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Peter der Große.
Peter war früh aufgestanden, »selbst die Teufel sind noch nicht erwacht,« brummte der verschlafene Kammerlakai, der den Ofen einheizte. Ein schwarzer Novembermorgen blickte durchs Fenster herein. Der Zar saß beim Scheine eines Talglichtstummels mit Nachtmütze, Schlafrock und einem vorgebundenen Lederschurz bekleidet vor der Drehbank und drechselte aus Bein einen Kronleuchter für die Peter-Pauls-Kathedrale als Dank für die Heilung, die durch den Gebrauch von Stahlwasser bewirkt worden war; dann schnitzte er aus finnländischem Birkenholze einen kleinen Bacchus mit einer Traube, der den Deckel eines Pokals zieren sollte. Er arbeitete mit solchem Eifer, als ob er sich damit sein tägliches Brot verdienen müßte.
Um halb fünf erschien der Kabinettssekretär Alexej Wassiljewitsch Makarow. Der Zar stellte sich an das ›Betpult‹ – es war eigentlich ein sehr hohes Schreibpult aus Nußbaumholz, das einem Manne von mittlerem Wuchse bis an den Hals reichte, und begann ihm einen Ukas über die Kollegien zu diktieren, die in Rußland auf den Rat von Leibniz ›nach dem Muster und Beispiel andrer politischer Staaten‹ eingerichtet werden sollten.
»Ebenso wie in einer Uhr ein Rad durch das andere bewegt wird,« hatte der Philosoph dem Zaren gesagt, »so muß auch in der großen Staatsmaschine ein Kollegium das andere in Bewegung setzen; und wenn alles in richtigem harmonischen Verhältnisse eingerichtet ist, so wird der Lebenszeiger dem Lande lauter glückliche Stunden zeigen.«
Peter liebte die Mechanik, und der Gedanke, den Staat in eine Maschine zu verwandeln, reizte ihn. Aber was im Geiste leicht erschien, erwies sich in der Tat als recht schwierig.
Die Russen verstanden und liebten die neuen Kollegien nicht. Der Zar ließ sich aus dem Auslande Gelehrte und ›in der Rechtswissenschaft erfahrene Männer‹ kommen. Diese erledigten die Geschäfte durch Vermittlung von Dolmetschern. Dies war sehr unbequem. Nun schickte man junge russische Kanzleischreiber nach Königsberg ›zur Erlernung der deutschen Sprache, damit sie später in den Kollegien Verwendung finden könnten‹; ihnen wurden auch eigene Aufseher beigegeben, die aufzupassen hatten, ›daß sie nicht bummelten‹. Aber die Aufseher bummelten samt den Beaufsichtigten. Der Zar erließ den Ukas: ›Die Kollegien haben nach dem Muster des schwedischen Statuts ein in Paragraphen angeordnetes Reglement für die Führung sämtlicher Angelegenheiten zu verfassen; sollten sich aber einzelne Paragraphen des schwedischen Reglements als unbequem oder der Situation unseres Staates nicht entsprechend erweisen, so sind solche nach eigenem Ermessen fortzulassen.‹ Dieses eigene Ermessen war aber nicht vorhanden, und der Zar ahnte, daß in den neuen Kollegien die Geschäfte auf die gleiche Weise besorgt werden würden wie in den alten Kanzleien. ›Alles ist vergebens‹, dachte er, ›solange man bei uns nicht den direkten Nutzen der Krone erkennt, was auch in hundert Jahren kaum zu erhoffen ist.‹
Der Kammerlakai meldete den Übersetzer des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten, Wassilij Koslowskij, an. Ein blasser junger Mann von schwindsüchtigem Aussehen trat ins Zimmer. Peter suchte unter seinen Papieren und übergab ihm ein durchstrichenes, mit vielen Bleistiftnotizen am Rande versehenes Manuskript, – ein Traktat über die Mechanik.
»Es ist schlecht übersetzt, korrigiere es.«
»Eure Majestät!« stammelte Koslowskij, stotternd vor Angst, »der Verfasser des Buches gebraucht einen solchen Stil, daß man ihn schwer verstehen kann, denn er schreibt mit vielen Abkürzungen und Symbolen, indem er weniger auf den Nutzen für die Menschheit, als auf die Subtilität seines philosophischen Stils bedacht ist. Bei der Unzulänglichkeit meines Verstands ist es mir unmöglich, ihn zu verstehen.«
Der Zar belehrte ihn mit großer Geduld: »Du brauchst nicht auf die Erhaltung eines jeden Wortes des Originals in deiner Übersetzung bedacht zu sein, sondern sollst erst den Sinn des Ganzen erfassen und ihn dann mit eigenen Worten verständlich wiedergeben. Dabei sollst du nur darauf achten, daß bei der Übersetzung nichts Wesentliches verloren geht; um den Stil hast du dich aber nicht zu bekümmern, damit das Ganze nicht müßiger Schönheit diene, sondern wirklich nützlich sei. Du sollst auch alle überflüssigen Abschweifungen fortlassen, die nur zeitraubend sind und dem Leser jede Lust zum Lesen nehmen. Auch sollst du nicht im geschraubten kirchenslawischen Stile schreiben, sondern in einfacher russischer Sprache. Wende keine hochtrabenden Ausdrücke an, sondern bediene dich der Worte, die in der Kanzlei für auswärtige Angelegenheiten üblich sind. Schreibe ebenso einfach wie du sprichst, hast du mich verstanden?«
»Zu Befehl, Eure Majestät!« antwortete der Dolmetscher wie ein Soldat auf ein Kommando und ließ den Kopf traurig hängen; ihm war wohl das Schicksal seines Vorgängers im Amte am Kollegium für auswärtige Angelegenheiten, Boris Wolkow, eingefallen, der beim Übersetzen des französischen Buches über Gärtnerei ›Le jardinage de Quintiny‹ dermaßen verzweifelte, daß er sich aus Furcht vor dem Zorn des Zaren die Adern öffnete.
»Nun geh mit Gott. Zeige deinen ganzen Eifer. Und sage Awramow, daß der Druck in den neueren Büchern viel dicker und unsauberer sei als in den älteren. Die Buchstaben B und P soll er ändern lassen; sie sind zu fett geschnitten. Auch sind die Einbände schlecht: er heftet die Bände viel zu fest, und darum stehen die Deckel auseinander. Man muß die Bände ganz locker heften.«
Als Koslowskij gegangen war, fiel Peter der Traum Leibnizens von einer allgemeinen russischen Enzyklopädie ein, ›einer Quintessenz des Wissens, wie sie noch nicht dagewesen ist‹, von der Petersburger Akademie, dem ›höchsten Kollegium gelehrter Staatsmänner mit dem Zaren an der Spitze‹ und vom zukünftigen Rußland, das Europa in den Wissenschaften zuerst überholen und dann führen würde.
»Die Schnepfe hat es noch weit zum Petritag!« sagte sich der Zar mit bitterem Lächeln. »Bevor man Europa das Licht der Aufklärung bringen kann, muß man erst selbst lernen, russisch zu sprechen und zu schreiben, Bücher zu drucken und zu binden und Papier zu machen.«
Er diktierte folgenden Ukas: ›In allen Städten und Kreisstädten sind auf den Straßen die Leinwandlumpen und Fetzen zu sammeln und in die Petersburger Kanzlei zu schicken; den Einsendern sind acht Groschen für das Pud auszubezahlen.‹ Diese Lumpen waren für die Papierfabriken bestimmt.
Nun folgten Ukase über das Schmelzen des Talges, über Verbesserungen in der Herstellung von Bastschuhen und über die Zurichtung des Juchtens zu Stiefeln: »da das zu Schuhwerk bestimmte Juchtenleder, welches mit Teer zugerichtet ist, leicht rissig wird und bei Nässe Wasser durchläßt, ist statt des Teeres Tran zu benützen.«
Er warf einen Blick auf die Schiefertafel, die er nachts am Kopfende seines Bettes hängen hatte, um beim Erwachen die ihm während der Nacht in den Sinn gekommenen neuen Verordnungen aufzuzeichnen. In der letzten Nacht hatte er darauf folgendes aufgeschrieben: »Wo ist der Dünger zu lagern? – Persien nicht vergessen. – Von den Bastgeflechten.«
Er befahl Makarow, den Brief des Gesandten Wolynskij über Persien vorzulesen.
»Hier hat man einen solchen Dummkopf zum Staatsoberhaupt, wie man einen zweiten nicht nur unter den gekrönten Häuptern, sondern auch unter einfachen Leuten kaum finden kann. Gott hat diesen Thron dem Untergange geweiht. Obwohl es uns unser jetziger Krieg mit den Schweden verbietet, muß ich doch, wenn ich die Schwäche dieses Staates sehe, sagen, daß wir ohne große Armee, mit einem einzigen kleinen Corps den größten Teil Persiens annektieren können, wozu der jetzige Zeitpunkt besonders geeignet erscheint.«
Peter diktierte eine Antwort an Wolynskij und befahl ihm, einen Kaufmann den Fluß Amu-Darja hinauf zu schicken, damit er den Wasserweg nach Indien erforsche, alles beschreibe und eine Karte anfertige; ferner befahl er, ein Schreiben an den Großmogul und an den Dalai-Lama von Tibet zu verfassen.
Der Weg nach Indien, die Verbindung Asiens mit Europa, war der alte Traum Peters.
Schon vor zwanzig Jahren wurde in Peking eine griechisch-orthodoxe Kirche der heiligen Sophia, der Allweisheit Gottes, errichtet. »Le czar peut unir la Chine avec l'Europe – Der Zar kann China mit Europa verbinden«, hatte Leibniz prophezeit. »Durch die Eroberungen des Zaren in Persien wird ein viel mächtigeres Reich geschaffen werden, als es das Römische war«, warnten die auswärtigen Diplomaten ihre Souveraine. »Der Zar trachtet wie ein zweiter Alexander nach der Eroberung der ganzen Welt«, sagte der Sultan.
Peter entfaltete die Karte des Erdballs, die er einmal, als er über die zukünftigen Geschicke Rußlands nachdachte, eigenhändig entworfen hatte; die westliche Hälfte war mit »Europa« bezeichnet, die südliche mit »Asien«, und der ganze Raum vom Kap Tschukotskoj bis zum Njemen und von Archangelsk bis zum Ararat trug die Inschrift »Rußland« in ebenso großen Buchstaben wie »Europa« und »Asien«. »Man irrt,« pflegte er zu sagen, »wenn man Rußland ein Reich nennt; es ist ein Weltteil.«
Mit gewohnter Willensanstrengung kehrte er aber sofort wieder vom Traume zur Wirklichkeit, vom Großen zum Kleinen zurück.
Er begann neue Ukase zu diktieren: über die geeigneten Ablageplätze für Dünger; über den Ersatz der Säcke aus Bastgeflecht für den Schiffszwieback durch Säcke aus Pferdehaaren und für Graupen und Salz durch Fässer oder Leinensäcke (»Säcke aus Bastgeflecht dürfen aber nirgends mehr verwendet werden«); über die Ersparung von Bleikugeln beim Schießunterricht der Soldaten; über die Erhaltung der Wälder; über das Verbot, Särge aus ausgehöhlten Baumstämmen anzufertigen (»Särge dürfen nur aus Brettern zusammengenagelt werden«); daß man sich einen englischen Sarg als Muster kommen lassen soll.
Er blätterte in seinem Notizbuche, um nachzusehen, ob er nicht etwas Wichtiges vergessen hätte. Die erste Seite des Notizbuches trug die Inschrift: »In Gottes Namen«. Dann folgten die verschiedenartigsten Notizen; zuweilen waren lange Gedankengänge mit nur zwei oder drei Worten angedeutet:
»Von einer Erfindung, durch die man viele Geheimnisse der Natur aufdecken kann.
»Einige schlau erdachte Versuche. Wie man brennendes Naphta mit Vitriol auslöschen kann. Wie man Hanf in Salpetersäure kocht. Das Rezept der Herstellung von Schläuchen zu Feuerspritzen ist zu kaufen.
»Für die Bauern ein kleines Kompendium über die Religion zu verfassen und es in den Kirchen zur Belehrung vorlesen zu lassen.
»Von den Findelkindern und ihrer Erziehung.
»Von der Einführung des Walfischfanges.
»Vom Verfall der griechischen Monarchie infolge Mißachtung des Krieges.
»Französische Zeitungen kommen zu lassen.
»Von der Anwerbung guter Komödianten in Deutschland gegen hohen Lohn.
»Von den russischen Sprichwörtern. Vom russischen Lexikon.
»Von Geheimnissen der Chemie und der Untersuchung der Erze.
»Wenn man die Naturgesetze für vernünftig hält, wie soll man dann erklären, daß die einen Tiere die andern auffressen und daß wir ihnen so viel Leid zufügen?
»Von den neueren und älteren Prozessen gegen die Atheisten.
»Ein Gebet für die Soldaten zu verfassen: Großer, ewiger, heiliger Gott usw.«
Das Tagebuch Peters erinnerte an die Tagebücher Leonardo da Vincis.
Um sechs Uhr morgens begann er sich anzukleiden. Beim Anziehen eines Strumpfes bemerkte er ein Loch. Er setzte sich hin, nahm eine Nadel und einen Knäuel Wolle zur Hand und machte sich an die Arbeit. Während er über den Weg nach Indien auf den Spuren Alexanders des Großen nachdachte, stopfte er seine Strümpfe.
Dann trank er Anisschnaps, aß eine Bretzel dazu, steckte sich die Pfeife an, verließ das Palais, setzte sich ins Kabriolet, an dem, da es noch finster war, eine Laterne brannte, und fuhr nach der Admiralität.