von allen möglichen Dingen. Er hörte ihnen ruhig zu und gab vernünftige Antworten. Er faßte Beschlüsse und unterschrieb Papiere, später konnte er sich aber nicht mehr erinnern, was er in diesen Stunden getan hatte, als ob er diese Zeit im Traume oder in einer Ohnmacht verbracht hätte. Er erwähnte den Sohn mit keinem Worte und schien ihn ganz vergessen zu haben.

Doch um die sechste Abendstunde meldete man Tolstoi und Menschikow, daß der Zarewitsch im Sterben liege, und sie mußten es dem Zaren mitteilen. Er hörte die Meldung zerstreut an, als verstünde er gar nicht, worum es sich handelte. Dennoch stieg er wieder in die Schaluppe und fuhr nach der Festung.

Man hatte den Zarewitsch aus der Folterkammer in die Kasematte getragen und aufs Bett gelegt. Er war nicht wieder zum Bewußtsein gekommen.

Der Zar und die Minister traten in das Zimmer des Sterbenden. Als sie erfahren hatten, daß er noch nicht mit den heiligen Sakramenten versehen war, begannen sie unruhig und ratlos hin und her zu laufen. Schließlich schickte man nach dem Protopopen der Kathedrale, dem P. Georgij. Dieser kam ganz außer Atem, mit ebenso erschrockenem Ausdruck, wie ihn die andern hatten, herbeigelaufen, holte aus dem Ciborium die heiligen Sakramente hervor, nahm dem Zarewitsch die stille Beichte ab, murmelte die Absolutionsgebete, ließ dann den Kopf des Sterbenden hochheben und hielt ihm den Kelch und den Löffel dicht vor die Lippen. Seine Lippen und Zähne waren aber zusammengepreßt. Der goldene Löffel stieß klirrend an die Zähne und zitterte in der Hand des P. Georgij. Das heilige Blut tropfte auf das Beichttuch. Alle Gesichter drückten Entsetzen aus.

Durch das gefühllose Gesicht Peters huschte plötzlich ein zorniger Gedanke.

Er ging auf den Priester zu und sagte ihm:

»Laß es, es ist nicht nötig.«

Und dem Zaren kam es vor, als ob der Sterbende ihm zum Abschied zulächelte.

Um die gleiche Stunde wie am vorigen Tage beleuchtete die Sonne an der gleichen Stelle, am Kopfende des Zarewitsch die weiße Mauer. Der schlohweiße Greis hielt in den Händen den sonnengleichen Kelch.

Die Sonne erlosch. Der Zarewitsch holte tief Atem wie ein einschlafendes Kind.

Der Leibarzt befühlte seinen Puls und flüsterte Menschikow etwas ins Ohr. Dieser bekreuzigte sich und verkündete feierlich:

»Seine Hoheit der Zarewitsch Alexej Petrowitsch ist im Herrn entschlafen.«

Alle bis auf den Zaren knieten nieder. Er blieb unbeweglich. Sein Gesicht war lebloser als das des Verstorbenen.


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