Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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Zehntes Buch.

Vater und Sohn.

 

I.

Die Kirche hatte aufgehört, für den Zarewitsch Kirche zu sein, als er von der Existenz des zarischen Ukases erfahren hatte, durch den die Unverletzlichkeit des Beichtgeheimnisses aufgehoben wurde. Wenn der Herr eine derartige Beschimpfung der Kirche duldet, so hat er sie im Stich gelassen; so dachte sich der Zarewitsch.

Nach Beendigung des Moskauer Prozesses, am Vorabend des Mariä-Verkündigungstages, am 24. März, kehrte Peter nach Petersburg zurück. Er beschäftigte sich wieder mit seinem »Paradies«, mit dem Flottenbau, der Gründung der Kollegien und andern Dingen mit solchem Eifer, daß viele glaubten, der Prozeß sei endgültig abgeschlossen und die Sache für immer erledigt. Dessenungeachtet hatte man aber den Zarewitsch aus Moskau unter Bewachung nach Petersburg übergeführt und zusammen mit den anderen Arrestanten in einem eigenen Hause neben dem Winterpalais untergebracht. Man behandelte ihn hier wie einen Sträfling: man ließ ihn niemals an die Luft, und niemand durfte ihn sehen. Man erzählte sich, daß er vom übermäßigen Trinken verrückt geworden wäre.

Inzwischen brach die Karwoche an.

Zum erstenmal in seinem Leben wollte der Zarewitsch von der Karwoche nichts wissen. Er fastete nicht und ging nicht zum Abendmahl. Man schickte zu ihm Geistliche, um ihn zu ermahnen, er wollte aber nicht auf sie hören: er hielt sie alle für Spione.

Der Ostersonntag fiel auf den 13. April. Die Frühmesse wurde in der Dreifaltigkeitskathedrale abgehalten, die schon bei der Gründung Petersburgs erbaut worden war und an eine finstere, hölzerne Dorfkirche erinnerte. Der Zar, die Zarin, alle Minister und Senatoren wohnten dem Gottesdienste bei. Der Zarewitsch wollte nicht hingehen, wurde aber auf Befehl des Zaren gewaltsam hingebracht.

Die Karsamstagsgesänge klangen in der halbfinstern Kirche über dem heiligen Grabe wie Totenlitaneien:

»Der in seiner Hand das Weltall hält, ist ans Kreuz geschlagen, und die ganze Kreatur weint, wenn sie ihn nackt am Marterholze hängen sieht. Die Sonne verbirgt ihr Licht, und die Sterne verdunkeln ihren Glanz.«

Die Priester traten noch in dem schwarzen Ornat, der in den Fasten getragen wird, vor den Altar, hoben den heiligen Leichnam auf, trugen ihn ins Allerheiligste, schlossen die Zarenpforte und begruben so den Herrn.

Dann sang man den letzten Lobgesang der Mitternachtsmesse:

»Als du in den Tod hinabstiegst, unsterbliches Leben . . .«

Nun trat Stille ein.

Die Menge geriet plötzlich in Bewegung, wogte hin und her, als ob sie sich auf etwas vorbereitete. Man begann die Kerzen anzuzünden. Die ganze Kirche war von einem hellen, stillen Licht erfüllt. Und in dieser lichten Stille lag die Erwartung einer großen Freude.

Alexej zündete seine Kerze an der Kerze seines Nachbarn, des Peter Andrejewitsch Tolstoi, seines »Judas des Verräters«, an. Die zarte Flamme rief dem Zarewitsch alles in Erinnerung, was er sonst während der Ostermesse empfunden hatte. Jetzt erstickte er aber in sich dieses Gefühl; er wollte es nicht empfinden und fürchtete es. Er starrte gedankenlos auf den Rücken des vor ihm stehenden Fürsten Menschikow und bemühte sich nur daran zu denken, daß er die goldene Stickerei auf diesem Rücken nicht mit Wachs betropfen durfte.

Hinter der Zarenpforte erklang die Stimme des Diakon:

»Deine Auferstehung, Christus und Erlöser, singen die Engel in den Himmeln.«

Die Pforte wurde geöffnet, und beide Chöre stimmten den Gesang an:

»Erweise auch uns Irdischen die Gnade, dich mit reinen Herzen loben zu dürfen.«

Die Geistlichen traten nun in hellen Osterornaten aus dem Allerheiligsten, und die Prozession setzte sich in Bewegung.

Die Glocke der Kathedrale erdröhnte, die Glocken aller anderen Kirchen fielen ein, und in das freudige Geläute mischte sich der Kanonendonner der Peter-Pauls-Festung.

Die Prozession trat aus der Kirche ins Freie, die Außentüre wurde geschlossen, die Kirche leerte sich, und alles war wieder still.

Der Zarewitsch stand unbeweglich mit gesenktem Kopfe da, blickte gedankenlos vor sich hin und bemühte sich, nichts zu sehen, nichts zu hören und nichts zu fühlen.

Von außen erklang die greisenhafte, schwache Stimme des Metropoliten Stephan:

»Ruhm und Ehre sei der heiligen, einigen, lebenspendenden und unteilbaren Dreieinigkeit für alle Zeit, jetzt und in alle Ewigkeit!«

Anfangs dumpf und leise wie aus weiter Ferne erklang der Ruf:

»Christ ist erstanden!«

Und dann immer lauter und lauter, immer näher und freudiger. Endlich wurden die Kirchentüren weit aufgemacht, und zugleich mit dem Rauschen der in die Kirche zurückkehrenden Menge erdröhnte das Lied wie ein Himmel und Erde erschütterndes Siegesgeschrei:

»Christ ist erstanden, er hat den Tod durch den Tod besiegt und den in den Särgen Ruhenden das Leben geschenkt!«

In diesem Gesange lag solche Freude, daß ihr nichts widerstehen konnte. Es war, als ob alles, worauf die Welt seit dem ersten Schöpfungstage geharrt hatte, gleich in Erfüllung gehen, als ob ein Wunder geschehen würde.

Der Zarewitsch erbleichte, seine Hände zitterten, und er ließ beinahe seine Kerze fallen. Er widerstrebte noch immer, aber eine unbezwingbare Freude wuchs ihm zum Herzen empor und drängte sich ihm aus der Brust. Das ganze Leben, alle Leiden und selbst der Tod erschienen vor ihr nichtig.

Er brach in Tränen aus und trat, um sie zu verbergen, aus der Kirche vor das Portal.

Die Aprilnacht war still und heiter. Es roch nach schmelzendem Schnee, feuchter Baumrinde und den noch geschlossenen Knospen. Eine große Volksmenge drängte sich um die Kirche, und unten, auf dem dunklen Platze, leuchteten die Kerzen wie Sterne, und die Sterne oben am dunklen Himmel flimmerten wie die Kerzen. Wolken, leicht und durchsichtig wie Engelsflügel, zogen vorbei. Auf der Newa hatte der Eisgang begonnen. Das freudige Dröhnen und Krachen der brechenden Eisschollen vermengte sich mit dem Glockengeläute. Himmel und Erde schienen zu singen: »Christ ist erstanden!«

Nach der Messe trat der Zar vor das Portal, nahm von allen Glückwünsche entgegen und tauschte mit allen Küsse aus; nicht nur mit den Ministern und Senatoren, sondern auch mit allen Hofbediensteten bis zum letzten Ofenheizer und Küchenjungen herab.

Der Zarewitsch blickte seinen Vater von ferne an und wagte nicht, zu ihm zu treten. Peter bemerkte den Sohn und ging auf ihn zu.

»Christ ist erstanden, Aljoscha!« sagte der Vater mit seinem gutmütigen, freundlichen Lächeln, mit dem Lächeln von einst.

»Er ist in Wahrheit erstanden, Väterchen!«

Und sie küßten sich dreimal.

Alexej spürte die ihm vertraute Berührung der rasierten vollen Wangen und der weichen Lippen, den bekannten Geruch des Vaters. Und plötzlich klopfte ihm wieder wie in der Kindheit das Herz, sein Atem stockte in der wahnsinnigen Hoffnung: »Wenn er mir verzeiht, wenn er mich begnadigt . . .«

Peter war so groß gewachsen, daß er sich beim Küssen fast jedesmal bücken mußte. Ihm schmerzten schon Rücken und Nacken. Er versteckte sich vor der ihn umdrängenden Menge in die Sakristei.

Um sechs Uhr früh, als es bereits hell geworden war, begaben sich alle aus der Kathedrale in den Senat, einen niederen, langen Lehmbau, der an eine Kaserne erinnerte und neben der Kathedrale stand. In den engen Amtssälen waren auf Tischen Osterbrote, Quarkkuchen, Eier, Weine und Schnäpse vorbereitet.

Vor dem Eingang zum Senat holte Fürst Jakow Dolgorukij den Zarewitsch ein und flüsterte ihm zu, daß Afrossinja bald in Petersburg eintreffen würde, daß sie gottlob gesund sei und jeden Augenblick niederkommen müsse.

Auf dem Flur begegnete der Zarewitsch der Zarin. Mit dem blauen Land und dem Brillantstern des Andreasordens auf der Brust, in einer prunkvollen Robe aus Silberbrokat, auf der vorne mit Perlen und Diamanten ein Doppeladler gestickt war, leicht geschminkt und gepudert, erschien Katenjka jung und hübsch. Sie empfing die Gäste wie eine gute Hausfrau mit einem gleichmäßigen, gezierten Lächeln. Sie lächelte auch dem Zarewitsch zu. Er küßte ihr die Hand. Sie küßte ihn auf den Mund, tauschte mit ihm ein Osterei aus und wollte bereits weitergehen, als er plötzlich vor ihr niederkniete und sie so wild anblickte, daß sie zurückwich.

»Zarin, Mütterchen, habe Erbarmen! Bitte Väterchen, daß er mir erlaube, Afrossinja zu heiraten . . . Ich will nichts mehr, Gott sei mein Zeuge, daß ich nichts mehr will! Ich habe wohl auch so nicht mehr lange zu leben . . . Ich möchte alles lassen und in Ruhe sterben . . . habe Erbarmen, Mütterchen, um des heiligen Festes willen! . . .«

Und er sah sie wieder so wild an, daß es ihr ganz unheimlich zumute wurde. Durch ihr Gesicht ging plötzlich ein Zucken, sie begann zu weinen. Katenjka liebte zu weinen und verstand sich darauf; nicht ohne Grund sagten die Russen, sie habe ihre Augen an einer feuchten Stelle, und die Ausländer, – daß, wenn sie weine und man selbst gar nicht wisse, aus welchem Grunde, man sich dennoch gerührt fühle »wie bei einer Aufführung der Andromache«. Diesmal waren aber ihre Tränen aufrichtig: der Zarewitsch tat ihr wirklich leid.

Sie beugte sich über ihn und küßte ihn auf den Scheitel. Im Ausschnitte ihres Kleides sah er ihren üppigen weißen Busen mit den zwei reizenden dunklen Muttermalen oder Schönheitspflästerchen. Und als er diese Muttermale sah, wurde es ihm plötzlich klar, daß alles vergeblich sei.

»Ach du Armer, Armer! Gewiß wäre ich froh, Aljoschenjka, wenn ich für dich etwas tun könnte! . . . Was nützt es aber? Hört er denn auf mich? Daß es nur nicht schlimmer wird . . .«

Sie blickte sich rasch um, ob nicht jemand zuhörte, näherte ihre Lippen seinem Ohre und flüsterte ihm hastig zu:

»Schlecht steht deine Sache, Söhnchen, so schlecht, daß, wenn du fliehen kannst, du sofort alles im Stiche lassen und fliehen mußt . . .«

Tolstoi trat ein. Die Zarin wandte sich vom Zarewitsch weg, wischte sich mit dem Spitzentuche unauffällig die Tränen aus den Augen, wandte sich mit ihrem früheren heiteren Gesichtsausdruck zu Tolstoi und fragte ihn, ob er nicht gesehen hätte, wo der Zar sei, und warum er nicht zum Osterimbiß käme.

In der Türe zum Nebensaal erschien eine hochgewachsene, derbknochige, festlich, doch geschmacklos gekleidete Deutsche, mit einem schmalen Altjungferngesicht, das etwas von einem Pferde hatte; es war die Prinzessin von Ostfriesland, die Hofmeisterin der verstorbenen Charlotte und die Erzieherin ihrer beiden Waisen. Sie trat so energisch und herausfordernd auf, daß alle ihr unwillkürlich Platz machten. Den kleinen Petja trug sie auf den Armen, die vierjährige Natascha führte sie an der Hand.

Der Zarewitsch erkannte seine Kinder fast nicht wieder: so lange hatte er sie nicht gesehen.

»Mais saluez donc monsieur votre père, mademoiselle!« sagte die Prinzessin, indem sie Natascha vorwärts schob. Die Kleine war stehengeblieben, weil auch sie augenscheinlich ihren Vater nicht erkannte. Petja starrte ihn zuerst neugierig an, wandte sich dann von ihm ab, fuchtelte mit seinen kleinen Armen und begann, aus Leibeskräften zu schreien.

»Natascha, Natascha, Kindchen!« sagte der Zarewitsch, indem er ihr seine Hände entgegenstreckte.

Sie richtete auf ihn ihre großen traurigen, blaßblauen Augen, die an die ihrer Mutter erinnerten, lächelte ihm plötzlich zu und fiel ihm um den Hals.

Peter trat ein. Er streifte die Kinder mit einem Blick und fuhr die Prinzessin auf Deutsch an:

»Warum haben Sie sie hergebracht? Hier ist nicht der Platz für sie. Gehen Sie fort!«

Die Deutsche blickte den Zaren an, und in ihren gutmütigen Augen flackerte Empörung auf. Sie wollte etwas sagen; als sie aber sah, daß der Zarewitsch Natascha gehorsam aus seinen Armen gelassen hatte, zuckte sie nur mit den Achseln, schüttelte wütend den immer noch heulenden Petja, packte das Mädchen ebenso wütend bei der Hand und schritt schweigend, mit etwas herausforderndem Ausdruck, wie sie gekommen war, zur Türe.

Natascha wandte sich im Gehen noch einmal zum Vater um und warf ihm einen Blick zu, der ihn an Charlotte erinnerte: der Blick des Kindes drückte die gleiche stille Verzweiflung aus wie der der Mutter. Das Herz des Zarewitsch krampfte sich zusammen. Er ahnte, daß er seine Kinder niemals wiedersehen sollte.

Man setzte sich an die Tafel. Der Zar saß zwischen Feofan Prokopowitsch und Stephan Jaworskij. Ihnen gegenüber saß der Fürst-Papst mit dem ganzen Allertrunkensten Konzil. Diese Gesellschaft hatte sich schon ein wenig gestärkt und machte großen Lärm.

Der Zar hatte heute ein doppeltes Fest: Ostern und den Eisgang der Newa. Indem er an den Stapellauf der neuen Schiffe dachte, blickte er in heiterster Laune durchs Fenster auf die weißen Eisschollen, die, von der Morgensonne beschienen, auf der blauen Wasserfläche wie weiße Schwäne trieben.

Die Rede kam auf die geistlichen Angelegenheiten.

»Wird unser Patriarch bald fertig, ehrwürdigster Vater?« fragte Peter Feofan.

»Bald, Majestät: ich nähe ihm gerade den Ornat fertig,« antwortete dieser.

»Und ich habe die Mütze fertig genäht!« bemerkte der Zar lächelnd.

Mit dem Patriarchen war der heiligste Synod gemeint; mit dem Ornat – das Geistliche Reglement, das Prokopowitsch verfaßte; mit der Mütze – der Ukas über die Gründung des Synods.

Als Feofan über die Nützlichkeit dieses neuen Kollegiums zu sprechen begann, lief durch jede Falte seines Gesichts ein lebhaftes, allzu lustiges Zucken: man hatte zuweilen den Eindruck, als ob er über seine eigenen Worte lachte.

»Das Kollegium hat einen viel freieren Geist in sich, als ein einzelnes Oberhaupt. Es ist auch von großer Wichtigkeit, daß bei einer synodalen Verwaltung der Kirche das Vaterland keine Empörungen von ihrer Seite zu befürchten hat. Denn das gemeine Volk hat keine Ahnung davon, wie sehr die geistliche Macht und die Macht des Selbstherrschers voneinander verschieden sind; wenn es die Ehren, die dem Oberhirten der Kirche zuteil werden, sieht, glaubt es, daß dieser Hirte ein zweiter Zar sei, der dem Selbstherrscher gleiche oder sogar noch mehr als dieser sei. Und wenn man etwas über einen Streit zwischen den beiden hört, werden alle viel eher dem geistlichen, als dem weltlichen Oberhaupte folgen – sie werden sich erfrechen, für jenes Partei zu ergreifen; die Verfluchten werden sich dabei sogar einbilden, daß sie Gottes Sache verfechten und ihre Hände nicht verunreinigen, sondern heiligen, wenn sie dabei Blut vergießen. Es ist schwer auszusprechen, welches Unheil daraus entstehen kann. Es genügt, sich in die Geschichte Konstantinopels von Justinians Zeiten an zu vertiefen, um sich über vieles klar zu werden. Auf die gleiche Weise hat auch der Papst seine Macht errungen und nicht nur das Römische Reich in zwei Teile gespalten und sich des größeren Teiles bemächtigt, sondern auch die übrigen Staaten fast bis zur völligen Vernichtung erschüttert. Von ähnlichen Versuchen, die bei uns unternommen wurden, will ich schon gar nicht sprechen! Für solches Übel ist bei einer synodalen Kirchenverwaltung kein Raum. Das Volk wird in Sanftmut verharren und jede Hoffnung aufgeben, daß der geistliche Stand ihm bei seinen Aufständen zur Seite stehen könnte. Schließlich stellt eine solche synodale Verwaltung eine Art Schule für die geistliche Regierung dar, wo jeder geistliche Politik erlernen kann. Und so wird mit Gottes Hilfe unser geistlicher Stand seine Roheit verlieren und zu den schönsten Hoffnungen berechtigen . . .«

Der Bischof blickte dem Zaren mit schmeichlerischem, zugleich aber so listigem Lächeln in die Augen, daß es fast frech erschien, und schloß feierlich:

»Du bist Petrus, und auf diesem Felsen will ich bauen meine Gemeinde!«

Schweigen trat ein. Nur die Mitglieder des Allertrunkensten Konzils lärmten noch, und der aufrechte Fürst Jakow Dolgorukij brummte in den Bart, so daß niemand es hören konnte:

»Gebet Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist.«

»Und was sagst du dazu, ehrwürdigster Vater?« wandte sich der Zar zu Stephan.

Während Prokopowitsch redete, saß Stephan mit gesenktem Kopfe und geschlossenen Augen da; er schien zu schlummern, und sein greisenhaftes, blutleeres Gesicht war ganz leblos. Peter glaubte aber, in diesem Gesichte etwas zu sehen, was er über alle Dinge fürchtete und haßte: eine stille Auflehnung. Als der Alte die Stimme des Zaren hörte, fuhr er zusammen, als ob er plötzlich erwachte und sagte leise:

»Wie kann ich von einer solchen Sache reden, Majestät! Ich bin ja alt und dumm. Sollen nur die Jungen reden, und wir wollen ihnen zuhören . . .«

Er senkte seinen Kopf noch tiefer und fügte noch leiser hinzu:

»Gegen den Strom kann niemand schwimmen.«

»Du jammerst immer, Alter, und schmollst!« sagte der Zar, geärgert die Achseln zuckend, »was willst du eigentlich? Es wäre besser, wenn du geradeheraus redetest!«

Stephan blickte den Zaren an, krümmte sich plötzlich ganz zusammen und begann mit einem Ausdruck, in dem nur noch Demut und gar keine Auflehnung mehr war, schnell, eifrig und klagend zu sprechen, als ob er fürchtete, daß der Zar ihn nicht bis zu Ende anhören würde:

»Allergnädigster Zar! Gestatte mir, daß ich mich in Ruhe und Schweigen zurückziehe. Mein Dienst und meine kleinen Mühen, die mich meine ganze Kraft und Gesundheit und fast auch mein Leben kosteten, sind nur Gott allein und zum Teil auch Eurer Majestät bekannt. Meine Augen sind geschwächt, meine Beine gelähmt, meine Finger sind von Gicht gekrümmt, und Gallensteine peinigen mich. Und doch habe ich mich in allen diesen Leiden nur mit der Gnade des Zaren und seiner väterlichen Fürsorge getröstet, so daß jedes Leid wie durch Zucker versüßt wurde. Heute sehe ich aber, daß du dein Antlitz von mir angewandt hast und daß dein Wohlwollen nicht mehr das frühere ist. Mein Gott, woher kommt diese Veränderung? . . .«

Peter hörte ihm längst nicht mehr zu: er war ganz vom Anblick der Fürst-Äbtissin Rshewskaja hingerissen, die beim Gesange der betrunkenen Narren zu tanzen begonnen hatte:

Tanze, tanz, mein Eichenknüppel,
Spiele, spiele, Dudelsack!

»Laß mich ins Donskoj-Kloster ziehen, oder in ein anderes, nach Wunsch und Willen Eurer Majestät,« fuhr Stephan zu jammern fort. »Und wenn du irgend welche Zweifel wegen meines Rücktrittes hast, so mag mich das heilige Blut Christi zugrunde richten, wenn ich etwas Arges im Schilde führe. Ob ich in Petersburg, Moskau oder Rjasan bin, überall ruht auf mir deine Selbstherrschergewalt, vor der ich mich nirgends verbergen kann. Wo soll ich hingehen vor deinem Geist? Und wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht? . . .«

Das Tanzlied klang aber lustig fort:

Tanze, tanz, mein Eichenknüppel,
Spiele, spiele, Dudelsack!
Fiel mein Schwäher heut vom Ofen,
Fiel vom Ofen auf die Bank.
Wüßt ich, daß er fällt herab,
Hätt' ich höher ihn gebettet,
Hätt' ich höher ihn gebettet,
Und dann wär' er schon im Grab.

Der Zar schlug mit den Füßen den Takt, pfiff und sang:

Brenne, haue, Schlag auf Schlag,
Tanz bis an den hellen Tag!

Der Zarewitsch blickte Stephan an. Ihre Augen begegneten sich. Der Alte hielt in seiner Rede inne, als ob er plötzlich zur Besinnung gekommen wäre und sich schämte. Er schlug die Augen nieder, ließ den Kopf sinken, und zwei Tränen rollten an seinen Runzeln herab. Sein Gesicht sah wieder ganz leblos aus.

Aber Feofan, der rotbackige Silen, lächelte. Der Zarewitsch verglich unwillkürlich diese beiden Gesichter. In dem einen sah er die Vergangenheit, in dem andern die Zukunft der Kirche.

In den niedern engen Sälen war es schwül, Peter ließ die Fenster öffnen.

Auf der Newa hatte sich, wie es während des Eisganges oft der Fall war, ein kalter Wind erhoben, der vom Ladogasee kam. Der Frühling hatte sich plötzlich in einen Herbst verwandelt. Die Wölkchen, die in der Nacht so leicht wie Engelsflügel schienen, waren jetzt schwer, grau und rauh wie Kieselsteine geworden, und die Sonne schien schwächlich und bleich, wie schwindsüchtig.

Aus den Schnapsbuden und Schenken, von denen es in der Nähe des Senats, auf dem Gostinnyj Dwor und weiter, hinter dem Kronwerk der Festung auf dem Sjestnoj- und auf dem Tolkutschij-Markte eine große Menge gab, klangen viele Stimmen, die wie das Gebrüll wilder Tiere anzuhören waren. Irgendwo gab es eine Prügelei, und jemand schrie aus Leibeskräften:

»Schlage den Foma! Er ist gar zu fett!«

Auch das Glockengeläute, das zugleich mit dem Gebrüll der Betrunkenen zum Fenster hereindrang, schien trunken, roh und frech.

Gerade vor dem Senat, mitten auf dem Platz, stand vor einer Schmutzlache, auf der die Schalen roter Ostereier herumschwammen, ein Bauer im bloßen Hemd, – seine übrigen Kleider hatte er wohl vertrunken –, schwankte hin und her, als überlegte er sich, ob er in die Lache fallen sollte oder nicht, schimpfte unflätig und schluchzte so laut, daß man es auf dem ganzen Platze hörte. Ein anderer war bereits in einen Straßengraben gefallen, und seine aus dem Graben herausragenden Beine zappelten hilflos. Wie streng auch die Polizei war, an diesem Tage konnte sie mit den Betrunkenen nicht fertig werden: sie lagen in allen Straßen herum wie die Leichen auf einem Schlachtfelde. Die ganze Stadt war wie eine einzige Schnapsbude.

Auch der Senat, wo der Zar mit seinen Ministern den Osterimbiß einnahm, war wie eine Schnapsbude; auch hier brüllte und fluchte man und prügelte sich.

Der Narrenchor des Fürst-Papstes stritt sich mit dem Chore des Bischofs, wer von ihnen besser singe. Die einen sangen:

Christ ist erstanden von den Toten!

Und die andern fuhren in ihrem Liede fort:

Tanze, tanz, mein Eichenknüppel,
Spiele, spiele, Dudelsack!

Der Zarewitsch dachte an die heilige Osternacht, an die heilige Freude und Rührung, die er vorhin empfunden hatte, und an die Erwartung eines Wunders, und es war ihm, als ob er vom Himmel in den Schmutz gefallen wäre, wie jener Betrunkene in den Straßengraben. Hat es sich gelohnt, mit dieser Rührung zu beginnen, um so zu enden? Es gibt gar kein Wunder und wird auch keines geben; es gibt nur einen Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte.


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