Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.

Von der Beerdigung ins Sommerpalais zurückgekehrt, stieg Peter in ein kleines Boot, ruderte selbst über die dunkle nächtliche Newa und legte an einem kleinen hölzernen Landungssteg am andern Ufer an.

Hier stand fast dicht an der Newa, in der Nähe der Dreifaltigkeitskathedrale ein kleines niederes Häuschen, eines der ersten, die die holländischen Zimmerleute bei der Gründung der Stadt erbaut hatten. Dieses erste Palais Peters in Petersburg glich den ärmlichen Hütten der Zaandamer Schiffer. Es war aus dem Holze der Fichten gezimmert, die in der nächsten Nähe, am wilden Sumpfe von Keiwusari, der Birkeninsel, wuchsen; der Ölfarbenanstrich täuschte Backsteine vor, und die Dachschindeln waren wie Ziegel geformt und angeordnet.

Im Innern des Häuschens gab es nur drei kleine, niedere Zimmer: rechts vom Flur das Arbeitszimmer, das »Kontor«, links das Speisezimmer und dahinter das Schlafzimmer, das kleinste von allen, nur vier Arschin lang und drei Arschin breit, sodaß man sich kaum darin rühren konnte. Die Ausstattung in holländischem Geschmack war zwar sehr einfach, aber behaglich und reinlich. Decke und Wände waren mit weißgestrichener Leinwand überzogen, die breiten und niederen Fenster hatten kleine, in Blei gefaßte Fensterscheiben und eichene Läden mit eisernen Beschlägen. Die Türen waren für Peters Wuchs viel zu niedrig, und er mußte sich bücken, um nicht mit dem Kopf an den Querbalken zu stoßen.

Seit der Erbauung des Winter- und des Sommer-Palais stand dieses Häuschen unbewohnt. Nur ab und zu übernachtete Peter darin, wenn er ganz allein und selbst ohne Katenjka bleiben wollte.

Als er in den Flur getreten war, schüttelte er den auf einer Filzdecke schlafenden Diener aus dem Schlaf, ließ Licht machen, ging ins Kontor, schloß die Türe hinter sich, stellte die Kerze auf den Tisch, setzte sich und zog aus der Tasche die Briefe Tolstois, Rumjanzews und des Zarewitsch; er öffnete sie aber noch nicht und saß eine Weile unentschlossen da, den gleichmäßigen, weithinhallenden Schlägen der Turmuhr der Dreifaltigkeitskathedrale lauschend. Die Uhr schlug neun. Als der letzte Ton verhallt war, trat eine ebenso tiefe Stille ein, wie sie in jenen Tagen herrschte, als Petersburg noch nicht existierte und um dieses ärmliche Häuschen herum nichts als endloser Wald und Sumpf war.

Endlich erbrach er die Briefe. Während er sie las, wurde sein Gesicht etwas blasser, und seine Hände zitterten. Als er aber die letzten Worte im Briefe des Zarewitsch gelesen hatte: »Werde mit denen von Eurer Majestät Abgeschickten dieser Tage aus Neapolis nach St. Petersburg abreisen«, – stockte ihm vor Freude der Atem. Er konnte nicht weiter lesen. Er bekreuzigte sich.

War denn nicht auch das ein himmlisches Zeichen, ein Wunder Gottes? Erst eben hatte er sich so schwach gefühlt, der Verzweiflung nahe und hatte geglaubt, daß Gott ihn vergessen und von ihm gewichen wäre; und nun streckte sich ihm wieder Gottes Hand helfend entgegen.

Er fühlte sich wieder stark und rüstig, gleichsam jünger geworden, zu jeder Arbeit, zu jeder Tat bereit.

Dann ließ er den Kopf sinken, richtete den Blick auf die Kerzenflamme und versank in tiefes Nachdenken.

Wenn der Sohn zurückkehrte, was sollte er mit ihm tun? »Töten!« hatte er früher in seiner Wut gedacht, als er auf die Rückkehr Alexejs noch nicht hoffte. Aber jetzt, wo er wußte, daß er zurückkehren würde, war seine Wut erloschen, und er fragte sich zum erstenmal ruhig und vernünftig: was soll ich mit ihm tun?

Plötzlich erinnerte er sich der Worte in seinem ersten Briefe, den er mit Tolstoi und Rumjanzew nach Neapel geschickt hatte: »Ich verspreche vor Gott und Seinem Gericht, daß dich keine Strafe erwartet, und daß ich dich noch mehr lieben werde, wenn du zurückkehrst.« Und jetzt, da der Sohn diesem Schwur vertraute, bekamen die Worte plötzlich eine furchtbare Bedeutung.

Wie sollte er aber das Versprechen erfüllen?

Dem Sohne verzeihen, hieße doch auch allen andern Verrätern und Verbrechern am Zaren und am Vaterlande verzeihen! Alle die schlechten Menschen, bestechlichen Beamten, Diebe, Nichtstuer, Heuchler, Scheinheilige und »langen Bärte« würden sich mit ihm verbünden und so kühn werden, daß keine Drohungen mehr helfen würden. Sie würden den ganzen Staat ins Verderben stürzen. Und wenn der Sohn den Vater auf diese Weise schon bei Lebzeiten verhöhnte, was würde erst nach seinem Tode geschehen? Er würde alles vernichten und verwüsten, keinen Stein auf dem andern lassen und Rußland zugrunde richten!

Nein, besser den Schwur brechen als ihm verzeihen.

Also wieder Prozesse, wieder Foltern, Scheiterhaufen, Beile, Richtblöcke und Blut?

Er erinnerte sich, wie ihm einst während der Hinrichtungen der Strelitzen, als er über den Roten Platz ritt, wo an diesem Tage mehr als dreihundert Köpfe fallen sollten, der Patriarch mit der wundertätigen Ikone der Muttergottes entgegenkam und um Gnade für die Strelitzen bat. Der Zar verneigte sich vor der Ikone, stieß aber den Patriarchen zornig zurück und sagte: »Wozu bist du hergekommen? Ich verehre die Muttergottes nicht weniger als du. Die Pflicht befiehlt mir aber, den Guten Gnade zu erweisen und die Bösen zu strafen. Geh also, Alter! Ich weiß selbst, was ich tue.«

Er hatte gewußt, was er dem Patriarchen zu antworten hatte, wie wird er aber Gott Antwort stehen?

Und er sah vor sich wie in einer Vision die endlose Reihe von Köpfen, die vor der Richtstätte auf einem langen Balken, der den Richtblock ersetzte, mit den Nacken nach oben und den Gesichtern nach unten lagen; es waren blonde, rothaarige, schwarze und graue, kahle und lockige Köpfe. Er kam eben angeheitert von einem Trinkgelage und ging mit Danilytsch und den übrigen Gästen, das Beil in der Hand, die Ärmel aufgekrempelt, längs dieser Reihe und schlug wie ein Henker einen Kopf nach dem andern ab. Und wenn er müde wurde, nahmen ihm die Gäste einer nach dem andern das Beil aus der Hand und taten dasselbe. Alle waren trunken vom Blute. Seine Kleidung war mit Blut bespritzt, die Erde war voller Blutlachen; die Füße glitten auf dem blutigen Boden aus. Plötzlich, als er sein Beil schon erhoben hatte, hob sich einer der Köpfe, wandte sich um und blickte ihm gerade in die Augen. Das war er, Aljoscha!

»Aljoschenika, mein lieber Junge!« Diese Worte klangen aus einer andern Vision: er war soeben aus dem Auslande heimgekehrt, war nachts heimlich in die Schlafkammer des Zarewitsch gekommen, hatte sich über sein Bettchen gebeugt, das schläfrige Kind in die Arme genommen, es umarmt und geküßt und die Wärme seines nackten Körpers durch das Hemd gespürt.

»Den Sohn töten,« – erst jetzt wurde ihm klar, was das bedeutete. Er fühlte, daß es das Schrecklichste, das Entscheidendste in seinem Leben sei, viel wichtiger als Sofja, die Strelitzen, Europa, Wissenschaft, Flotte, Petersburg und Poltawa; daß hier etwas für alle Ewigkeit entschieden würde: auf die eine Wagschale wird man alles legen, was er Gutes und Großes getan hat, und auf die andere Wagschale – das Blut des Sohnes; wer kann sagen, was überwiegen wird? Wird nicht sein ganzer Ruhm vor diesem blutigen Male erlöschen? Was wird Europa, was wird die Nachwelt über den Meineidigen und den Sohnesmörder sagen? Ein Richter, der nicht alles weiß, kann seine Unschuld schwerlich einsehen. Und wer weiß denn alles?

Darf denn ein Mensch, und wenn auch zum Besten des Vaterlandes, eine solche Sünde vor Gott auf seine Seele laden wie das Vergießen des Blutes von seinem eigenen Fleisch und Blut?

Was sollte er nun tun? Dem Sohne verzeihen, hieße Rußland zugrunde richten; ihn töten, hieße sich selbst zugrunde richten. Er fühlte, daß er die Lösung niemals finden würde.

Er allein durfte auch gar nicht darüber entscheiden, wer würde ihm aber dabei helfen? Die Kirche? »Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel los sein.« So war es früher. Und jetzt, wo ist jetzt die Kirche? Der Patriarch? Ihn gibt es nicht mehr. Er hat ja selbst das Patriarchat abgeschafft. Der Metropolit, »Stjopka der Knecht«, der sich vor dem Zaren bis zur Erde verneigt? Oder der Administrator der Geistlichen Angelegenheiten, der Gauner Fedoßka mit den übrigen Bischöfen, die so aufgezäumt sind, daß man sie überall hin lenken kann?« was er ihnen befehlen wird, das werden sie tun. Er selbst ist der Patriarch, er selbst ist die Kirche. Er steht allein vor Gott.

Worüber hatte er, Wahnsinniger, eben so frohlockt? Ja, der Herr hatte seine Hand ihm entgegengestreckt, doch nur um sie als eine schreckliche Last auf ihm ruhen zu lassen. Es ist so schrecklich, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen!

Es war ihm, als ob sich ein Abgrund vor seinen Füßen aufgetan hätte, aus dem ihm ein solches Grauen entgegenwehte, daß ihm die Haare zu Berge standen.

Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

»Lasse ab von mir, Herr! Erlöse meine Seele vom Mute, Gott meiner Zuversicht!«

Dann stand er auf und ging ins Schlafzimmer, wo in der Ecke über dem Kopfende des Bettes ein ewiges Lämpchen vor der wundertätigen Ikone des Heilands brannte; es war das Bild, das der Hof-Ikonenmaler Simon Uschakow als Geschenk für den Zaren Alexej Michajlowitsch gemalt hatte und das im Vorraume der oberen Gemächer des Moskauer Kremlpalastes verwahrt wurde. Es war eine russische Kopie nach einem uralten byzantinischen Bilde des heiligen Schweißtuches: als der Herr nach Golgatha ging und unter der Last des Kreuzes zusammenbrach, wischte er sich das Antlitz mit einem Schweißtuche ab, auf dem sich sein Antlitz abdrückte.

Seitdem Peters Mutter, die Zarin Natalja Kirillowna ihren Sohn mit diesem Bilde gesegnet hatte, hatte er sich nie mehr davon getrennt. Er hatte es bei sich auf allen seinen Feldzügen und Reisen, auf Schiffen und in Zelten, bei der Gründung Petersburgs und auf dem Schlachtfelde von Poltawa.

Als er ins Schlafzimmer gekommen war, füllte er das Lämpchen mit Öl nach und brachte den Docht in Ordnung. Die Flamme begann heller zu brennen, und auf der goldenen Fassung, die das dunkle Antlitz mit der Dornenkrone umgab, begannen die Diamanten wie Tränen und die Rubine wie Blutstropfen zu funkeln.

Er kniete nieder und begann zu beten.

Die Ikone war ihm so vertraut, daß er sie fast gar nicht mehr sah; ohne sich dessen bewußt zu sein, wandte er sich mit seinem Gebete an den Vater und nicht an den Sohn; nicht an den sterbenden Sohn, der sein Blut auf Golgatha vergossen, sondern an den lebendigen, starken, im Kriege mächtigen Gott, den rechten Kriegsmann, der den Sieg verleiht, an den Gott, der von sich durch den Mund des Propheten gesagt hat: »Ich habe die Völker gekeltert in meinem Zorn und zertreten in meinem Grimm. Daher ist ihr Vermögen auf meine Kleider gespritzet, und ich habe alles mein Gewand besudelt.«

Als er aber jetzt seinen Blick zur Ikone erhob und sich mit seinem Gebet wie immer an den Vater, und nicht an den Sohn wenden wollte, konnte er es nicht. Es war ihm, als sähe er zum erstenmal das traurige Antlitz mit der Dornenkrone, als sei dieses Antlitz lebendig geworden und blickte mit milden Augen in seine Seele hinein; es wurde ihm zum erstenmal verständlich, was er von Kind auf so oft gehört und niemals begriffen hatte: was der Sohn bedeutete, und was der Vater.

Und plötzlich fiel ihm die alte schreckliche Erzählung ein, die gleichfalls von einem Vater und einem Sohne handelte:

»Und Gott versuchte Abraham und sprach zu ihm: Nimm Isaak, deinen einigen Sohn, den du lieb hast, und gehe hin und opfere ihn zum Brandopfer. Und Abraham bauete einen Altar, und legte Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz, und reckte seine Hand aus, und fassete das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete.«

Das war nur das irdische Vorbild eines viel schrecklicheren himmlischen Opfers. Denn also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit durch das ewigfließende Blut des Lammes, das Blut des Sohnes, Gottes Zorn gestillt werde.

Er fühlte, daß hier das wichtigste, das notwendigste Geheimnis enthalten war; es erschien ihm aber so schrecklich, daß er daran gar nicht zu denken wagte. Seine Gedanken waren ohnmächtig wie im Irrsinn.

Will Gott, daß er seinen Sohn hinrichte, oder will er es nicht? Wird ihm dieses Blut vergeben oder wird es von ihm gefordert werden? Und wenn nicht von ihm, so von seinen Kindern und Kindeskindern und von ganz Rußland?

Er fiel mit dem Gesicht zu Boden und lag lange Zeit ausgestreckt und regungslos wie ein Toter.

Endlich hob er seinen Blick wieder zur Ikone und wandte sich mit dem verzweifelten, wahnsinnigen Gebet an den Vater, ohne den Sohn zu beachten:

»Sein Blut komme über mich, über mich allein! Bestrafe mich, Herr, und verschone mein Land!«

 


 


 << zurück weiter >>