Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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IV.

Obwohl draußen sonniger Tag war, herrschte im Zimmer eine Dunkelheit wie bei Nacht, und es brannten Kerzen. Kein einziger Strahl drang durch die dicht mit Filz abgeschlossenen und mit Teppichen verhangenen Fenster. In der stickigen Luft roch es nach Weihrauch und Rosenwasser, dem Räucherwerk, das man des Duftes wegen in die Ofenlöcher zu legen pflegte. Zahllose Truhen, kleine und große Schränke, Koffer, Schatullen, Kisten, eisenbeschlagene Laden, von Bändern aus verzinntem Eisenblech umspannte Köfferchen mit schrägen Deckeln und Kasten aus Zypressenholz verstellten das Zimmer. Alle diese Kisten und Kasten waren mit Pelzen, Kleidern und »weißem Gute« – Wäsche – vollgepfropft. In der Mitte des Zimmers stand das Bett der Zarin unter einem zeltförmigen Betthimmel aus ponceaurotem Atlas mit grüngoldenem Blumenmuster; die Bettdecke war aus türkischem Goldbrokat mit Zobelfutter und Hermelinbesatz. Alles war sehr prunkvoll, aber alt, abgerieben, halb vermodert, so daß man den Eindruck hatte, es müsse alles bei einer Berührung mit der frischen Luft wie der Moder des Grabes zu Staub zerfallen. Durch die offene Türe konnte man in das Nebenzimmer sehen: es war das Kreuzzimmer, ganz vom Lichte der Lampen übergossen, die vor den mit Gold und Silber verzierten, edelsteinbesetzten Ikonen brannten. Allerlei Heiligtümer wurden in diesem Zimmer aufbewahrt: Kreuze, Panagien, zusammenlegbare Heiligenbilder, Kästchen, Schächtelchen und Schreine mit Reliquien; Myrrhen, Weihrauch, wundertätiger Honig und Weihwasser in Wachsgefäßen; Kassia auf flachen Schalen; vom Patriarchen geweihtes Chrisam in Bleigefäßen; vom Himmelsfeuer entzündete Kerzen; Sand vom Jordan; Teilchen vom brennenden Dornbusch Mosis und von der Eiche von Mamre; Milch der allerreinsten Muttergottes; der blaue Stein, »auf dem Christus in der Luft gestanden hatte«; ein anderer Stein in einem tuchenen Futteral »von großem Wohlgeruch, aber woher der Stein ist, weiß niemand«; Fußlappen des heiligen Pafnutij von Borow; ein Zahn des heiligen Antipius des Großen, der gegen Zahnschmerzen hilft und den Iwan der Grausame aus der Hinterlassenschaft des von ihm ermordeten Sohnes geraubt hatte.

Vor dem Bette saß auf einem vergoldeten Sessel, der wie ein Zarenthron aussah und an der Rückenlehne mit einem geschnitzten Doppeladler und einer Krone geschmückt war, die Zarin Marfa Matwejewna. Obwohl der grüne Kachelofen mit verzierten Vorsprüngen und Gesimsen stark geheizt war, hüllte sich die beständig frierende kranke Alte in ein mit Blaufuchs gefüttertes Wams aus roter Baumwolle. Vom goldenen Stirnblech fielen Perlengehänge auf die Stirn herab. Das Gesicht war nicht alt, aber steinern und wie tot; es war nach der alten Sitte der Moskauer Zarinnen stark gepudert und geschminkt, wodurch sie noch mehr Ähnlichkeit mit einer Leiche hatte. Etwas Leben zeigten nur ihre durchsichtig grauen Augen, obwohl der Blick unbeweglich wie bei einer Blinden war: so blicken Nachtvögel bei Tag. Zu ihren Füßen saß auf dem Boden ein Mönch und erzählte.

Als der Zarewitsch mit seiner Tante ins Gemach trat, begrüßte sie Marfa Matwejewna freundlich und lud sie ein, der Erzählung des frommen Pilgers zuzuhören. Der Pilger war ein kleiner Greis mit kindlichem, sehr vergnügtem Gesichtsausdruck; auch seine hohe Stimme war freudig, singend und angenehm. Er erzählte von seinen Wallfahrten und vom Klosterleben auf dem Berge Athos und auf der Ssolowetzkijinsel, wobei er dem griechischen Kloster vor dem russischen den Vorzug gab.

»Jenes Kloster auf dem Berge Athos heißt ›Garten der allerheiligsten Muttergottes‹. Die allerreinste Mutter schaut auf ihn immer vom Himmel herab, sie sorgt für ihn und behütet ihn. Und durch ihre Hilfe besteht der Garten und blüht und bringt seine Frucht, eine äußere und eine innere Frucht; die äußere ist schön von Aussehen und die innere rettet die Menschenseelen. Und niemand, wer in diesem Garten wie in die Vorhalle des Paradieses kommt und seine Güte und Schönheit erblickt, wird ihn je wieder verlassen wollen. Die Luft ist dort leicht, und die Höhe der Hügel und Berge, die Wärme und das Licht der Sonne, die Mannigfaltigkeit der Bäume und Früchte und die Nähe des ersehnten Landes, Jerusalems, erzeugt eine ewige Freude. Doch auf der Ssolowetzkij-Insel herrscht Trauer und Angst, Erbitterung und Finsternis und eine Kälte wie in der Hölle. Es gibt auf jener Insel etwas, was der Seele Schaden tut: es leben auf ihr zahllose weiße Vögel, die man Möwen nennt. Sie vermehren sich den ganzen Sommer über, sie brüten ihre Jungen und bauen sich ihre Nester an den Wegen, auf denen die Mönche zur Kirche gehen. Und diese Vögel sind für die Mönche ein großes Ärgernis. Erstens kommen sie um ihre Ruhe. Und zweitens verlieren sie, wenn sie die sich zankenden, spielenden und sich paarenden Vögel sehen, die Keuschheit ihrer Gedanken und verfallen in Leidenschaft. Und drittens wird dieses Kloster oft von Frauen, Mädchen und Nonnen besucht. Auf dem Berge Athos gibt es aber diese Versuchung nicht: weder fliegen dort Möwen herum, noch kommen Weiber hinein. Als einziges Weib wohnt in jener süßesten Öde die auf zwei Adlerflügeln schwebende heilige Kirche, solange es der Herr will und bis die Zeiten sich erfüllen, die er in seiner Allmacht festgesetzt hat. Ihm allein sei Ehre in alle Ewigkeit. Amen.«

Als er mit seiner Erzählung fertig war, bat die Zarin alle, selbst Marja, aus dem Zimmer zu gehen und blieb mit dem Zarewitsch allein.

Sie kannte ihn fast gar nicht, sie wußte nicht mehr, wer er sei und wie er mit ihr verwandt sei; selbst seinen Namen hatte sie vergessen und nannte ihn einfach Enkel; sie liebte ihn aber, hatte mit ihm ein seltsames, ahnungsvolles Mitleid, als ob sie bereits sein Schicksal kennte, das ihm selbst noch unbekannt war.

Sie sah ihn lange mit dem hellen, unbeweglichen Blick ihrer wie bei einem Nachtvogel verschleierten Augen an. Dann lächelte sie plötzlich traurig und begann ihm mit der Hand Wange und Haar zu streicheln.

»Mein armer Junge! Hast weder Vater noch Mutter. Und niemand kann dich in Schutz nehmen. Die wütenden Wölfe werden das Lämmchen zerreißen, die schwarzen Raben werden das weiße Täubchen mit den Schnäbeln erschlagen. Solches Mitleid habe ich mit dir, mein Kind. Du hast nicht mehr lange auf dieser Welt zu leben . . .«

Diese wahnsinnigen Worte der letzten Zarin, die hier in Petersburg als ein jämmerliches Gespenst des alten Moskau erschien, der modernde Prunk, das stille warme Zimmer, in dem die Zeit still zu stehen schien, – all das hauchte den Zarewitsch mit der Kälte des Todes an und gemahnte ihn zugleich an die Liebkosungen seiner frühesten Kindheit. Ein trauriges und eigentümlich-süßes Gefühl bedrückte ihm das Herz. Er küßte die leichenblasse, abgemagerte Hand mit den feinen Fingern, von denen die schweren altertümlichen Zarenringe herabfielen.

Sie ließ den Kopf sinken und saß wie in Gedanken da, mit den Korallenperlen ihres Rosenkranzes spielend – vor den Korallen flieht der böse Geist, »da die Korallen in Form des Kreuzes wachsen«.

»Alles kommt durcheinander, es wird von Tag zu Tag schlimmer!« begann sie wieder wie im Traume mit wachsender Unruhe. »Hast du es in der Schrift gelesen, Enkel: ›Kinder, es ist die letzte Stunde; und wie ihr gehöret habt, daß er kommt, daher erkennen wir, daß die letzte Stunde ist‹? Das ist von ihm, dem Sohn des Verderbens, gesagt. Schon steht er vor der Tür. Bald erscheint er. Ich weiß nicht, ob ich es noch erlebe, ob ich meinen Herzensfreund, meine herrliche Sonne, den frommen Zaren Fjodor Alexejewitsch wiedersehen werde, wenn ich doch wenigstens mit einem Auge sehen könnte, wie er in Kraft und Herrlichkeit kommt und die Ungläubigen besiegt, und sich auf den Thron der Majestät setzt, und alle Völker der Erde sich vor ihm verneigen und rufen: ›Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!‹«

Ihre Augen leuchteten; bald darauf überzogen sie sich wieder mit dem früheren trüben Schleier, wie glühende Kohlen mit Asche.

»Nein, ich erlebe es nicht, ich werde ihn nicht mehr sehen! Ich habe mich vor Gott versündigt . . . Mein Herz ahnt Unheil. So übel ist es mir, Enkel, so furchtbar übel . . . Ich habe auch immer so böse, unheildrohende Träume . . .«

Sie sah sich ängstlich um, brachte ihre Lippen ganz nahe an sein Ohr und flüsterte:

»Weißt du, Enkel, was mir neulich geträumt hat? Er selbst erschien mir, ob im Traume oder in einem Gesicht, das weiß ich nicht. Er kam aber zu mir, es war niemand anderes als er!«

»Wer denn, Zarin?«

»Verstehst du mich nicht? Höre also, was für einen Traum ich neulich hatte; vielleicht wirst du es dann verstehen. Es träumte mir, als läge ich auf diesem selben Bett und wartete auf etwas. Und plötzlich ging die Türe auf, und er trat herein. Ich erkannte ihn sofort. Groß gewachsen war er, kräftig, aber mit einem kurzen deutschen Röckchen bekleidet; im Munde hielt er eine Pfeife und qualmte; das Gesicht rasiert, der Schnurrbart wie bei einer Katze. Er ging auf mich zu, sah mich an und schwieg. Auch ich schwieg und dachte mir, was wohl kommen sollte. Und es war mir so übel, so traurig zumute wie in der Sterbestunde . . . Ich wollte mich bekreuzigen, konnte aber die Hand nicht heben; wollte ein Gebet sprechen, aber die Zunge versagte. So lag ich wie tot da. Er nahm meine Hand und befühlte sie. Wie Feuer und Frost überlief es mir den Rücken. Ich blickte auf das Heiligenbild, doch das Heiligenbild erschien mir in verschiedenen Gestalten: als ob es nicht das reine Antlitz des Heilands wäre, sondern ein gottloser Deutscher mit blauer, geschwollener Fratze wie bei einer Wasserleiche. Er sagt mir aber: ›Du bist krank, Marfa Matwejewna, schwer krank. Willst du, daß ich dir meinen Arzt schicke? Und warum starrst du mich so an? Erkennst du mich denn nicht?‹ – ›Wie soll ich dich nicht erkennen,‹ sage ich ihm. ›Ich kenne dich gut. Habe ich denn wenig deinesgleichen gesehen?!‹ – ›Wer bin ich denn?‹ sagt er. ›Sag, wenn du es weißt.‹ – ›Es ist bekannt, wer du bist,‹ sage ich. ›Ein Deutscher bist du, der Sohn eines Deutschen, ein Soldat, ein Trommler bist du.‹ – Er grinst und faucht mich an wie ein besessener Kater. ›Du bist verrückt, Alte,‹ sagt er mir, ›ganz verrückt! Ich bin kein Deutscher und kein Trommler, sondern der gottgesalbte Zar Allrußlands, deines eigenen verstorbenen Mannes Fjodor Stiefbruder.‹ – Da wurde ich aber böse. Ich konnte ihm ins Gesicht spucken und ihm sagen: ›Ein Hund bist du und eines Hundes Sohn, ein Betrüger wie Grischka Otrepjew, ein Anathema bist du!‹ – Aber was soll ich mich mit ihm herumzanken? Mag er zum Teufel gehen. Es ist nicht der Mühe wert, auf ihn zu spucken. Das Ganze ist ja nur ein Traum, ein böses Gesicht, das mir Gott gesandt hat. Wenn ich ihn anblase, verschwindet er ja auf der Stelle. ›Und wenn du der Zar bist,‹ sage ich ihm, ›wie heißt du dann mit deinem Namen?‹ – ›Mein Name ist Peter,‹ sagt er mir. – Wie er den Namen ›Peter‹ nannte, ging mir ein Licht auf. Ach so, denke ich mir, der bist du also! Warte nur. So dumm bin ich nicht: wenn ich mit der Zunge nichts sagen kann, so will ich in Gedanken eine heilige Beschwörung sprechen: ›Feind und Satan! Fliehe von mir in öde Stätten, in finstere Wälder, in die Abgründe der Erde, in die tiefsten Meere, in wilde, unbewohnte, menschenleere Gebirge, wohin das Licht vom Antlitze Gottes niemals dringt! Verruchte Fratze! Entweiche vor mir in den Tartarus, in die finsterste Hölle, ins tiefste Fegefeuer. Amen! Amen! Amen! Zerfalle! Ich blase und spucke dich an.‹ Kaum hatte ich diese Beschwörung gesprochen, als er auch wirklich verschwand, wie in die Erde war er versunken, – nichts blieb von ihm zurück, als der Gestank von Tabak. Ich erwachte, und Wachramejewna kam herbeigelaufen. Sie besprengte mich mit Weihwasser und beräucherte mich mit Weihrauch. Ich stand auf, ging ins Betzimmer, fiel vor dem Bilde der allerreinsten Muttergottes von Blachtosnä nieder; und als ich mich an alles erinnerte, begriff ich erst, wer es gewesen war.«

Der Zarewitsch hatte längst begriffen, daß sein Vater sie besucht hatte, und zwar gar nicht im Traume, sondern in Wirklichkeit. Zugleich fühlte er, wie das Delirium der Irrsinnigen auf ihn überging und ihn ansteckte.

»Wer war es denn, Zarin?« fragte er mit ängstlicher Neugierde.

»Begreifst du es nicht? hast du vergessen, wie es im Buche Ephräm des Syrers ›Von der Wiederkunft Christi‹ heißt? ›Im Namen des Simon Petrus wird der hochmütige Fürst dieser Welt erscheinen, der Antichrist.‹ Hast du es gehört? Sein Name ist Peter. Er ist es!«

Sie richtete auf ihn ihre vor Schreck weit geöffneten Augen und wiederholte keuchend:

»Er ist es. Peter – Antichrist . . . der Antichrist!«

 


 


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