Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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V.

Der Moskauer Prozeß war am 15. März beendet. Das Schicksal der Angeklagten war durchs den Urteilsspruch des Zaren und der Minister auf dem Generalshofe von Preobrashenskoje besiegelt worden:

Die Zarin-Nonne Jelena ist ins Kloster von Alt-Ladoga und die Zarewna Marja nach Schlüsselburg zu verbannen und beide sind streng zu bewachen. Awraam Lopuchin ist bis zu einer neuen Untersuchung nach Petersburg in die Peter-Paulsfestung zu bringen. Die übrigen sind hinzurichten.

Am gleichen Morgen begannen auf dem Roten Platze die Hinrichtungen. Am vorhergehenden Tage hatte man die eisernen Spitzen, auf denen während zwanzig Jahren die Köpfe der im Jahre 1698 enthaupteten Strelitzen gesteckt hatten, gereinigt, um neue Köpfe aufzunehmen.

Stepan Gljebow wurde gepfählt. Der eiserne Pfahl drang ihm am Nacken wieder aus dem Körper. Unten war ein Brett zum Sitzen angebracht. Damit er nicht erfriere und sich länger quäle, wurde ihm ein Pelzmantel angezogen und eine Pelzmütze aufgesetzt. Drei Priester wachten bei ihm abwechselnd Tag und Nacht, ob er nicht vor dem Tode etwas gestehen würde, »von der Stunde an,« meldete der eine von ihnen, »als Stepan auf den Pfahl gesetzt worden war, hat er seinen Lehrern nichts gebeichtet; er bat nur einmal nachts im geheimen den Mönch Markell, er möchte ihm das heilige Abendmahl reichen, wenn es gelänge, es ihm unbemerkt zu bringen; und er spie seine Seele aus in der Nacht auf den 16. März im zweiten Viertel der achten Stunde.«

Der Bischof von Rostow, der Ex-Priester Demid, wurde gerädert. Man erzählte sich, daß der Sekretär, der mit dieser Hinrichtung betraut worden war, sich geirrt hätte: statt den Bischof zu köpfen und die Leiche zu verbrennen, habe er ihn rädern lassen.

Kikin wurde gleichfalls gerädert. Man marterte ihn langsam, mit Unterbrechungen: Man brach ihm nacheinander die Arme und die Beine, und die Tortur dauerte über vierundzwanzig Stunden, seine Qualen waren besonders schrecklich, weil man ihn so fest ans Rad gebunden hatte, daß er kein Glied rühren konnte und nur stöhnte und jammerte und um den Tod flehte. Man erzählte sich auch, daß der Zar, als er am Morgen an Kikin vorbeiritt, sich zu ihm gebeugt und ihn gefragt habe: »Alexander, du bist doch ein verständiger Mensch, wie konntest du dich zu einer solchen Sache entschließen?« – »Mein Verstand liebt die Freiheit, du engst ihn aber ein,« hätte ihm Kikin geantwortet.

Als dritter wurde der Beichtvater der Zarin, der Sakristan Fjodor Pustynnyj gerädert, weil er sie mit Gljebow zusammengeführt hatte.

Wer nicht hingerichtet wurde, dem wurden die Nase und die Zunge abgeschnitten oder die Nasenflügel aufgerissen, viele, deren einziges Vergehen darin bestand, daß sie von der Einkleidung der Zarin gehört und sie später im weltlichen Gewande gesehen hatten, wurden grausam mit Stöcken geschlagen.

Auf dem Platze war eine sechs Ellen hohe viereckige Säule aus weißem Stein errichtet; an allen Seiten ragten an ihr eiserne Spitzen heraus, auf die man die Köpfe der Hingerichteten steckte; oben auf der Säule war ein großer flacher Stein angebracht, auf dem die Leichen lagen; die Leiche Gljebows war halb aufgerichtet, so daß er wie im Kreise von Mitverschworenen zu sitzen schien.

Der Zarewitsch mußte allen diesen Hinrichtungen beiwohnen.

Als letzter wurde Larion Dokukin gerädert. Auf dem Rade erklärte er, daß er dem Zaren noch etwas zu eröffnen habe; man band ihn vom Rade und brachte ihn nach Preobrashenskoje. Als der Zar zu ihm herantrat, lag er schon im Sterben und phantasierte etwas Unverständliches von dem kommenden Christus. Dann kam er für einen Augenblick zur Besinnung, blickte dem Zaren in die Augen und sagte:

»Zar, wenn du deinen Sohn hinrichten läßt, so wird dieses Blut über dein ganzes Geschlecht kommen, von Haupt zu Haupt bis zum letzten der Zaren. Erbarme dich deines Sohnes, erbarme dich Rußlands!«

Peter ging schweigend fort und befahl ihn zu köpfen.

Am Tage nach den Hinrichtungen, dem Vorabend der Abreise des Zaren nach Petersburg fand in Preobrashenskoje die »Tagundnachtversammlung« des Allertrunkensten Narrenkonzils statt.

In diesen blutigen Tagen beschäftigte sich Peter, ebenso wie einst bei der Hinrichtung der Strelitzen, wie überhaupt an den finstersten Tagen seines Lebens, eifriger als je mit dem Narrenkonzil. Er schien sich absichtlich durch Lachen betäuben zu wollen.

Vor kurzem war an Stelle des verstorbenen Nikita Jotow ein neuer Fürst-Papst, Peter Iwanowitsch Buturlin, der frühere »Sankt Petersburger Metropolit« erwählt worden. Die Wahl des »Bacchusgleichen Vaters« war in Petersburg, und die Ordination in Moskau gerade vor der Ankunft des Zarewitsch vorgenommen worden.

Nun stand in Preobrashenskoje die Einkleidung des neuerwählten Papstes mit dem Ornate und der Tiara, eine Parodie auf die Einkleidung eines Patriarchen, bevor.

Der Zar hatte während des Moskauer Prozesses Zeit gefunden, selbst das ganze Zeremoniell auszudenken und niederzuschreiben.

Die »Tagundnachtsitzung« fand in dem großen Saale neben dem Generalshofe und der Folterkammer statt; die aus rohen Balken gezimmerten Wände waren mit rotem Tuch ausgeschlagen, und der Saal war mit Wachskerzen erleuchtet. Die schmalen langen Tische waren in Hufeisenform aufgestellt; in der Mitte befand sich ein Podium mit Stufen, auf denen die Priester-Kardinale und andere Mitglieder des Konzils saßen; unter einem samtenen Baldachin stand ein aus Fässern aufgebauter und von oben bis unten mit Gläsern und Flaschen besetzter Thron.

Als alle versammelt waren, führten der Sakristan und der Kardinal-Protodiakon – der Zar selbst – den neuerwählten Papst feierlich an den Armen in den Saal. Vor ihm trug man zwei Flaschen mit dem »allerberauschendsten Weine«, die eine vergoldet, die andere versilbert, und zwei Schüsseln, die eine mit Gurken, die andere mit Sauerkohl, sowie unanständige Ikonen des nackten Bacchus. Der Fürst-Papst verneigte sich dreimal vor dem Fürst-Caesar und den Kardinälen und überreichte Seiner Majestät die Geschenke – die Flaschen und die Schüsseln.

Der Erzpriester fragte den Papst:

»Warum, Bruder, bist du hergekommen und was verlangst du von unserer Unmäßigkeit?«

»Daß man mich mit den Gewändern unseres Vaters Bacchus einkleide,« antwortete der Papst.

»Wie befolgst du die Gebote des Bacchus und was leistest du in seiner Lehre?«

»Allertrunkenster Vater! Wenn ich des Morgens, wenn es noch dunkel ist und die Sonne noch nicht aufgegangen ist, zuweilen auch um Mitternacht, aufstehe, schenke ich mir zwei oder drei Glas ein und trinke sie aus. Auch die übrige Zeit bin ich nicht müßig, sondern verbringe sie auf die gleiche Weise und fülle meinen Bauch wie ein Faß mit allerlei Getränken, so daß ich zuweilen die Speisen nicht an den Mund führen kann, weil mir die Hand zittert und es mir dunkel vor den Augen ist; so halte ich es immer und verspreche, die mir Anvertrauten dasselbe zu lehren; die Andersdenkenden verdamme ich und verkünde das Anathema über alle Branntweinstürmer. Amen.«

Der Erzpriester verkündete:

»Die Trunkenheit des Bacchus, die jeden Blick verdunkelnde und jedes Glied zittern machende, die jeden Körper umwerfende und jeden Kopf verwirrende Trunkenheit sei mit dir alle Tage deines Lebens!«

Die Kardinale führten den Papst auf die Kanzel und bekleideten ihn mit Narrengewändern, die dem Patriarchenornat nachgebildet und mit Darstellungen von Würfeln, Karten, Flaschen, Tabakpfeifen, der nackten Venus und des nackten Jerjomka-Eros bestickt waren. Um den Hals hing man ihm statt des Kreuzes eine Tonflasche mit Schellen. Man gab ihm eine mit verschiedenen Schnapsflaschen gefüllte Buchatrappe und ein aus Pfeifenrohren zusammengefügtes Kreuz in die Hand. Dann salbte man ihn mit starkem Schnaps rund um den Kopf und um die Augen.

»Ebenso soll nun dein Verstand kreisen, und die gleichen Kreise mögen sich in verschiedenen Gestalten vor deinen Augen drehen alle Tage deines Lebens!«

Man salbte ihm auch beide Handflächen und die vier Finger, mit denen man das Glas hält:

»So mögen deine Hände zittern alle Tage deines Lebens!«

Zum Schluß setzte ihm der Erzpriester die blecherne Tiara auf.

»Die Krone des bacchischen Nebels ruhe auf deinem Haupte! Ich Betrunkener kröne dich Nichtnüchternen –

Im Namen aller Zecher,
Im Namen aller Becher,
Im Namen aller Laffen,
Im Namen aller Affen,
Im Namen aller Fresser,
Im Namen aller Fässer,
Im Namen aller Tränke,
Im Namen jeder Schenke, –
Die deine Wohnung ist, Vater Bacchus,
    Amen!

Und alle riefen aus:

»Axios! Er ist würdig!«

Darauf setzte man den Papst auf den Thron aus Fässern. Über seinem Kopfe hing ein Fäßchen mit einem darauf reitenden kleinen silbernen Bacchus. Der Papst konnte den Schnaps aus diesem Fäßchen sich direkt in den Mund fließen lassen.

Nicht nur die Mitglieder des Konzils, sondern auch alle andern Gäste traten jetzt der Reihe nach vor seine Heiligkeit, verneigten sich vor ihm bis zur Erde, empfingen statt des Segens einen Klaps mit einer mit Schnaps befeuchteten Schweinsblase auf den Kopf und kommunizierten mit Pfefferschnaps, den man ihnen in einem großen Holzlöffel reichte.

Die Priester sangen im Chor:

»Oh, ehrwürdiger Vater Bacchus, der du von der verbrannten Semele geboren und im Schoße Jupiters aufgewachsen bist, du Kelterer der freudespendenden Trauben! Wir beten zu dir in unserer ganzen trunkenen Gemeinde: vermehre und leite die Schritte des weltbeherrschenden Fürst-Papstes, damit er deinen Fußtapfen folge. Und du, vielgerühmte Venus . . .«

Hier folgten unflätige Worte.

Schließlich setzte man sich zu Tisch. Dem Fürst-Papst gegenüber saß Feofan Prokopowitsch, an seiner Seite Peter, neben diesem Fedoßka; dem Zaren gegenüber saß Alexej.

Der Zar unterhielt sich mit Feofan über die soeben eingetroffenen Berichte von den Selbstverbrennungen vieler Tausender Raskolniki in den Wäldern von Kershenez und Tschernoramenskoje jenseits der Wolga. Das Singen der Betrunkenen und das Schreien der Narren störte das Gespräch.

Auf einen Wink des Zaren unterbrachen die Priester das Bacchuslied, alle verstummten, und in der plötzlich eingetretenen Stille erklang Feofans Stimme:

»Diese verdammten Narren, diese wahnsinnigen Dulder! Mit unersättlicher Wollust lechzen sie nach Martern, sie verbrennen sich aus freien Stücken, stürzen mutig in den Abgrund der Hölle und weisen auch den andern den Weg dahin. Es ist zu wenig, sie wahnsinnige zu nennen, denn es ist ein Frevel, für den es keinen Namen gibt! Ein jeder möge sie von sich stoßen und auf sie spucken . . .«

»Was soll man nun tun?« fragte Peter.

»Man soll sie ermahnen und aufklären, Eure Majestät, daß nicht jedes Martyrium, sondern nur das von den Gesetzen erlaubte gottgefällig ist. Denn der Herr sagt nicht: ›Selig sind, die verfolgt werden,‹ sondern: ›Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden.‹ Eine solche Verfolgung um der Gerechtigkeit willen ist aber in Rußland, das ein rechtgläubiger Staat ist, niemals zu befürchten und kann gar nicht vorkommen . . .«

»Belehrungen!« sagte der in Ungnade gefallene Fedoßka mit boshaftem Grinsen. »Viel werden bei ihnen die Belehrungen nützen! Die Kinnbacken sollte man den Ketzern zertrümmern! wenn es schon in der alttestamentarischen Kirche befohlen ist, die Widerspenstigen zu töten, um wie viel mehr in der neuen: denn dort sind nur Symbole, und hier ist Wahrheit. Es ist für die Ketzer selbst nützlich, wenn sie sterben, und eine Wohltat für sie, wenn man sie tötet: je länger sie leben, um so mehr sündigen sie, erfinden immer neue Ärgernisse und verführen noch mehr Leute. Ob man den Sünder mit den Händen oder mit dem Gebet tötet, ist ganz gleich.«

»Das ziemt sich nicht,« entgegnete Feofan ruhig, ohne auf Fedoßka zu blicken. »Durch solche Grausamkeiten werden die Herzen der Gepeinigten noch mehr aufgereizt, als besänftigt. Man soll sie zur heiligen Kirche nicht durch Zwang und Furcht sondern durch die Predigt der wahren evangelischen Liebe bekehren.«

»So ist es richtig,« bestätigte Peter. »Wir wollen dem menschlichen Gewissen keinen Zwang antun und überlassen es gerne einem jeden, für sein Seelenheil zu sorgen. Sie können meinetwegen glauben woran sie wollen, und wenn man sie nicht mit der Vernunft bekehren kann, so wird natürlich weder Schwert noch Feuer helfen, wenn sie aber wegen einer Dummheit zu Märtyrern werden, so gewinnen sie dadurch keine Ehre und der Staat keinen Nutzen.«

»Man muß ganz allmählich und vorsichtig vorgehen, und alles kommt bald wieder in Ordnung,« fiel Feofan ein.

»Es wäre ganz gut,« fügte er leise hinzu, sich zum Zaren beugend, »wenn man für die Raskolniki doppelte Steuern verordnete; wenn sie von der doppelten Last bedrückt sind, ist es viel leichter, die Verirrten der heiligen Kirche wieder zuzuführen. Auch sollte man bei ihrer Aburteilung immer noch eine andere Schuld außer ihrer Ketzerei zu finden bestrebt sein; die Schuldigen soll man nach der Bestrafung mit der Knute und dem Aufreißen der Nasenflügel, wie es im Gesetz vorgeschrieben, auf die Galeeren schicken; wo man aber keinen offenkundigen Grund findet, dort kann man nach mündlichen Instruktionen verfahren . . .«

Peter nickte stumm mit dem Kopfe. Der Zar und der Bischof verstanden einander.

Fedoßka wollte etwas sagen, schwieg aber und verzog nur sein kleines Gesicht, das an das einer Fledermaus erinnerte, zu einem boshaften Lächeln; er schrumpfte gleichsam zusammen und wurde grün, von Wut wie von Gift erfüllt. Er wußte, was es bedeutete, »nach mündlichen Instruktionen verfahren«. Der Bischof Pitirim, den man nach Kershenetz zur Ermahnung der Raskolniki geschickt hatte, meldete neulich dem Zaren: »Sie sind sehr grausam gefoltert und gepeinigt worden, so daß selbst ihre Eingeweide sichtbar wurden.« Und der Zar hatte durch einen Ukas verboten, den Bischof Pitirim an der Vollbringung solcher »apostolischen Taten« zu hindern. Die Liebe bestand nur in Worten, in der Tat klagten aber die Raskolniki: »Stumme Lehrer stehen in den Folterkammern vor den Wippen; sie erleuchten statt mit dem Evangelium mit der Knute und belehren statt mit den Apostelbriefen mit Feuer«. Das war übrigens jene »geistliche Politik und Dissimulation«, die auch Fedoßka selbst gepredigt hatte. Aber Feofan war noch schlauer als er, und Fedoßka fühlte, daß er ausgespielt hatte.

»Es ist gar nicht verwunderlich,« fuhr der Bischof wieder so laut fort, daß es alle hören konnten, »daß rauhe und unwissende Bauern in solchen Verirrungen rasen. Aber es ist wahrlich wunderbar, daß es auch im hohen Adelstande und selbst unter den Dienern des Zaren gewisse demütige und finstere Philosophen gibt, die es noch viel ärger treiben als die Raskolniki. Es ist schon so weit gekommen, daß Leute, die sonst zu keiner Sache taugen, sich in diese scheußliche und frevelhafte Sache einlassen. Auch die Hefe des Volkes, Seelen, die man für einen Groschen kaufen kann, Menschen, die zu nichts anderem geboren sind, als sich von fremder Arbeit zu ernähren, – auch diese haben sich gegen ihren Zaren, gegen den Christus des Herrn empört! Wenn ihr das Brot esset, hättet ihr euch doch wundern sollen und fragen: woher haben wir dies? Es ist eine Wiederholung der Geschichte des Königs David, gegen den sich die Blinden und Lahmen empört hatten. Unser rechtgläubiger Monarch, der Rußland so viel Nutzen gebracht hat, dessen Weisheit alle ihren Ruhm und ihr sorgenloses Dasein zu verdanken haben, hat selbst einen viel geschmähten Namen und lebt ein trauriges Leben, während er sich durch seine harte Arbeit ein frühzeitiges Alter bereitet und, um die Sicherheit des Vaterlandes besorgt, seine eigene Gesundheit mißachtet und selbst seinem Tode entgegeneilt, bilden sich viele ein, daß er zu lange lebt! Oh, Trauer, oh, Schmach über Rußland! Nehmen wir uns in acht, daß nicht in der Welt von uns das Sprichwort erstehe: der Zar ist eines solchen Reiches würdig, aber das Volk ist eines solchen Zaren unwürdig.«

Als Feofan zu Ende war, nahm Peter das Wort:

»Gott kennt mein Herz und mein Gewissen, und er weiß, wie viel Gutes ich dem Vaterlande wünsche. Aber die dämonischen Mächte suchen mir immer zu schaden. Wohl kaum mußte je ein Herrscher so viel Unglück und Plagen erleiden als ich. Die Ausländer sagen, daß ich über Sklaven regiere. Die englische Freiheit ist hier aber nicht am Platze, sie würde von unserm Volke abprallen wie Erbsen von der Wand. Man muß das voll kennen, um zu wissen, wie man es regieren muß. Niemand kann meine Unschuld sehen, der nicht alles weiß. Nur Gott allein sieht die Wahrheit. Er ist mein Richter . . .«

Niemand hörte auf den Zaren. Alle waren betrunken.

Er brach seine Rede ab und winkte; die Priester begannen wieder das Bacchuslied zu singen, die Narren zu schreien und der Chor, der sogenannte »Frühling«, mit allen möglichen Vogelstimmen von der Nachtigall bis zur Grasmücke zu pfeifen, so daß die durchdringenden Töne von den Wänden widerhallten.

Alles spielte sich so ab wie immer. So wie immer aß und trank man bis zur Bewußtlosigkeit. Geachtete Würdenträger gerieten einander in die Haare, prügelten sich und fielen, wenn sie sich wieder versöhnt hatten, zusammen unter den Tisch. Fürst Schachowskoj, Ritter des närrischen Judasordens, ließ sich gegen Bezahlung mit Ohrfeigen traktieren. Einem alten Bojaren, der nicht mehr trinken wollte, goß man den Schnaps durch einen Trichter in den Mund. Der Fürst-Papst hatte Erbrechen und besudelte von der Höhe des Thrones herab die Perücken und Röcke derjenigen, die unter ihm saßen. Die betrunkene Närrin, die Fürstin-Äbtissin Rshewskaja tanzte, wobei sie ihre Röcke schamlos in die Höhe hob und mit heiserer Stimme sang:

Brenne, haue, Schlag auf Schlag,
Tanz bis in den hellen Tag! . . .

Die Andern pfiffen und trampelten mit den Füßen, daß sich dichte Staubwolken erhoben und sangen:

Brenne, haue, Schlag auf Schlag . . .

Alles spielte sich so ab wie immer. Peter empfand aber Langweile. Er trank mit Absicht so viel wie möglich vom allerstärksten englischen Schnaps »Pepper and brandy«, um sich schneller zu betrinken, was ihm aber nicht gelingen wollte. Je mehr er trank, um so trüber wurde es ihm zumute. Er stand auf, setzte sich, stand wieder auf, irrte zwischen den Körpern der Betrunkenen, die auf dem Fußboden wie die Leichen auf einem Schlachtfelde herumlagen umher, und konnte keinen Platz finden. Eine tödliche Übelkeit drängte sich ihm zum Herzen empor, wenn er doch weglaufen oder dieses ganze Gesindel wegjagen könnte!

Als sich in den erstickenden Dunst und den trüben Schein der heruntergebrannten Kerzen das kalte Licht des Wintermorgens mischte, wurden die Menschengesichter noch schrecklicher, und erinnerten noch mehr an Tierfratzen und an ungeheuerliche Gespenster.

Peter richtete den Blick auf seinen Sohn.

Der Zarewitsch war betrunken. Sein Gesicht war totenblaß; die langen dünnen Strähnen seines Haares klebten an der schweißigen Stirne; die Augen blickten trüb; die Unterlippe hing herab; die Finger, mit denen er ein volles Schnapsglas hielt, indem er sich bemühte, es nicht zu verschütten, zitterten wie bei einem Gewohnheitssäufer.

»Der Schnaps ist kein Weizen, – wenn man ihn verschüttet, kann man ihn nicht wieder aufpicken!« murmelte er, indem er das Glas zum Munde führte.

Er trank es aus, verzog das Gesicht, krächzte und begann mit der Gabel nach einem gesalzenen Reizker zu stechen, der sich von seiner zitternden Hand nicht erwischen lassen wollte; es gelang ihm nicht, den glatten Pilz mit der Gabel zu fangen; er gab es auf, steckte sich ein Stück Schwarzbrot in den Mund und begann, es langsam zu zerkauen.

»Mein Herzensfreund, bin ich betrunken? Sage mir die Wahrheit, bin ich betrunken?« bestürmte er den neben ihm sitzenden Tolstoi.

»Gewiß bist du betrunken!« bestätigte ihm Tolstoi.

»Also stimmt es doch,« fuhr der Zarewitsch mit lallender Zunge fort. »Das macht mir gar nichts! So lange ich nichts getrunken habe, ist es mir, als ob es ›ihn‹ niemals gegeben hätte; sobald ich aber ein Glas getrunken habe, bin ich verloren. So viel man mir auch gibt, alles trinke ich aus. Es ist noch gut, daß ich im Rausche verträglich bin . . .«

Er kicherte trunken und blickte plötzlich den Vater an.

»Väterchen, he, Väterchen! warum bist du so griesgrämig? Komm einmal her, wir wollen miteinander trinken. Ich werde dir ein Liedchen singen. Dann wird es lustiger sein!«

Er lächelte dem Vater zu, und in diesem Lächeln lag wieder der frühere, liebliche, kindliche Ausdruck.

»Er ist ja ganz dumm und einfältig! Wie kann man einen solchen hinrichten?« dachte sich Peter, und plötzlich biß sich ein wildes, schreckliches, grausames Mitleid wie ein Tier in sein Herz hinein.

Er wandte sich weg und tat so, als ob er Feofan zuhörte, der ihm etwas von der beabsichtigten Gründung des heiligsten Synods erzählte. Aber er hörte nichts. Schließlich rief er einen Diener herbei und befahl, die Pferde anzuspannen, um sofort nach Petersburg abzureisen. Inzwischen irrte er wieder gelangweilt und nüchtern zwischen den Betrunkenen umher. Ohne es selbst zu merken, wie von einer geheimnisvollen Macht getrieben, ging er auf den Zarewitsch zu, setzte sich neben ihn an den Tisch, wandte sich aber wieder von ihm ab und tat so, als ob er in ein Gespräch mit dem Fürsten Jakow Dolgorukij vertieft wäre.

»Väterchen, he, Väterchen!« sagte der Zarewitsch, und berührte leise die Hand des Vaters, »warum bist du so griesgrämig? Setzt ›er‹ auch dir zu? Man soll ihm einen Espenpfahl in die Gurgel jagen und fertig!«

»Wer ist er?« wandte sich Peter an den Sohn.

»Wie soll ich wissen, wer ›er‹ ist?« sagte der Zarewitsch mit einem so seltsamen Lächeln, daß es Peter unheimlich wurde. »Ich weiß nur das eine, daß du jetzt der echte bist; der Teufel mag wissen, wer ›er‹ ist: ein Thronräuber, ein verruchtes Tier oder ein Werwolf . . .«

»Was hast du?« fragte Peter, ihn aufmerksam anblickend. »Du solltest doch weniger trinken, Alexej . . .«

»Wenn man trinkt, stirbt man, und wenn man nicht trinkt, stirbt man auch; es ist besser trinken und sterben! Auch für dich ist es besser: wenn ich sterbe, brauchst du mich nicht hinzurichten!« Er kicherte wie ein blödes Kind und begann plötzlich mit ganz leiser, kaum hörbarer Stimme zu singen, die aus weiter Ferne zu kommen schien:

Ich will gehen durch die Au,
Wo auf Gräsern blinkt der Tau.
Ich will pflücken manche Blume,
Manche blaue Glockenblume.
Ich will winden einen Kranz
Und ihn werfen in den Bach.
Meinem Blick entschwebt der Kranz . . .

»Väterchen ich will dir einen Traum erzählen, den ich neulich gehabt habe: ich sah Afroßja nachts auf dem Felde im Schnee sitzen; sie war nackt und schrecklich wie eine Tote; sie wiegte ihr Kindchen, das auch tot war, in den Schlaf und sang ihm dieses selbe Liebchen:

Ach, mein Kränzlein sinkt und sinkt,
Und mein Herz kann es nicht fassen,
Daß mein Kränzlein schon ertrinkt
Und mein Liebster mich verlassen . . .

Peter hörte ihm zu, und plötzlich biß sich ihm ein wildes, schreckliches, grausames Mitleid wie ein Tier ins Herz hinein.

Und der Zarewitsch sang und weinte. Dann ließ er den Kopf auf den Tisch sinken, stieß ein Glas Wein um, so daß sich eine blutrote Lache über das Tischtuch ergoß, legte sich eine Hand unter den Kopf und schlummerte ein.

Peter blickte lange auf dieses blasse, gleichsam tote Gesicht neben der blutroten Lache.

Ein Diener ging auf den Zaren zu und meldete, daß die Pferde angespannt seien.

Peter erhob sich, warf seinem Sohn einen letzten Blick zu, beugte sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn.

Der Zarewitsch lächelte, ohne die Augen aufzuschlagen, dem Vater ebenso zärtlich zu wie in seiner Kindheit, wenn der Vater das schlafende Kind in die Arme nahm.

Der Zar verließ unbemerkt den Saal, wo das Trinkgelage noch fortdauerte, setzte sich in den Wagen und fuhr nach Petersburg.

 


 


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