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Die heilige Inquisition
Während seines ersten Aufenthaltes in Mailand, als er noch in Moros Diensten stand, studierte Leonardo Anatomie gemeinsam mit einem noch sehr jungen, etwa achtzehnjährigen, aber schon sehr berühmten Gelehrten, Marc Antonio, aus dem alten Geschlecht der Veroneser Patrizier della Torre, bei denen die Liebe zur Wissenschaft erblich war. Marc Antonios Vater lehrte in Padua Medizin, auch seine Brüder waren Gelehrte. Er selbst hatte sich seit seinen Knabenjahren dem Dienste der Wissenschaft geweiht, ebenso wie die Nachkommen ruhmreicher Geschlechter einst ihre ritterlichen Dienste der Dame ihres Herzens oder Gott weihten. Weder die Spiele der Kindheit noch die Leidenschaften der Jugend konnten ihn von diesem strengen Dienst ablenken. Er war einmal verliebt; da er aber zur Einsicht gelangte, man könne nicht zugleich zweien Herren – der Liebe und der Wissenschaft – dienen, verließ er die Braut und sagte sich endgültig von der Welt los. Noch in der Kindheit hatte er sich seine Gesundheit durch übermäßiges Studieren zerstört. Sein hageres, bleiches Gesicht, das ihm das Aussehen eines strengen Glaubenseiferers verlieh, war noch immer schön und erinnerte an das Gesicht Rafaels, doch drückte es größere Tiefe und Trauer aus.
Als er noch Jüngling war, stritten sich die beiden berühmten Universitäten Norditaliens, die Paduanische und Pavianische, um ihn. Und als Leonardo nach Mailand zurückkehrte, galt der zwanzigjährige Marc Antonio als einer der ersten Gelehrten Europas.
In der Wissenschaft verfolgten sie anscheinend die gleichen Ziele: sie ersetzten beide die scholastische Anatomie der mittelalterlichen arabischen Deuter des Hippokrates und des Galenos durch das Experiment, die Naturbeobachtung und durch die Erforschung des Baues des lebendigen Körpers; doch unter der äußeren Ähnlichkeit verbarg sich auch eine tiefgehende Verschiedenheit.
An den letzten Grenzen des Wissens ahnte der Künstler ein Geheimnis, das ihn durch alle Welterscheinungen hindurch anzog, gleich dem Magnet, der auch durch Gewebe hindurch Eisen anzieht. Bei der Beschreibung der Schultermuskeln sagte er: »Diese Muskeln sind durch die Enden dünner Fäden nur an den äußeren Rand ihrer Behälter befestigt: der große Meister hat es so eingerichtet, damit sie die Möglichkeit haben, sich frei auszudehnen und zusammenzuziehen, sich zu strecken und zu verkürzen.« In den Anmerkungen zu der Zeichnung, welche die Bündel der Schenkelmuskeln darstellte, schrieb er: »Betrachte diese schönen Muskeln a, b, c, d und e und wenn es dir vorkommt, es seien ihrer zu viel oder zu wenig, versuche einige hinzuzufügen oder zu entfernen; wenn es aber so recht ist, dann lobe den ersten Erbauer einer so wunderbaren Maschine.« So war für ihn das letzte Ziel eines jeden Wissens das große Staunen vor dem Unerforschlichen, vor der göttlichen Notwendigkeit, vor dem Willen des Urhebers der ersten Bewegung in der Mechanik, des ersten Baumeisters in der Anatomie.
Auch Marc Antonio fühlte das Geheimnis in den Naturerscheinungen, doch es flößte ihm keine Ehrfurcht ein; da er nicht die Macht besaß, es von sich zu weisen oder zu besiegen, kämpfte er dagegen und fürchtete sich davor. Leonardos Wissen ging zu Gott; Marc Antonios Wissen gegen Gott. Den verlorenen Glauben wollte er durch einen neuen ersetzen, durch den Glauben an den menschlichen Verstand.
Er war mildtätig. Während er Reiche oft abwies, behandelte er die Armen unentgeltlich, gab ihnen Geld und war bereit, ihnen alles zu geben, was er besaß. Er hatte jene Güte, die nur weltfremden, philosophischen Betrachtungen ergebenen Menschen eigen ist. So oft aber die Rede auf die Unwissenheit der Mönche und Pfaffen, auf die Feinde der Wissenschaft kam, verzerrte sich sein Gesicht und seine Augen funkelten vor unbändiger Wut; Leonardo fühlte, daß dieser mildtätige Mensch, wenn er die Macht besäße, die Menschen im Namen der Vernunft ebenso auf die Scheiterhaufen werfen würde, wie seine Feinde, die Mönche und Pfaffen, es im Namen Gottes taten.
Leonardo war in der Wissenschaft ebenso einsam wie in der Kunst, während Marc Antonio von Schülern umgeben war. Er riß die Menge hin, entzündete die Herzen gleich einem Propheten, tat Wunder und rettete Kranken das Leben, weniger durch Medikamente, als durch den Glauben. Und die jungen Zuhörer trieben gleich allen Schülern die Ideen ihres Lehrers auf die Spitze. Sie kämpften nicht mehr, sondern verneinten sorglos das Geheimnis der Welt und glaubten, die Wissenschaft würde über kurz oder lang alles besiegen, alles lösen und das hinfällige Gebäude des Glaubens dem Erdboden gleich machen. Sie prahlten mit dem Unglauben wie Kinder mit neuen Spielsachen; sie wüteten wie Schulknaben und in ihrer siegesgewissen Fröhlichkeit glichen sie kläffenden jungen Hunden.
Für den Künstler war der Fanatismus der vermeintlichen Diener der Wissenschaft ebenso abstoßend wie der Fanatismus der vermeintlichen Diener Gottes.
»Wenn die Wissenschaft einmal siegt,« – dachte er voll Trauer, »und der Pöbel ihr Heiligtum betritt, wird er sie durch seine Anerkennung nicht ebenso besudeln, wie er die Kirche besudelt hat? Und wird das Wissen der Menge weniger gemein sein, als ihr Glaube?«
Zu jenen Zeiten war das Beschaffen von Leichen für Zwecke der Anatomie, die Papst Bonifacius VIII. durch die Bulle Extravagantes verboten hatte, ein schwieriges und gefährliches Beginnen. Vor zweihundert Jahren hatte der Gelehrte Mundini dei Luzzi als erster gewagt, eine öffentliche Sektion zweier Leichen an der Universität Bologna vorzunehmen. Er wählte Frauen, »da sie der tierischen Natur näher stehen.« Nichtsdestoweniger quälte ihn, nach seinem eigenen Bekenntnis, das Gewissen, so daß er es gar nicht wagte, den Kopf, »den Sitz des Geistes und der Vernunft«, zu sezieren.
Die Zeiten hatten sich geändert. Marc Antonios Schüler waren weniger scheu, sie verschafften sich frische Leichen, ohne vor irgend welchen Gefahren oder selbst Verbrechen zurückzuschrecken: sie kauften sie nicht nur um teures Geld den Henkersknechten und Totengräbern ab, sondern entwendeten sie auch mit Gewalt, stahlen sie von den Galgen und gruben sie aus den Gräbern der Friedhöfe heraus; wenn der Meister es erlaubt hätte, würden sie wohl an abgelegenen Vororten die Passanten umgebracht haben.
Die große Anzahl von Leichen machte die Arbeit des Della Torre für den Künstler besonders wichtig und wertvoll.
Er verfertigte eine ganze Reihe von anatomischen Zeichnungen mit der Feder und dem Rötel, mit Kommentaren und Randnoten. In den Methoden der Forschung trat der Gegensatz der Forscher noch deutlicher hervor.
Der eine war nur Gelehrter, der andere Gelehrter und Künstler zugleich. Marco Antonio mußte. Leonardo wußte und liebte – und die Liebe vertiefte das Wissen. Seine Zeichnungen waren so genau und zugleich so schön, daß es schwer fiel zu entscheiden, wo die Kunst aufhörte und die Wissenschaft anfing. Das eine ging in das andere über, das eine verschmolz mit dem anderen zu einem untrennbaren Ganzen.
»Demjenigen, der einwenden wollte«, schrieb er in diesen Notizen, »es wäre besser, Anatomie an den Leichen als nach meinen Zeichnungen zu studieren, werde ich zur Antwort geben: dem wäre so, wenn du bei einem Schnitt alles sehen könntest, was die Zeichnung darstellt; so groß dein Scharfsinn aber auch sein mag, würdest du nur einige Blutgefäße sehen und erkennen. Ich habe aber mehr als zehn menschliche Körper verschiedenen Alters seziert, um mir ein vollkommenes Wissen anzueignen; ich habe alle Glieder zerstört, indem ich alles Fleisch, das die Adern einschließt, bis auf die letzten Fasern entfernt habe, ohne das Blut austreten zu lassen, außer den kaum merklichen Tropfen aus den Haargefäßen. Und wenn eine Leiche nicht ausreichte, weil sie während der Untersuchung in Verwesung überging, sezierte ich so viele Leichen, als es die vollkommene Kenntnis des Gegenstandes erheischte; oft machte ich dieselbe Untersuchung zwei Mal, um die Unterschiede zu erkennen. Durch das Aneinanderreihen der Zeichnungen stelle ich jedes Glied und jedes Organ so dar, als hieltest du sie in den Händen und könntest sie durch Umwenden von allen Seiten betrachten, von innen und außen, von oben und unten.«
Der hellseherische Geist des Künstlers verlieh dem Auge und der Hand des Gelehrten die Genauigkeit eines mathematischen Apparates. Die von niemanden gekannten, in dem Bindegewebe oder den Schleimhäuten verborgenen Verzweigungen der Adern, die in den Muskeln enthaltenen feinsten Blutgefäße und Nerven betastete er mit dem Skalpell und legte sie mit seiner linken Hand bloß, die so stark war, daß sie Hufeisen bog und so zart, daß sie das Mysterium des weiblichen Reizes in Giocondas Lächeln aufspürte. Marc Antonio, der an nichts als an den Verstand glauben wollte, empfand vor diesem hellseherischen Wissen zeitweise Verlegenheit und beinahe Furcht, wie vor einem Wunder.
Manchmal sagte sich der Künstler: »So muß es sein, so ist es gut.« Und wenn er bei der Untersuchung seine Vermutung bestätigt fand, schien der Wille des Schöpfers dem Willen des Verachtenden zu entsprechen: die Schönheit war Wahrheit, die Wahrheit Schönheit.
Marc Antonio fühlte einerseits, daß Leonardo sich der Wissenschaft, ebenso wie allem anderen nur zeitweise und gleichsam spielend hingab und sich seine Freiheit für neues Beginnen aufsparte, aber sah zugleich, welche unendliche Geduld, welche »trotzige Strenge« die Arbeit erforderte, die in den Händen des Meisters als ein Spiel und ein Zeitvertreib erschien.
»Und wenn du Liebe zur Wissenschaft hast«, wandte sich Leonardo in seinen Notizen an den Leser, »wird dich nicht das Gefühl des Ekels zurückhalten? Und wenn du den Ekel überwunden haben wirst, wird dich nicht zur nächtlichen Stunde Furcht vor den zerfetzten, blutigen Toten erfassen? Und wenn du die Furcht besiegt haben wirst, bist du dir auch bewußt, nach welchem Plan du vorgehen wirst, was zu einer solchen Darstellung der Körper unumgänglich ist? Und wenn du einen Plan hast, besitzt du die Kenntnis der Perspektive? Und wenn du sie besitzt, beherrschst du die Methoden der Geometrie und der Mechanik, um die Kraft und Spannung der Muskeln zu bemessen? Und schließlich die Hauptsache: hast du genügend Geduld und Genauigkeit? Daß ich alle diese Eigenschaften besitze, werden die von mir verfaßten hundertundzwanzig Bände der Anatomie beweisen. Der Grund, daß ich meine Arbeit nicht zu dem gewünschten Ende gebracht habe, ist nicht in Eigennutz und Nachlässigkeit, sondern nur in Zeitmangel zu suchen.«
»So wie vor mir Ptolemäus die Welt in seiner ›Kosmographie‹ beschrieben hat, beschreibe ich den menschlichen Körper, diesen kleinen Kosmos, die kleine Welt in der großen.«
Er ahnte, daß, wenn seine Arbeiten von den Menschen erkannt und verstanden werden würden, sie in der Wissenschaft die größte Umwälzung hervorrufen müßten; er wartete auf »Jünger« und »Nachfolger«, welche in seinen Zeichnungen »die Wohltat, die er der Menschheit erwiesen«, richtig einschätzen könnten.
Er schrieb: »Laß das Buch der ›Elemente der Mechanik‹, deiner Erforschung der Gesetze der Bewegungen und Kräfte des Menschen und anderer Lebewesen vorangehen; dann wirst du jeden anatomischen Lehrsatz mit Hilfe der Mechanik geometrisch klar beweisen können.«
Er betrachtete die Glieder der Menschen und der Tiere als lebendige Hebel. Die Wurzeln jedes Wissens ruhten bei ihm in der Mechanik, welche die Verkörperung »der wunderbaren Gerechtigkeit des Urhebers der ersten Bewegung« war. Und der wohltätige Wille des Ersten Baumeisters fußte auf dem gerechten Willen des Urhebers der ersten Bewegung, des Mysteriums aller Mysterien. Bei all seiner mathematischen Genauigkeit hatte Leonardo viele Hypothesen, Vorahnungen und Prophezeiungen aufgestellt, die Marc Antonio durch ihre Kühnheit erschreckten und ihm ebenso ungeheuerlich erschienen, wie einem Menschen, der zum ersten Mal Berge sieht, denen die fernen Gipfel als schwebende Wolken erscheinen; es fällt ihm schwer zu glauben, daß diese Visionen Granitwurzeln besitzen, die bis an das Herz der Erde reichen.
Bei der Erforschung der verschiedenen Entwickelungsstufen der Embryos, die er in den Leichen schwangerer Frauen vorfand, war Leonardo durch die Ähnlichkeit des Körperbaues der Menschen mit demjenigen der Tiere und zwar nicht nur der Vierfüßler, sondern auch mit dem der Fische und Vögel überrascht.
»Vergleiche den Menschen,« – schrieb er, – »mit dem Affen und mit vielen anderen Tieren ähnlicher Art. Vergleiche die Eingeweide des Menschen mit den Eingeweiden des Affen, des Löwen, des Ochsen, der Fische und der Vögel. Vergleiche die Finger der menschlichen Hand mit den Fingern der Bärentatze, mit den Knorpeln der Fischflossen, mit dem Flügelgerippe der Vögel und der Fledermaus.«
»Für denjenigen, der die vollkommene Kenntnis des menschlichen Körperbaues besitzt, ist es ein Leichtes, allumfassend zu sein, denn die Glieder aller Tiere sind einander ähnlich.«
In der Vielgestaltigkeit des Körperbaues erkannte er das einzige Gesetz der Entwicklung, den einzigen zusammenhängenden Plan der Natur.
Marc Antonio stritt, ereiferte sich, nannte diese Ahnungen Faseleien, die eines Gelehrten unwürdig seien und dem Geiste der exakten Wissenschaft widersprächen; doch manchmal verstummte er, gleichsam besiegt und bezaubert, und lauschte. In diesen Augenblicken war sein kindlich zartes und mönchisch strenges Antlitz schön. Und wenn Leonardo in seine tiefen, stets traurigen Augen blickte, fühlte er, daß dieser Einsiedler der Wissenschaft nicht nur ihr Priester, sondern auch ihr Opfer sei: für ihn war die größte Trauer »die Tochter der großen Erkenntnis.«
Dank der Verwendung des Statthalters Charles d'Amboise und des Königs von Frankreich erhielt der Künstler von der Florentiner Republik einen Urlaub auf unbestimmte Zeit, und im nächsten Jahr, 1507, trat er endgültig in die Dienste Ludwigs XII., ließ sich in Mailand nieder und kam nur mitunter geschäftlich nach Florenz.
Es vergingen vier Jahre.
Ende des Jahres 1511 arbeitete Giovanni Beltraffio, der um diese Zeit schon als geschickter Maler galt, an einem Wandgemälde in der neuen Kirche San Mauritio, die dem alten, auf den Ruinen eines alt-römischen Zirkus und eines Jupitertempels erbauten Frauenkloster Maggiore gehörte, von diesem durch eine hohe Mauer getrennt, die sich längs der Della-Vigna-Straße hinzog, befand sich in einem verwilderten Garten der einst prunkvolle, aber längst verlassene und halb zerfallene Palast des regierenden Geschlechtes Carmagnola.
Die Nonnen hatten diesen Besitz samt dem Gebäude an den Alchimisten Galeotto Sacrobosco und dessen Nichte, Monna Kassandra, die Tochter seines Bruders, Messer Luigi, des berühmten Sammlers von Altertümern, vermietet; sie waren vor kurzem nach Mailand zurückgekehrt.
Bald nach der ersten französischen Invasion und der Plünderung des kleinen Häuschens der Hebamme Monna Sidonia beim Catarana-Kanal hinter dem Vercellina-Tor, verließen sie die Lombardei und verbrachten neun Jahre auf der Wanderung im Orient, in Griechenland, auf den Inseln des Archipels, in Kleinasien, Palästina und Syrien. Es waren seltsame Gerüchte über sie verbreitet: die einen versicherten, der Alchimist hätte den Stein der Weisen gefunden, der Blei in Gold verwandelte; andere erzählten, er hätte dem syrischen Statthalter für seine Versuche ungeheure Geldsummen entlockt und wäre damit geflohen; andere wollten wissen, Monna Kassandra hätte durch den Vertrag mit dem Teufel und durch das Vermächtnis ihres Vaters an dem Standort eines ehemaligen phönizischen Tempels der Astarte einen vergrabenen Schatz gehoben; andere wieder hatten gehört, sie hätte in Konstantinopel einen alten, schwer reichen Kaufmann aus Smyrna ausgeraubt, den sie mit Zauberkräutern behext habe. Wie dem auch sei, jedenfalls kehrten sie als reiche Leute zurück.
Kassandra, die frühere Hexe, die Schülerin des Demetrius Chalkondila, die Ziehtochter der alten Hexe Sidonia, wurde jetzt zu einer frommen Anhängerin der Kirche, oder sie heuchelte wenigstens es zu sein; sie hielt strenge alle Zeremonien und Fasttage ein, besuchte die kirchlichen Messen und gewann durch ihre Freigebigkeit das besondere Wohlwollen nicht nur der Nonnen des Klosters Maggiore, die sie auf ihrem Besitz untergebracht hatten, sondern auch das seiner Heiligkeit, des Erzbischofs von Mailand in eigener Person. Böse Zungen behaupteten indessen, (vielleicht nur aus Neid, der den Menschen plötzlichem Reichtum gegenüber eigen ist), sie sei von ihren fernen Wanderungen als eine noch größere Heidin zurückgekehrt; die Hexe wäre genötigt gewesen, mit dem Alchimisten aus Rom zu fliehen, um sich vor der heiligen Inquisition zu retten und sie würden früher oder später dem Scheiterhaufen nicht entrinnen.
Vor Leonardo empfand Galeotto noch immer Ehrfurcht und hielt ihn für seinen Lehrmeister, für den Besitzer der »geheimen Weisheit des Hermes Trismegistos«.
Der Alchimist hatte von seiner Reise viele seltene Bücher mitgebracht, hauptsächlich mathematische Werke der alexandrinischen Gelehrten aus der ptolemäischen Periode. Der Künstler entlieh bei ihm oft diese Bücher, welche er gewöhnlich durch Giovanni holen ließ, der in der Nachbarschaft, in der Kirche San Mauritio arbeitete. Nach einiger Zeit begann Beltraffio aus alter Gewohnheit ihn unter irgend einem Vorwand immer öfter und öfter zu besuchen, in Wirklichkeit aber nur, um Kassandra zu sehen.
Bei den ersten Begegnungen war das Mädchen auf ihrer Hut, sie spielte eine reuige Sünderin und sprach von ihrer Absicht, den Schleier zu nehmen; als sie sich aber überzeugt hatte, daß sie nichts zu befürchten habe, wurde sie nach und nach offenherziger.
Sie gedachten der Gespräche, die sie vor zehn Jahren geführt hatten, da sie beide beinahe Kinder waren und einander auf dem einsamen Hügel über dem Catarana-Kanal, an den Mauern des Klosters der hl. Redegonde trafen; sie gedachten des Abends mit dem bleichen Wetterleuchten, mit dem schwülen, sommerlichen Geruch des Wassers aus dem Kanal, mit dem dumpfen, gleichsam unterirdischen Grollen des Donners; er erinnerte sich noch an ihre Prophezeiung, von der Auferstehung der olympischen Götter und an ihre Einladung zum Hexensabbat.
Jetzt lebte sie als Einsiedlerin; sie war krank oder schien es zu sein und verbrachte beinahe ihre ganze freie Zeit, die ihr nach dem Besuch der Kirchenmessen übrig blieb, in einem abgelegenen Raum, in den sie niemanden hineinließ. Es war eines der wenigen noch erhaltenen Gemächer des alten Palastes, ein düsterer Saal mit Spitzbogenfenstern, die in den verwilderten Garten hinausgingen, wo die Zypressen als eine stumme Wache emporragten und wo das grellgrüne, feuchte Moos die ausgehöhlten Stämme der Ulmen bedeckte. Die Einrichtung dieses Zimmers erinnerte an ein Museum und an eine Bibliothek. Hier befanden sich die von ihr aus dem Orient mitgebrachten Altertümer – Bruchstücke hellenischer Statuen, ägyptische Götter aus glattem schwarzen Granit, mit Hundeköpfen, gravierte Steine der Gnostiker mit dem Zauberwort » Abraxas«, das die dreihundertfünfundsechzig erhabenen Himmel bezeichnet, byzantinische Pergamente, hart wie Elfenbein, mit Fragmenten für alle Ewigkeit verlorener Werke der griechischen Poesie, irdene Scherben mit assyrischer Keilschrift, in Eisenplatten gebundene Bücher persischer Magier und gleich Blumenblättern durchsichtig zarte Papyrusrollen aus Memphis.
Sie erzählte ihm von ihren Wanderungen, von den Wundern, die sie gesehen, von der einsamen Größe der weißen Marmortempel auf den schwarzen, vom Meer zerfressenen Felsen inmitten der ewig blauen, durch ihren Salzgeruch an den frischen Duft des nackten Körpers der schaumgeborenen Göttin erinnernden jonischen Wellen, von ihren unsagbaren Mühsalen, Nöten und Gefahren. Und als er sie einmal fragte, was sie auf diesen Wanderungen gesucht, wozu sie diese Altertümer gesammelt und so viele Qualen erduldet hätte, antwortete sie ihm mit den Worten ihres Vaters, des Messer Luigi Sacrobosco:
»Um die Toten wiederzuerwecken!« Und in ihren Augen flammte ein Feuer auf, an dem er die frühere Hexe Kassandra erkannte.
Sie hatte sich wenig verändert. Es war noch immer dasselbe, der Freude und Trauer gleich fremde Gesicht, das an die Reglosigkeit alter Statuen erinnerte, die Stirne war breit und nieder, die Brauen waren gerade und fein, auf den streng aufeinandergepreßten Lippen konnte man sich kein Lächeln vorstellen und die Augen waren durchscheinend gelb wie Bernstein. Dieses durch die Krankheit und durch eine maßlos konzentrierte Gedankenarbeit verfeinerte Gesicht, besonders die auffallend schmale und kleine untere Partie, mit der ein wenig vorstehenden Unterlippe drückte jetzt noch mehr strenge Ruhe und zugleich kindliche Hilflosigkeit aus. Ihre trockenen, dichten Haare, die lebendiger als das ganze Gesicht waren, als besäßen sie gleich den Schlangen der Medusa ein Leben für sich, umgaben die bleichen Züge mit einer schwarzen Glorie, die das Antlitz noch bleicher und regloser, die roten Lippen leuchtender und die gelben Augen durchsichtiger erscheinen ließ. Und der Reiz dieses Mädchens, das in ihm Neugierde, Furcht und Mitleid erregte, zog Giovanni noch unwiderstehlicher als vor zehn Jahren an.
Während der Wanderung durch Griechenland besuchte Kassandra die Heimat ihrer Mutter, die kleine, öde Stadt Mistra, neben den Ruinen von Sparta, zwischen den wüsten, von der Sonne verbrannten Hügeln des Peloponnesus, wo vor einem halben Jahrhundert der letzte der Lehrmeister hellenischer Weisheit, Gemistos Plethon, gestorben war. Sie sammelte die nicht herausgegebenen Fragmente seiner Werke, seine Briefe, die ehrfurchtsvollen Überlieferungen der Schüler, welche daran glaubten, die Seele Platos wäre noch ein Mal vom Olymp herabgestiegen und hätte sich in Plethon verkörpert. Als sie Giovanni von ihrem dortigen Aufenthalte erzählte, wiederholte sie die Prophezeiung, die er schon bei einem ihrer früheren Gespräche am Catarana-Kanal von ihr gehört hatte und an welche er seitdem oft denken mußte, – an die Worte Plethons, die der hundertjährige Philosoph drei Jahre vor dem Tode angeblich ausgesprochen hatte:
»Wenige Jahre nach meinem Ende wird über allen Völkern der Erde eine einzige Wahrheit aufleuchten und alle Menschen werden sich in einem Geiste zum einigen Glauben bekennen.« Als man ihn fragte, welchen Glauben er meine, ob den christlichen oder den mohammedanischen, antwortete er: »Keinen von beiden, sondern einen Glauben, der dem alten Heidentum nicht ungleich ist.«
»Seit Plethons Tod ist schon mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen«, erwiderte Giovanni, »und die Prophezeiung geht noch immer nicht in Erfüllung. Glaubt Ihr denn noch immer daran, Monna Kassandra?«
»Plethon war nicht im Besitz der vollkommenen Wahrheit«, sagte sie ruhig, »er irrte sich in Vielem, denn er wußte Vieles nicht.«
»Was wußte er nicht?« fragte Giovanni und fühlte plötzlich, wie sein Herz unter ihrem tiefen, forschenden Blick still stand.
Statt zu antworten, nahm sie ein altes Pergament vom Bücherbrett, – es war Aischylos' Tragödie »Der gefesselte Prometheus«, – und las ihm einige Verse vor. Giovanni verstand ein wenig griechisch und das, was er nicht verstand, erklärte sie ihm.
Nachdem der Titane alles, was er den Menschen geschenkt, – das Vergessen des Todes, die Hoffnung und das dem Himmel geraubte Feuer aufgezählt hatte, Gaben, welche sie früher oder später den Göttern gleich machen würden, – prophezeite er den Sturz des Zeus:
Dann geht der ganze Vaterfluch des Kronos,
Den er, gestürzt vom alten Sitze, sprach,
Dir in Erfüllung, und der Götter keiner
Weist dir den Rettungsweg, als ich allein!
Ich kann's; ich weiß den Weg!
Der Gesandte der Olympier, Hermes, verkündete Prometheus:
Und nicht ein Ende hoffe solchen Qualen,
Bevor der Götter Einer dir erscheint,
Bereit in Hades' Nacht für dich zu steigen,
Zum tiefen Nebelschlund des Tartaros.
»Wie glaubst du, Giovanni«, sprach Kassandra, das Buch schließend, »wer ist dieser ›Götter Einer‹, der in den Tartarus hinabsteigt?«
Giovanni antwortete nicht; ihm war, als öffnete sich vor ihm beim Scheine eines plötzlich aufleuchtenden Blitzes ein Abgrund.
Monna Kassandra sah ihn noch immer mit ihren klaren, durchscheinenden Augen starr an; in diesem Augenblick erinnerte sie wirklich an Agamemnons unselige Gefangene, die hellsehende Jungfrau Kassandra.
»Giovanni«, sagte sie nach einer Pause, »hast du von dem Menschen gehört, der vor mehr als zehn Jahrhunderten gleich dem Philosophen Plethon von der Wiederauferweckung der toten Götter geträumt hat, vom Kaiser Flavius Claudius Julianus?«
»Von Julianus Apostata?«
»Ja, von demjenigen, der seinen Feinden, den Galiläern, und sich selbst leider als ein Abtrünniger erschien, es jedoch nicht zu sein wagte, da er den alten Wein in neue Schläuche füllte: die Hellenen könnten ihn ebenso gut wie die Christen einen Abtrünnigen heißen ...«
Giovanni erzählte ihr von einem Mysterium des Lorenzo Medici Magnifico, das er einst in Florenz gesehen hatte; darin wurde der Märtyrertod zweier Jünglinge, San Giovanni und Paolo, die von Julianus Apostata für ihren christlichen Glauben hingerichtet wurden, geschildert. Er kannte sogar noch einige Verse aus diesem Mysterium, die ihm besonders aufgefallen waren; unter anderem den Todesschrei des vom Schwerte Merkurs durchbohrten Julianus:
»Du hast gesiegt, Galiläer!« O Christo Galileo, tu hai pur vinto!
»Höre, Giovanni«, fuhr Kassandra fort, »in dem seltsamen und beklagenswerten Schicksale dieses Menschen ist ein großes Geheimnis enthalten. Sie beide, sage ich, sowohl Cäsar Julianus als auch der Weise Plethon waren in gleichem Maße im Unrecht, weil sie nur die eine Hälfte der Wahrheit besaßen, die ohne die zweite Hälfte eine Lüge ist: sie hatten beide die Prophezeiung des Titanen vergessen, die Götter würden erst auferstehen, wenn die Hellen sich mit den Finsteren vereinigt haben würden, der Himmel oben mit dem Himmel unten, und das was Zwei war, Eins sein würde. Sie haben das nicht verstanden und haben ihre Seele vergeblich für die olympischen Götter hingegeben ...«
Sie hielt inne, als wagte sie nicht zu Ende zu sprechen und fügte dann leise hinzu:
»Wenn du es wüßtest, Giovanni, wenn ich dir alles bis ans Ende eröffnen könnte! ... Doch nein, jetzt ist es noch zu früh. Ich sage dir vorläufig nur das Eine: es gibt unter den olympischen Göttern einen Gott, der sich mehr als alle anderen seinen unterirdischen Brüdern nähert, einen Gott, der hell und finster ist, wie die Morgendämmerung, und erbarmungslos wie der Tod; er ist auf die Erde herabgestiegen und hat den Sterblichen in seinem eigenen Blut, in dem berauschenden Saft der Weinreben das Vergessen des Todes, ein neues Feuer vom Feuer des Prometheus gegeben. Mein Bruder, wer unter den Menschen wird es verstehen und der Welt sagen, wie die Weisheit des Rebenbekränzten der Weisheit des Dornenbekränzten gleicht, desjenigen der gesagt hat: ›Ich bin der rechte Weinstock‹, und der ebenso wie Gott Dionysos die Welt mit seinem Blut berauscht? – Hast du verstanden, wovon ich spreche, Giovanni? – Wenn du es nicht verstanden hast, so schweige und frage nicht, denn es ist darin ein Geheimnis verborgen, von dem man heute noch nicht sprechen darf ...«
In der letzten Zeit äußerte sich bei Giovanni eine neue, ihm bis dahin unbekannte Kühnheit der Gedanken. Er fürchtete nichts, da er nichts zu verlieren hatte. Er fühlte, daß weder Fra Benedettos Glaube, noch Leonardos Wissen seine Qualen zu lindern und die Widersprüche zu lösen vermochten, in denen seine Seele hinstarb. Einzig und allein in Kassandras dunklen Prophezeiungen glaubte er den vielleicht furchtbarsten, aber einzigen Weg zu einer Versöhnung zu finden, und er betrat diesen letzten Weg mit der Tollkühnheit des Verzweifelnden.
Sie kamen einander immer näher.
Einmal fragte er sie, weshalb sie heuchele und vor den Menschen dasjenige verberge, was ihr als Wahrheit erscheine.
»Es ist nicht alles für alle bestimmt«, – erwiderte Kassandra. »Die Menge braucht das Glaubensbekenntnis der Märtyrer ebenso wie die Wunder und Zeichen, denn nur diejenigen, die nicht schrankenlos glauben, sterben für die Religion, um ihre Wahrheit anderen und sich selbst zu beweisen. Vollkommener Glaube ist aber vollkommenes Wissen. Meinst du denn wirklich, daß der Tod des Pythagoras die von ihm entdeckten Wahrheiten der Geometrie bestätigt hätte? Vollkommener Glaube ist stumm und sein Geheimnis ist über jedes Bekenntnis erhaben, wie der Meister gesagt hat: ›Erkennet alle, euch soll jedoch niemand erkennen.‹«
»Welcher Meister?« fragte Giovanni; er sagte sich:
»Das hätte Leonardo sagen können: auch er kennt alle, ihn aber niemand.«
»Der ägyptische Gnostiker Basilides«, – antwortete Kassandra und erklärte, die großen Lehrer der ersten christlichen Jahrhunderte, für die vollkommener Glaube und vollkommenes Wissen eins gewesen sei, hätten sich Gnostiker – Wissende genannt.
Und sie teilte ihm die seltsamen, manchmal an Fieberphantasien erinnernden und ungeheuerlichen Lehren der Gnostiker mit.
Einen besonders tiefen Eindruck machte auf ihn die Lehre der alexandrinischen Ophyten, der Schlangenanbeter von der Erschaffung der Welt und des Menschen:
»Über allen Himmeln herrscht ein namenloses, regloses, ungeborenes Dunkel, das schöner als jedes Licht ist; es ist der ›Unerforschliche Vater‹, Ðáô?ñ ?ãíùóïò – der Abgrund und das Schweigen. Seine einzige Tochter, die Allweisheit Gottes, trennte sich vom Vater und erkannte das Sein; sie verdüsterte sich und wurde von Trauer erfüllt. Und der Sohn ihrer Trauer war Jaldabaoth, der erschaffende Gott. Er wollte allein sein, sonderte sich von der Mutter ab und versenkte sich noch tiefer als sie in das Sein. Er erschuf die Welt des Fleisches, das verzerrte Bild der geistigen Welt, und darin den Menschen, der die Größe des Schöpfers widerspiegeln und von dessen Macht zeugen sollte. Die Diener Jaldabaoths, die Geister der Elemente, vermochten aus dem Staub nur eine sinnlose, im Urschlamm wie ein Wurm hinkriechende Körpermasse zu formen. Sie brachten sie zu ihrem König Jaldabaoth, damit er Leben hineinblase; aber die Allweisheit Gottes hatte mit dem Menschen Erbarmen und sie rächte sich an dem Sohn ihrer Freiheit und Trauer dafür, daß er von ihr abgefallen war, indem sie ihm durch Jaldabaoths Lippen zugleich mit dem fleischlichen Leben den Funken göttlicher Weisheit, die sie von ihrem unerforschlichen Vater erhalten hatte, einflößte. Und das armselige Geschöpf aus Staub und Asche, an dem der Schöpfer seine Allmacht zeigen wollte, überflügelte ihn plötzlich bei weitem und wurde das Bild und das Ebenbild nicht Jaldabaoths, sondern des wahren Gottes, des Unerforschlichen Vaters. Und der Mensch erhob sein Antlitz aus dem Staube. Der Schöpfer wurde beim Anblick des seiner Macht entronnenen Geschöpfes von Zorn und Entsetzen erfüllt. Er richtete seine Augen, in denen das Feuer verzehrender Eifersucht brannte, in den tiefsten Schoß der Materie, in den schwarzen Urschlamm und dort spiegelte sich ihr düsteres Feuer und sein wutverzerrtes Antlitz wieder; dieses Abbild wurde zum Engel der Finsternis, dem schlangengleichen, dem kriechenden und tückischen Ophyomorphos, dem Satan, der verfluchten Weisheit. Und mit seiner Hilfe erschuf Jaldabaoth die drei Reiche der Natur und versenkte den Menschen in ihre tiefsten Tiefen, wie in einen stinkenden Kerker und gab ihm das Gesetz: ›tue das eine und tue das andere nicht, und wenn du das Gesetz verletzt, bist du des Todes‹, denn er hoffte noch immer, sein Geschöpf durch die Furcht vor dem Bösen und dem Tode unter das Joch des Gesetzes zu zwingen. Doch die Allweisheit Gottes, die Befreierin, verließ den Menschen nicht und nachdem sie ihn einmal liebgewonnen hatte, liebte sie ihn bis ans Ende und schickte ihm einen Tröster, den Geist der Erkenntnis, den schlangenartigen, geflügelten, morgensternähnlichen Engel des Lichts, denjenigen, von dem es heißt: ›seid klug wie die Schlangen‹. Und er stieg zu den Menschen herab und sagte: ›Esset und ihr werdet erkennen und eure Augen werden aufgetan und werdet sein wie Gott.‹«
»Die Menge, die Kinder dieser Welt sind die Sklaven Jaldabaoths und der tückischen Schlange«, – schloß Kassandra, – »sie leben in steter Todesangst und winden sich unter dem Joch des Gesetzes. Doch die Kinder des Lichts, die Wissenden, die Gnostiker, die Erwählten der Sophia, sind in die Geheimnisse der Weisheit eingeweiht; sie mißachten alle Gesetze, übertreten alle Grenzen, sie sind unfaßbar wie Geister, frei und geflügelt wie Götter, sie erheben sich nicht im Guten und bleiben rein im Bösen, wie das Gold im Schmutz. Und der Engel der Morgenröte, der dem in der Morgendämmerung leuchtenden Sterne gleicht, führt sie durch Leben und Tod, durch Gut und Böse, durch alle Flüche und Schrecken der Welt Jaldabaoths zu ihrer Mutter, zu der allweisen Sophia und durch sie in den Schoß des namenlosen Dunkels, der über allen Himmeln und Abgründen herrscht, der reglos und ungeboren und schöner als jedes Licht ist, in den Schoß des unerforschlichen Vaters.«
Giovanni lauschte diesen Lehren der Ophyten, und verglich Jaldabaoth mit Kronos, Sophias göttlichen Funken – mit dem Feuer des Prometheus, die wohltätige Schlange, den lichtbringenden Engel Lucifer – mit dem gefesselten Titanen.
In allen Zeiten, bei allen Völkern, in Aischylos' Tragödie, in den Sagen der Gnostiker, in der Lebensgeschichte des Kaisers Julianus Apostata, in der Lehre des Weisen Plethon fand er einen fernen, verwandten Widerhall der großen Uneinigkeit und des Kampfes, der sein eigenes Herz erfüllte. Sein Schmerz vertiefte sich und besänftigte sich durch das Bewußtsein, daß die Menschen schon vor zehn Jahrhunderten gelitten, dieselben Zweifel bekämpft hatten und an denselben Widersprüchen und Verlockungen zugrunde gegangen waren wie er.
Es gab Augenblicke, wo er aus diesen Gedanken wie aus einem tiefen Rausche oder einem Fiebertraum erwachte; und dann schien es ihm, daß Monna Kassandra sich nur so stelle, als wäre sie stark, hellsehend und in Geheimnisse eingeweiht, daß sie aber in Wirklichkeit ebenso wenig wußte und sich ebenso verwirrt hatte wie er: sie waren beide noch armseligere, verlassenere und hilflosere Kinder als vor zwölf Jahren, und dieser neue Sabbat der halb göttlichen und halb satanischen Weisheit war noch wahnsinniger als der Hexensabbat, zu dem sie ihn einst eingeladen hatte und den sie jetzt als eine Belustigung des Pöbels verachtete. Ihm war bange und er wollte fliehen. Doch es war zu spät. Die Macht der Neugierde zog ihn gleich einer teuflischen Eingebung zu ihr hin, und er fühlte, er würde nicht eher von ihr lassen, als bis er alles, bis ans Ende, erfahren, und zugleich mit ihr entweder sein Heil finden oder zugrunde gehen würde.
Um diese Zeit kam der berühmte Doktor der Theologie, der Inquisitor Fra Giorgio da Casale, nach Mailand. Papst Julius II., der durch die Gerüchte von der ungeheuren Verbreitung der Zauberei in der Lombardei beunruhigt war, hatte ihn mit drohenden Bullen dahin abgesandt. Die Nonnen des Klosters Maggiore und die Beschützer, die Monna Kassandra im erzbischöflichen Palaste hatte, setzten sie von der drohenden Gefahr in Kenntnis. Fra Giorgio war jenes Mitglied der Inquisition, vor dem sich Monna Kassandra und Messer Galeotto aus Rom geflüchtet hatten. Sie wußten, daß keine Fürsprache sie erretten könnte, wenn er sie wieder in seine Gewalt bekommen sollte, und sie beschlossen, sich in Frankreich zu verbergen und, wenn es nötig sein sollte, auch noch weiter, nach England und Schottland zu gehen.
Eines Morgens, zwei Tage vor der geplanten Abreise, unterhielt sich Giovanni mit Monna Kassandra wie gewöhnlich in ihrem Arbeitszimmer, dem abgelegenen Saale des Palastes Carmagnola.
Das Sonnenlicht, welches durch die dichten, schwarzen Zweige der Cypressen in die Fenster drang, erschien bleich wie Mondlicht und das Gesicht des Mädchens war besonders schön und reglos. Erst jetzt, vor der Trennung, begriff Giovanni, wie nahe sie ihm stand.
Er fragte, ob sie sich noch einmal sehen würden und ob sie ihm jenes letzte Geheimnis eröffnen würde, von dem sie so oft gesprochen hatte.
Kassandra sah ihn an und nahm schweigend aus einer Schatulle einen flachen, viereckigen, durchsichtig grünen Stein heraus. Es war die berühmte »Tabula Smaragdina«, die smaragdene Gesetzestafel, welche angeblich in einer Höhle nächst der Stadt Memphis gefunden worden war und zwar in den Händen der Mumie eines Priesters; nach der Überlieferung war diese Mumie die irdische Hülle des Hermes Trismegistos, des ägyptischen Or, des Gottes des Grenzraines, des Führers der Toten in das Reich der Schatten gewesen. Auf der einen Seite des Smaragdes waren mit koptischen, auf der anderen Seite mit althellenischen Schriftzeichen vier Verse eingraviert:
Ïõñáíï áíù ïõñáíï êáôù
Áóôåñá áíù áóôåñá êáôù
Ðáí áíù ðáí ôïõôï êáôù
Ôáõôá ëáâå êáé åõôõ÷å.
Der Himmel oben, der Himmel unten,
Die Sterne oben, die Sterne unten.
Alles was oben, das ist auch unten,
Wenn du's verstehst, ist es dein Wohl.
»Was bedeutet das?« fragte Giovanni.
»Komm zu mir heute Nacht«, sagte sie leise und feierlich. »Ich werde dir alles sagen, was ich selbst weiß; hörst du, alles, bis ans Ende. Und jetzt wollen wir nach alter Sitte vor der Trennung den letzten brüderlichen Kelch leeren.«
Sie holte ein kleines mit Wachs versiegeltes Tongefäß, wie solche im fernen Orient im Gebrauch sind, herbei, füllte daraus einen alten Chrysolithkelch, der mit gravierten Darstellungen des Gottes Dionysos und seiner Bacchantinnen geschmückt war, mit dickflüssigem, seltsam duftendem, goldig-rosigem Wein, trat an das Fenster und erhob den Becher wie zu einem Trankopfer. Die Strahlen der bleichen Sonne drangen durch den rosigen Wein wie durch warmes Blut und ließen die nackten Körper der Bacchantinnen, die den rebenbekränzten Gott mit ihrem Tanz feierten, wie lebend erscheinen.
»Einst glaubte ich«, sagte sie noch leiser und noch feierlicher, »daß dein Lehrer Leonardo das letzte Geheimnis besitze, denn sein Gesicht ist so schön, als hätte sich in ihm der olympische Gott mit dem unterirdischen Titanen vereinigt. Jetzt sehe ich aber, daß er nur strebt und nichts erreicht, sucht und nichts findet, weiß und nichts versteht. Er ist der Vorläufer dessen, der ihm folgt und der mehr ist als er. – Mein Bruder, leeren wir jetzt diesen Abschiedskelch dem Unbekannten zu Ehren, dem letzten Versöhner, den wir beide anrufen!«
Und sie trank den Kelch andächtig, als vollziehe sie ein heiliges Sakrament, bis zur Hälfte aus und reichte ihn dann Giovanni:
»Fürchte nichts«, sprach sie, »es sind keine verbotenen Zauberkräfte darin. Dieser Wein ist rein und heilig: er stammt von den Reben, die auf Nazareths Hügeln wachsen. Das ist das reinste Blut des Dionysos-Galiläers.«
Als er getrunken hatte, flüsterte sie rasch und einschmeichelnd, indem sie ihm beide Hände zutraulich liebkosend auf seine Schultern legte: »Komm also, wenn du alles wissen willst, komme, ich werde dir das Geheimnis sagen, das ich noch nie und niemandem gesagt habe; ich werde dir die letzte Qual und Freude eröffnen, in der wir auf ewig vereint sein werden, wie Bruder und Schwester, wie Bräutigam und Braut!«
Und in den Strahlen der Sonne, die durch die dichten Zypressenzweige hereindrangen und bleich wie die des Mondes waren, – ebenso wie in jener denkwürdigen Gewitternacht am Catarana-Kanal, im Scheine des bleichen Wetterleuchtens, – beugte sie über ihn ihr Gesicht, das reglos und streng und weiß wie gemeißelter Marmor war, mit dem Glorienschein der schwarzen, duftigen Haare, die gleich den Schlangen der Medusa lebten, mit den blutroten Lippen und den bernsteingelben Augen.
Das bekannte Zittern des Entsetzens überlief Beltraffios Herz, und er dachte:
»Die weiße Teufelin!«
Zur vereinbarten Stunde stand er an der Pforte in der abgelegenen Della Vigna-Gasse, vor der Mauer des Gartens, welcher den Palast Carmagnola umgab.
Die Tür war verschlossen. Er klopfte lange. Es wurde nicht geöffnet. Da ging er von der anderen Seite, durch die Straße Sant' Agnese zu dem Tor des benachbarten Klosters Maggiore und erfuhr von der Pförtnerin eine furchtbare Nachricht: Der Inquisitor des Papstes Julius II., Fra Giorgio da Casale, war unerwartet in Mailand eingetroffen und hatte sofort befohlen, den Alchimisten Galeotto Sacrobosco und dessen Nichte, Monna Kassandra, festzunehmen, da sie der schwarzen Magie am meisten verdächtig erschienen.
Galeotto gelang es noch rechtzeitig zu fliehen. Monna Kassandra befand sich in der Folterkammer der allerheiligsten Inquisition.
Als Leonardo davon erfuhr, wandte er sich mit seinen Bitten und seiner Fürsprache für die Unglückliche an seine Gönner, den ersten Schatzmeister Ludwigs XII., Florimond Roberté, und an den Statthalter des Königs von Frankreich in Mailand, Charles d'Amboise.
Auch Giovanni tat sein Möglichstes; er besorgte die Briefe des Meisters und zog am Gerichtshofe der Inquisition, der sich neben dem Dom im erzbischöflichen Palaste befand, Erkundigungen ein.
Hier lernte er Fra Giorgios ersten Sekretär, Fra Michele da Valverda, kennen, der Magister der Theologie war und ein Buch über schwarze Magie geschrieben hatte. In diesem »Neuesten Hexenhammer«, wurde unter anderem bewiesen, daß der sogenannte Nächtliche Bock, Hyrcus Nocturnus, der Vorsitzende des Sabbats, ein naher Verwandter jenes Ziegenbocks sei, der einst die Hellenen unter wollüstigen Tänzen und Chören, aus denen sich nachher die Tragödie entwickelte, dem Gotte Dionysos opferten. Fra Michele behandelte Beltraffio mit bestrickender Höflichkeit. Er gab sich den Anschein, lebhaften Anteil an Kassandras Schicksal zu nehmen, und an ihre Unschuld zu glauben; zugleich heuchelte er auch, ein Bewunderer Leonardos, »des größten der christlichen Meister«, wie er sich ausdrückte, zu sein. Dabei fragte er den Schüler über das Leben, die Gewohnheiten, die Arbeiten und die Gedanken des Meisters aus. So oft jedoch die Rede auf Leonardo kam, war Giovanni auf der Hut und wäre lieber gestorben, als daß er den Meister auch nur mit einem einzigen Wort verraten hätte. Als Fra Michele sich davon überzeugt hatte, daß seine List vergeblich war, erklärte er eines Tages, er hätte Giovanni trotz ihrer kurzen Bekanntschaft wie einen Bruder liebgewonnen und halte es für seine Pflicht, ihn von der Gefahr in Kenntnis zu setzen, welche Messer da Vinci bedrohe, der im Verdacht der Zauberei und der schwarzen Magie stehe.
»Das ist eine Lüge!« rief Giovanni aus. »Er hat sich nie mit schwarzer Magie befaßt und er glaubt nicht einmal ...«
Beltraffio sprach nicht zu Ende. Der Inquisitor sah ihn lange an.
»Was wolltet Ihr sagen, Messer Giovanni?«
»Nein, es ist nichts.«
»Ihr wollt mit mir nicht offenherzig sein, mein Freund. Ich weiß ja, Ihr wolltet sagen: Messer Leonardo glaubt nicht einmal an die Möglichkeit der schwarzen Magie.«
»Das wollte ich nicht sagen«, – versicherte Giovanni hastig. »Im übrigen, wenn er daran auch nicht glauben würde, könnte das denn wirklich als ein Beweis seiner Schuld aufgefaßt werden?«
»Der Teufel ist ein vorzüglicher Logiker«, – erwiderte der Mönch mit einem leisen Lächeln. »Er macht manchmal seine erfahrensten Feinde stutzen. Wir haben neulich von einer Hexe den Inhalt seiner Rede auf dem Sabbat erfahren. ›Meine Kinder›, sagte er, ›freut euch und seid lustig, denn mit Hilfe unserer neuen Verbündeten, der Gelehrten, welche durch ihre Verneinung der Macht des Teufels das Schwert der allerheiligsten Inquisition abstumpfen, werden wir in kurzer Zeit einen endgültigen Sieg davontragen und unsere Herrschaft über das ganze Weltall ausdehnen.›«
Fra Michele sprach ruhig und sicher von den unerhörtesten Äußerungen des bösen Geistes, unter anderem von den Anzeichen, an welchen man die von Teufeln und Hexen auf die Welt gebrachten kleinen Werwölfe erkennen könne: diese blieben immer klein und wären dabei bedeutend schwerer als die gewöhnlichen Säuglinge, sie wögen 80 bis 100 Pfund, schrien immer und sögen die Brüste von fünf, sechs Ammen leer.
Er gab mit mathematischer Genauigkeit die Zahl der Hauptmachthaber der Hölle an; sie belief sich auf 572 und die der ihnen untergebenen, jüngeren Teufel verschiedenen Standes auf 7,405,926.
Einen besonderen Eindruck machte auf Giovanni jedoch die Lehre von den Incuben und Succuben, den doppelgeschlechtlichen Dämonen, die willkürlich männliche oder weibliche Gestalt annehmen, um die Menschen zu verführen und mit ihnen in fleischlichen Verkehr zu treten. Der Mönch erklärte ihm, wie die Teufel aus verdichteter Luft oder aus den von den Galgen geraubten Leichen Körper für die Unzucht bilden; diese blieben aber bei den feurigsten Liebkosungen kalt und gleichsam tot. Er führte die Worte des heiligen Augustins an, der die Existenz der Antipoden als eine gotteslästerliche Ketzerei in Abrede stellte, jedoch nicht an der Existenz von Incuben und Succuben zweifelte, die angeblich einst als Faune, Satyre, Nymphen, Hamadryaden und andere Gottheiten die Bäume, das Wasser und die Luft bewohnten und von den Heiden verehrt wurden.
»Ebenso wie im Altertum die unreinen Götter und Göttinnen zum Zwecke sündhafter Buhlerei zu den Menschen herabstiegen«,– fügte Fra Michele seine eigene Auffassung hinzu, – »können auch jetzt noch, nicht nur die niederen, sondern auch die mächtigsten Dämonen, wie z. B. Apollo und Bacchus als Incuben erscheinen, Diana und Venus aber als Succuben.«
Aus diesen Worten konnte Giovanni schließen, daß die Weiße Teufelin, die ihn das ganze Leben verfolgte, der Succubus Aphrodite gewesen war.
Manchmal nahm ihn Fra Michele zu den Gerichtsverhandlungen mit, da er wohl noch immer hoffte, in ihm früher oder später einen Genossen und Spion zu finden; er wußte aus Erfahrung, wie leicht man in den Bann der Schrecken, der Inquisition geriet. Giovanni überwand Furcht und Ekel und weigerte sich nicht, den Untersuchungen und Folterungen beizuwohnen, da er seinerseits hoffte, wenigstens etwas über Kassandra zu erfahren, wenn er ihr Schicksal auch nicht zu erleichtern vermochte. Bei diesen Gerichtsverhandlungen und aus den Erzählungen des Inquisitors erfuhr Giovanni beinahe unglaubliche Fälle, in denen sich Lächerliches mit Entsetzlichem paarte.
Eine Hexe, ein noch ganz junges Mädchen, das bereut hatte und in den Schoß der Kirche zurückgekehrt war, segnete ihre Peiniger dafür, daß sie sie aus den Krallen des Satans befreit hatten; sie ertrug alle Qualen mit unendlicher Geduld und Sanftmut und erwartete freudig und ruhig den Tod, in dem Glauben, die irdischen Flammen würden sie von den ewigen befreien; sie flehte die Richter nur an, ihr vor dem Tode den Teufel aus der Hand herauszuschneiden, in die er angeblich in Gestalt einer spitzen Spindel eingedrungen war. Die heiligen Väter beriefen einen erfahrenen Chirurgen. Doch trotz der ihm angebotenen hohen Summe weigerte sich der Arzt, den Teufel herauszuschneiden, da er fürchtete, der Unhold könnte ihm während der Operation das Genick brechen.
Eine andere Hexe, die Witwe eines Brotbäckers, eine gesunde, hübsche Frau, wurde beschuldigt, während ihres achtzehnjährigen Verkehrs mit dem Teufel einige Werwölfe geboren zu haben.
Bei den entsetzlichen Torturen betete diese Unglückliche, bellte zuweilen wie ein Hund, oder wand sich stumm vor Schmerz und verlor die Besinnung, so daß ihr der Mund mit einem besonderen, hölzernen Instrument gewaltsam geöffnet werden mußte, um sie zum Reden zu bringen; endlich riß sie sich aus den Händen der Henkersknechte los, stürzte zu den Richtern, mit dem wahnsinnigen Schreie: »Ich habe meine Seele dem Teufel verschrieben und werde ihm ewig angehören!« und fiel leblos hin.
Kassandras angebliche Tante, Monna Sidonia, die gleichfalls verhaftet worden war, zündete eines Nachts nach langen Qualen, um der Folter zu entgehen, das Stroh an, auf dem sie im Gefängnis lag und erstickte im Rauch.
Eine alte, schwachsinnige Lumpensammlerin wurde überführt, daß sie jede Nacht auf ihrer eigenen Tochter, die verstümmelte Hände und Füße hatte und angeblich von den Teufeln mit Hufeisen beschlagen war, zum Sabbat ritt. Die Alte lächelte die Richter gutmütig und schelmisch an, als ob sie ihre Partner bei einem vorher verabredeten Scherz wären und gab gern alle gegen sie erhobenen Anklagen zu.
Sie fror in einem fort. »Das Feuerchen! Das Feuerchen!« – lispelte sie freudig, wie ein ganz kleines Kind, vor Lachen erstickend, und sich die Hände reibend, als man sie zum flammenden Scheiterhaufen führte, um sie zu verbrennen. »Gott schenke euch Gesundheit, ihr Lieben: endlich werde ich mich erwärmen!«
Ein etwa zehnjähriges Mädchen erzählte den Richtern ohne Scham und Furcht, wie ihre Dienstgeberin, eine Stallbesitzerin, ihr eines Abends auf dem Viehhof ein Stück Butterbrot gab, das mit etwas süßsaurem, sehr Schmackhaftem bestreut war. Das war der Teufel. Als sie das Brot verzehrt hatte, lief ein schwarzer Kater, mit Augen, die wie Kohlen brannten, auf sie zu und schmiegte sich schnurrend und den Rücken krümmend an sie heran. Sie ging mit ihm in die Scheune und gab sich ihm dort auf dem Stroh hin; sie gewährte ihm dann oft im Spiel und ohne an Sünde zu denken alles, was er von ihr wollte. Die Dienstgeberin sagte ihr: »Siehst du, was du für einen Bräutigam hast!« Und dann gebar sie einen großen weißen Wurm, vom Umfang eines Säuglings, mit einem schwarzen Kopf. Sie vergrub ihn in den Mist. Da kam aber der Kater zu ihr, zerkrazte sie und befahl ihr mit menschlicher Stimme, das Kind, den gefräßigen Wurm, mit kuhwarmer Milch zu füttern. – Das Mädchen erzählte das alles so genau und umständlich, und blickte dabei die Inquisitoren mit so unschuldigen Augen an, daß es schwer zu entscheiden war, ob sie eine von jenen seltsamen, zwecklosen Lügen vorbrachte, welche manchmal Kindern eigen sind, oder ob sie im Fieber phantasiere.
Ein ganz besonderes, unvergeßliches Entsetzen weckte in Giovanni jedoch eine sechzehnjährige Hexe, von ungewöhnlicher Schönheit, welche alle Fragen und alles Zureden der Richter mit demselben beharrlichen, unaufhörlich flehenden Schrei beantwortete: »Verbrennt mich! Verbrennt mich!« Sie versicherte, der Teufel »gehe in ihrem Körper wie in seinem eigenen Hause herum«, und wenn er »hin und her läuft, sich inwendig in ihrem Rücken wie eine Ratte im Kellerloch herumwälzt«, werde es ihr so matt, so bang ums Herz, daß sie sich den Kopf gegen die Wand einrennen würde, wenn man sie zu solchen Zeiten nicht bei den Händen festhielte oder mit Stricken bände. Sie wollte nichts von Buße und Vergebung hören, da sie der Meinung war, der Teufel hätte sie geschwängert und sie wäre unwiderruflich verloren und noch bei Lebzeiten vom ewigen Gericht verurteilt. Sie flehte, man möchte sie verbrennen, bevor das Ungeheuer zur Welt käme. Sie war eine sehr reiche Waise. Nach ihrem Tode mußte ihr ungeheures Vermögen in die Hände eines entfernten Verwandten, eines geizigen Alten übergehen. Die heiligen Väter wußten, daß die Unglückliche, wenn sie am Leben bliebe, ihre Reichtümer der Inquisition opfern würde. Aus diesem Grunde bemühten sie sich, sie zu retten, jedoch vergebens. Endlich schickte man ihr einen Beichtvater, der durch die Kunst, die Herzen der verstocktesten Sünder zu erweichen, berühmt war. Als er ihr zu versichern begann, daß es keine Sünde gebe und geben könne, die der Heiland nicht mit seinem Blut gesühnt hätte und daß er auch ihr verzeihen würde, antwortete sie, furchtbar schreiend: »Er wird nicht verzeihen, er wird nicht verzeihen, – ich weiß es! Verbrennt mich oder ich werde mich selbst umbringen!« Nach Fra Micheles Ausdruck »lechzte ihre Seele nach dem heiligen Feuer, wie der verwundete Hirsch nach der Quelle lechzt.«
Der erste Inquisitor, Fra Giorgio da Casale, war ein Greis mit gebeugtem Rücken und mit einem mageren, bleichen, gutmütigen, stillen und schlichten Gesicht, das an das Gesicht des heiligen Franciskus erinnerte. Nach dem Urteil der ihm Nahestehenden war er »der sanftmütigste Mensch auf Erden«, ein großer Geldverächter, der das Gelübde des Fastens, des Schweigens und der Keuschheit hielt. Wenn Giovanni dieses Gesicht betrachtete, schien es ihm manchmal wirklich, daß es keinerlei Bosheit oder List ausdrücke und daß der Greis mehr als seine Opfer leide und diese nur aus Mitleid quäle und verbrenne, da er die Überzeugung hatte, man könne sie auf keine andere Weise vor dem ewigen Feuer erretten.
Aber manchmal, besonders während der raffiniertesten Folterqualen und der ungeheuerlichsten Geständnisse, blitzte in Fra Giorgios Augen plötzlich ein Ausdruck auf, daß Giovanni nicht entscheiden konnte, wer furchtbarer, wer wahnsinniger sei, die Richter oder die Angeklagten.
Einmal erzählte eine alte Hexe, eine Hebamme, den Inquisitoren, wie sie den Neugeborenen mit dem Daumen den Scheitel einzudrücken pflegte und auf diese Weise über zweihundert Kinder umgebracht hätte; und zwar nur, weil es sie freute, die weichen Kinderschädel gleich Eierschalen krachen zu hören. Bei der Beschreibung dieses Zeitvertreibs lachte sie so, daß es Giovanni kalt überlief. – Und plötzlich schien es ihm, als ob die Augen des alten Inquisitors in einem ebenso wollüstigen Feuer wie die der Hexe brannten. Und obwohl er im nächsten Augenblick meinte, daß alles ihm nur so vorgekommen wäre, blieb in seiner Seele doch die Erinnerung an etwas unsagbar Entsetzliches zurück.
Ein anderes Mal gestand Fra Giorgio demutsvoll und traurig, er hätte für keine seiner Sünden solche Gewissensbisse zu erdulden gehabt, wie dafür, daß er vor vielen Jahren, »dem vom Teufel eingegebenen, verbrecherischen Mitleid« folgend, siebenjährige Kinder, die im Verdacht des fleischlichen Verkehrs mit Incuben und Succuben standen, statt sie zu verbrennen, auf dem Marktplatz vor den Scheiterhaufen, auf denen ihre Väter und Mütter von den Flammen verzehrt wurden, nur auspeitschen ließ.
Der in den Folterkammern der Inquisition unter den Opfern und Henkern herrschende Wahnsinn verbreitete sich in der Stadt, vernünftige Menschen glaubten plötzlich an Dinge, über die sie zu gewöhnlicher Zeit wie über dumme Märchen gelacht hätten. Die Anzeigen mehrten sich. Die Diener klagten ihre Herren an, die Frauen ihre Männer, die Kinder ihre Eltern. Eine alte Frau wurde nur deswegen verbrannt, weil sie gesagt hatte: »Der Teufel helfe mir, wenn Gott es nicht tut!« Eine andere wurde für eine Hexe erklärt, weil ihre Kuh nach der Ansicht der Nachbarinnen drei Mal mehr Milch gab, als sie geben sollte.
Im Frauenkloster Santa Maria della Scala erschien der Teufel fast täglich nach dem Ave in Gestalt eines Hundes und schändete der Reihe nach alle Nonnen, von der sechzehnjährigen Novize bis zur alten Äbtissin, und zwar nicht nur in den Zellen, sondern auch während der Messe in der Kirche. Die Nonnen von Santa Maria hatten sich so sehr an den Teufel gewöhnt, daß sie sich vor ihm nicht mehr fürchteten und schämten. So ging es acht Jahre lang.
In den Bergdörfern bei Bergamo fand man einundvierzig Hexen, welche Menschenfresserinnen waren; sie saugten das Blut ungetaufter Säuglinge und aßen ihr Fleisch. In Mailand selbst wurden dreißig Geistliche überführt, die Kinder nicht »im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes«, sondern »im Namen des Teufels« getauft zu haben; Frauen weihten ihre ungeborenen Kinder dem Satan; Mädchen und Knaben von drei bis sechs Jahren wurden vom Teufel verführt und ergaben sich mit ihm der unerhörtesten Unzucht: erfahrene Inquisitoren erkannten diese Kinder an dem besonderen Glanz der Augen, am schmachtenden Lächeln und an den feuchten, sehr roten Lippen. Sie waren durch nichts anderes als durch Feuer zu erretten. Am schrecklichsten erschien dabei, daß die Teufel bei dem stets wachsenden Eifer der Inquisition ihre Umtriebe nicht einstellten, sondern vermehrten, als hätten sie an der Sache Geschmack gefunden.
Im verlassenen Laboratorium des Messer Galeotto Sacrobosco wurde ein ungewöhnlich dicker, zottiger Teufel gefunden; manche versicherten, er lebte, andere dagegen, er wäre schon krepiert, hätte sich aber sehr gut erhalten. Es hieß, man hätte ihn in einer Kristalllinse eingeschlossen gefunden; obwohl die Untersuchung ergab, daß es kein Teufel, sondern ein Floh war, den der Alchimist durch ein Vergrößerungsglas studiert hatte, verblieben viele doch bei der Überzeugung, es sei ein echter Teufel gewesen, der sich nur in den Händen der Inquisitoren in einen Floh verwandelt hätte, um sie zu foppen.
Alles erschien möglich: die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fieberdelirium war im Verschwinden. Man erzählte sich, daß Fra Giorgio in der Lombardei eine Verschwörung von 12000 Hexen und Zauberern entdeckt hätte, welche im Laufe dreier Jahre solche Mißernten in ganz Italien hervorrufen wollten, daß die Menschen genötigt sein würden, einander wie Tiere zu verzehren.
Der erste Inquisitor selbst, ein erfahrener Feldherr des Heeres Christi, der die Ränke des Erbfeindes studiert hatte, äußerte Bedenken und beinahe Furcht angesichts dieses nicht dagewesenen, wachsenden Ansturmes der satanischen Truppen.
»Ich weiß nicht, womit das enden soll«, – sagte Fra Michele eines Tages offenherzig zu Giovanni. »Je mehr von ihnen wir verbrennen, um so mehr neue keimen aus der Asche auf.«
Die üblichen Torturen, die spanischen Stiefel, die eisernen Leisten, die mit Schrauben allmählich so zusammengepreßt wurden, daß die Knochen der Opfer knackten, das Ausreißen der Nägel mit weißglühenden Zangen erschienen wie ein Kinderspiel im Vergleich mit den neuen raffinierten Qualen, welche vom »sanftesten der Menschen« Fra Giorgio, erfunden wurden; – zum Beispiel mit der Folter der Schlaflosigkeit – tormentum insomniae, die darin bestand, daß man die Angeklagten nicht schlafen ließ und sie im Laufe einiger Tage und Nächte durch die Gänge des Gefängnisses jagte, so daß ihre Füße sich mit Wunden bedeckten und die Unglücklichen in Wahnsinn verfielen. – Doch der Feind lachte auch über diese Qualen; er war stärker als Hunger, Schlaf, Durst, Eisen und Feuer, denn der Geist ist stärker als das Fleisch. Die Richter nahmen vergeblich ihre Zuflucht zur List: man brachte die Hexen rücklings in die Folterkammer, damit ihr Blick den Richter nicht bezauberte und ihm nicht verbrecherisches Mitleid einflößte; die Frauen und Mädchen wurden vor der Folter ganz rasiert, so daß auf ihrem Körper auch nicht ein einziges Haar zurückblieb, um »das Teufelssiegel« – stigma diabolicum sicherer finden zu können; es war unter der Haut oder in den Haaren verborgen und machte die Hexe gefühllos. Man gab ihnen Weihwasser zu trinken und bespritzte sie damit; man beräucherte die Folterwerkzeuge mit Weihrauch und weihte sie mit Teilen des Offertoriumlammes und mit Reliquien, man umgürtete die Angeklagten mit Leinenbändern, von der Länge des Körpers des Heilands, man hängte ihnen Zettel um, auf denen die Worte aufgezeichnet waren, die der Erlöser am Kreuze gesprochen hatte.
Nichts half: der Feind triumphierte über alles Heilige.
Nonnen, die ihren unzüchtigen Verkehr mit dem Teufel eingestanden hatten, versicherten, daß er zwischen zwei Ave Marias in sie fahre und daß sie selbst mit dem heiligen Abendmahl im Munde fühlten, wie der verfluchte Geliebte sie mit den schamlosesten Liebkosungen besudele. Die Unglücklichen gestanden schluchzend, »ihr Körper gehöre ihm wie die Seele.«
Der böse Geist verhöhnte die Richter durch den Mund der Hexen; er stieß derartige Gotteslästerungen aus, daß den Furchtlosesten die Haare zu Berge standen. Er brachte die Doktoren und Magister der Theologie durch schlau gesponnene Sophismen und durch die feinsten theologischen Widersprüche in Verlegenheit, oder er entlarvte sie durch Fragen, die von einer solchen Menschenkenntnis zeugten, daß die Richter sich in Angeklagte und die Angeklagten in Kläger verwandelten.
Die Mutlosigkeit der Bürger stieg bis zum Äußersten, als sich das Gerücht verbreitete, der Papst hätte eine mit unwiderleglichen Beweisen versehene Anzeige erhalten, aus welcher hervorging, daß der Wolf im Schafpelz, der in die Herde des Hirten eingedrungen war, der Diener des Teufels, der sich den Anschein seines Verfolgers gab, um die Herde des Herrn um so sicherer zu vernichten, das Haupt der satanischen Heerscharen, niemand anderes sei als der Großinquisitor – Fra Giorgio da Casale selbst.
Aus den Worten und Handlungen der Richter konnte Beltraffio schließen, daß die Macht des Teufels ihnen der Macht Gottes gleich zu sein schien, so daß es noch ganz unbestimmt war, wer aus diesem Zweikampf als Sieger hervorgehen würde. Er staunte darüber, wie sehr die Lehren des Inquisitors Fra Giorgio und die der Hexe Kassandra sich in ihren Extremen berührten; denn für beide war der obere Himmel dem unteren gleich und der Sinn des menschlichen Lebens bestand im Kampf der beiden Abgründe des Menschenherzens, – mit dem einzigen Unterschied, daß die Hexe noch immer nach einer, vielleicht unmöglichen, Versöhnung suchte, während der Inquisitor das Feuer dieses Hasses schürte und die Hoffnungslosigkeit steigerte.
In der Gestalt des Teufels, gegen den Fra Giorgio einen so erfolglosen Kampf führte, in der Gestalt des Schlangenähnlichen, Listigen, Kriechenden erkannte Giovanni wie in einem trüben, entstellenden Spiegel das verzerrte Bild der gütigen Schlange, des Beflügelten, des Ophyomorphos, des Sohnes der höchsten, befreienden Weisheit, des gleich dem Morgenstern lichtbringenden Lucifers, oder des Titanen Prometheus. Der ohnmächtige Haß seiner Feinde, der armseligen Diener Jaldabaoths, klang wie eine neue Siegeshymne an den Unbesiegbaren.
Um diese Zeit verkündete Fra Giorgio dem Volke, daß in einigen Tagen ein großartiges Fest, den Feinden der christlichen Kirche zur Warnung, den getreuen Kindern zur Freude stattfinden werde: – die Verbrennung von hundertneununddreißig Zauberern und Hexen.
Als Giovanni dies von Fra Michele erfuhr, fragte er erbleichend: »Und Monna Kassandra?«
Trotz der heuchlerischen Mitteilsamkeit des Mönchs hatte Giovanni bis jetzt noch nichts von ihr erfahren können.
»Monna Kassandra ist zugleich mit den andern verurteilt worden«, – antwortete der Dominikaner, – »obwohl sie eine grausamere Hinrichtung verdient hätte. Fra Giorgio ist der Ansicht, sie sei mächtiger als alle Hexen, die er je gesehen. Die Zauberkräfte, die sie bei der Tortur unempfindlich machten, waren so unbezwingbar, daß wir sie nicht dazu bringen konnten, ein Wort oder einen Seufzer von sich zu geben, geschweige denn, sie zu einem Geständnis oder zur Reue zu zwingen; wir kennen nicht einmal den Klang ihrer Stimme.«
Bei diesen Worten blickte er Giovanni forschend und erwartungsvoll an. Beltraffio kam blitzartig der Gedanke, ein schnelles Ende zu machen, ein Geständnis abzulegen und zu erklären, er sei der Mitwisser der Monna Kassandra und wolle mit ihr sterben. Er unterließ es; doch nicht aus Furcht, sondern aus Gleichgültigkeit und der seltsamen Narrheit, die sich seiner in den letzten Tagen bemächtigt hatte und die an die »Zauberkraft der Unempfindlichkeit« erinnerte, die die Hexen bei den Torturen schützte. Er war wie die Ruhe des Todes.
Am Vorabend des für die Verbrennung der Hexen und Zauberer bestimmten Tages saß Beltraffio zu später Stunde im Arbeitszimmer seines Meisters. Leonardo beendete eine Zeichnung, welche die Sehnen und Muskeln des Oberarmes und der Schulter darstellte; für diese Organe hatte er ein großes Interesse, da mit ihnen die Hebel der Flugmaschine in Bewegung gebracht werden sollten. Sein Gesicht erschien Giovanni an diesem Abend besonders schön. Trotz der ersten Furchen, die sich vor kurzem, nach Monna Lisas Tode, vertieft hatten, herrschte darin völlige Ruhe und Klarheit der Betrachtung.
Manchmal erhob er die Augen von der Arbeit und blickte den Schüler an. Beide schwiegen. Giovanni erwartete schon lange nichts mehr vom Meister und hoffte auf nichts.
Er konnte nicht daran zweifeln, daß Leonardo um die Schrecken der Inquisition, um die bevorstehende Hinrichtung der Monna Kassandra und der anderen Unglücklichen und um das Unglück seines Schülers wußte. Er fragte sich oft, was der Meister wohl über alles das denken mochte.
Nachdem Leonardo die Zeichnung beendet hatte, machte er auf demselben Bogen, über der Darstellung der Sehnen und Muskeln der Schulter folgende Anmerkung:
»Wenn du, Mensch, der du in diesen Zeichnungen die wunderbaren Schöpfungen der Natur betrachtest, es für verbrecherisch hältst, meine Arbeit zu vernichten, so bedenke, um wieviel verbrecherischer es ist, dem Menschen das Leben zu nehmen; denke auch daran, daß der dir so vollkommen erscheinende Körperbau nichts ist im Vergleich mit der diesen Bau bewohnenden Seele; denn diese ist, was sie auch sein mag, immerhin etwas Göttliches. Bedenke, wie ungern sie sich vom Körper trennt, und daß ihr Weinen und Trauern nicht ohne Grund sein kann. Hindere sie also nicht, in dem von ihr erschaffenen Körper, solange sie es selbst will, zu verweilen, und zerstöre dieses Leben nicht mit deiner Tücke und Bosheit. Es ist so schön, daß derjenige, der es nicht würdigt, seiner wirklich nicht wert ist.«
Während der Meister schrieb, blickte der Schüler mit demselben hoffnungslosen Wohlgefallen auf sein stilles Gesicht, mit dem der in der Wüste verirrte, vor Hitze und Durst sterbende Wanderer auf die Schneeberge blickt.
Am nächsten Tag verließ Beltraffio das Zimmer nicht. Er fühlte sich seit dem Morgen nicht wohl und hatte Kopfweh. Er lag bis zum Abend im Halbschlaf zu Bette, ohne an irgend etwas zu denken.
Als es dunkelte, ertönte über der Stadt ein seltsames Glockengeläute, das bald an ein Fest, bald an ein Begräbnis erinnerte, und in der Luft verbreitete sich ein schwacher, aber beharrlicher und widerwärtiger brenzlicher Geruch. Dieser Geruch steigerte noch sein Kopfweh und ihm wurde übel.
Er ging auf die Straße.
Es war schwül und die Luft war feucht und warm wie in einer Badestube; wie es in der Lombardei während des Schirokko im Spätsommer oder im Frühherbst oft vorkommt. Es regnete nicht, doch von den Dächern und Bäumen tropfte es. Das Ziegelpflaster glänzte. Und in der freien Luft, in dem trüben, gelben, klebrigen Nebel erschien der brenzliche Gestank noch stärker.
Trotz der späten Stunde waren die Straßen belebt. Alle kamen aus der einen Richtung, vom Broletto-Platze. Als er die Gesichter betrachtete, schien es ihm, auch die anderen befänden sich in demselben Halbschlaf wie er und auch sie wollten und könnten nicht erwachen.
Die Menge wogte mit verschwommenem, leisem Stimmengewirr vorüber. Aus den ihm zufällig entgegenfliegenden, abgerissenen Worten, die sich auf die soeben verbrannten hundertneununddreißig Zauberer und Hexen und auf Monna Kassandra bezogen, erkannte er plötzlich den Grund des furchtbaren, ihn verfolgenden Gestankes: er rührte von den verkohlten Menschenleibern her. Er beschleunigte seine Schritte und lief weiter, ohne zu wissen wohin; er rannte die Leute an, wankte wie ein Trunkener, zitterte vor Kälte und fühlte, wie der Brandgeruch ihm in dem trüben, gelben, klebrigen Nebel nachjagte, ihn umfing, ihn zu,ersticken drohte, in seine Lunge drang und die Schläfen mit einem stumpf nagenden Schmerz und mit Übelkeit zusammenpreßte. Er wußte nicht, wie er sich zu dem Kloster Jan Francesco hinschleppte und in Fra Benedettos Zelle trat. Die Mönche ließen ihn ein, Fra Benedetto war jedoch nicht im Kloster – er war nach Bergamo verreist.
Giovanni schloß die Tür, zündete eine Kerze an und ließ sich ermattet auf das Bett sinken.
In diesen stillen, ihm so vertrauten Wänden war alles wie früher von Frieden und Heiligkeit erfüllt. Er atmete freier: der furchtbare Gestank war fort und es umfing ihn der eigentümliche klösterliche Duft, der sich aus dem Geruch von Fastenöl, Weihrauch, Wachs, alten Lederfolianten, frischem Lack und jenen leichten, zarten Farben zusammensetzte, mit denen Fra Benedetto in seiner Herzenseinfalt und voll Geringschätzung für die weltliche Wissenschaft der Perspektive und Anatomie seine Madonnen mit den Kindergesichtern, die in himmlischer Glorie erstrahlenden Heiligen und die Engel mit den Regenbogenflügeln, den wie die Sonne goldenen Locken und den himmelblauen Tunikas malte. Über dem Kopfende des Bettes hing an der glatten, weißen Wand ein schwarzes Kruzifix und darüber Giovannis Gabe, ein vertrockneter Kranz aus rotem Mohn und dunklen Veilchen; er hatte sie an dem denkwürdigen Morgen im Zypressenhain auf den Höhen von Fiesole zu Savonarolas Füßen gepflückt, während die Brüder von San-Marco sangen, auf den Violen spielten und gleich kleinen Kindern oder Engeln um den Lehrer herumtanzten.
Er erhob die Augen zum Kruzifix. Der Heiland streckte die festgenagelten Hände noch immer so aus, als riefe er die ganze Welt in seine Umarmung: »Kommet zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen.« – »Ist das nicht die einzige, die vollkommene Wahrheit?« – dachte Giovanni. – »Soll ich mich nicht zu seinen Füßen stürzen und ausrufen: Ich glaube, o Herr, hilf meinem Unglauben!«
Doch das Gebet erstarrte auf seinen Lippen. Er fühlte, daß er nicht lügen konnte, wenn ihn auch ewige Verdammnis bedrohen würde, daß er das, was er wußte, nicht vergessen konnte und die beiden miteinander kämpfenden Wahrheiten in seinem Herzen weder zurückzuweisen, noch miteinander zu versöhnen vermochte.
Er wandte sich mit der alten stillen Verzweiflung vom Kruzifix ab und im selben Augenblick schien ihm, daß der stinkende Nebel, der furchtbare Brandgeruch auch hierher, an seine letzte Zufluchtsstätte dringe.
Er bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Und vor ihm erstand das, was er vor kurzem gesehen hatte, obwohl er nicht hätte sagen können, ob es im Traum oder in Wirklichkeit gewesen war: in der Tiefe des Kerkers, beim Scheine von roten Flammen inmitten von Folterwerkzeugen, Henkersknechten und blutigen Menschenleibern, erschien ihm Kassandras nackter Körper, der durch die Zauber der wohltätigen Schlange, der Befreierin, beschützt wurde – er war unempfindlich gegen die Folterwerkzeuge, gegen Feuer und Eisen und gegen die Blicke der Peiniger, er war unvergänglich und unverletzbar, wie der jungfräulich reine und harte Marmor der Bildwerke.
Als er erwachte, erkannte er an der heruntergebrannten Kerze und an der Zahl der Glockenschläge auf dem Turme des Klosters, daß er einige Stunden in Bewußtlosigkeit verbracht hatte und daß es jetzt schon nach Mitternacht war.
Es war still. Der Nebel schien sich zerstreut zu haben. Der Brandgeruch war verschwunden – aber es war noch heißer geworden. Durch das Fenster zuckte blaßblaues Wetterleuchten und es ertönte ebenso wie in jener unvergeßlichen Gewitternacht am Catarana-Kanal das dumpfe, gleichsam unterirdische Grollen des Donners.
Ihm schwindelte, die Kehle war ausgetrocknet; ihn quälte der Durst. Er erinnerte sich, daß in der Ecke ein Krug mit Wasser stand. Er erhob sich, indem er sich mit der Hand an die Mauer klammerte, schleppte sich hin, trank einige Schlucke, benetzte sich den Kopf und wollte schon auf das Bett zurückkehren, als er plötzlich fühlte, daß jemand in der Zelle war, – er wandte sich um und sah unter dem schwarzen Kruzifix jemand in einem langen, dunklen, bis zur Erde reichenden Mönchsgewand, mit einer spitzen, das Gesicht bedeckenden Kapuze, wie die Brüder »Battuti« sie tragen, auf Fra Benedettos Bett sitzen. Giovanni war erstaunt, da er wußte, daß die Tür verschlossen war – er erschrak jedoch nicht. Er empfand eher eine Erleichterung, als wäre er nach langen Anstrengungen erst jetzt erwacht. Der Kopf hörte mit einem Male zu schmerzen auf.
Er näherte sich der sitzenden Gestalt und begann sie näher zu betrachten, sie erhob sich und warf die Kapuze zurück. Giovanni erblickte ein regloses, marmorweißes Gesicht, mit blutroten Lippen und bernsteingelben Augen, von einem Glorienschein schwarzer Haare umgeben, die lebendiger waren als das Gesicht selbst und gleich den Schlangen der Medusa ein eigenes Leben zu haben schienen.
Und feierlich hob Kassandra – denn sie war es – langsam, wie zu einer Beschwörung die Hände. Jetzt ertönte das Getöse des Donners noch näher und es schien ihre Worte zu begleiten:
Der Himmel oben, der Himmel unten,
Die Sterne oben, die Sterne unten,
Alles was oben, das ist auch unten,
Wenn du's verstehst, ist es dein Wohl.
Die schwarzen Gewänder fielen, sich zusammenrollend, zu ihren Füßen nieder, und er erblickte das strahlende Weiß eines Körpers, der tadellos war, wie die dem tausendjährigen Grabe entstiegene Aphrodite, – wie die schaumgeborene Göttin Sandro Botticellis, mit dem Gesicht der Heiligen Jungfrau Maria, mit der überirdischen Trauer in den Augen, – wie die wollüstige Leda auf Savonarolas flammendem Scheiterhaufen.
Giovanni blickte ein letztes Mal auf das Kruzifix, der Gedanke: »die weiße Teufelin!« durchzuckte zum letzten Mal sein Hirn, und der Schleier des Lebens zerriß und enthüllte ihm dies letzte Geheimnis der letzten Vereinigung.
Sie näherte sich ihm, umfaßte ihn mit den Armen und preßte ihn an sich. Ein blendender Blitz vereinigte den Himmel und die Erde.
Sie sanken auf das ärmliche Lager des Mönchs hin.
Und Giovanni fühlte mit seinem ganzen Leibe die jungfräuliche Kälte des ihrigen, und sie war ihm süß und furchtbar wie der Tod.
Zoroastro da Peretola starb nicht, genas aber auch nicht von den Folgen seines Sturzes beim mißlungenen Versuche mit den Flügeln: er blieb für sein ganzes Leben ein Krüppel. Er verlor die Sprache und murmelte unverständliche Worte, die nur der Meister zu deuten wußte. Bald irrte er auf seinen Krücken humpelnd im Hause herum, ohne Ruhe zu finden; groß, plump und zerzaust erinnerte er an einen Riesenvogel; bald lauschte er den Reden der Leute, als versuche er etwas zu verstehen; bald saß er mit heraufgezogenen Beinen in einer Ecke, ohne jemand zu beachten und spulte ein langes Leinenband auf einen runden Leisten auf, eine Beschäftigung, die der Meister für ihn ersonnen hatte, da die Hände des Mechanikers die frühere Geschicklichkeit und das frühere Bedürfnis nach Bewegung bewahrt hatten; er schnitzte Holzstäbchen, sägte Klötzchen für ein Wurfspiel und drechselte Kreisel; oder er saß auch stundenlang halb bewußtlos mit einem sinnlosen Lächeln da, wiegte sich hin und her und schwang die Arme wie Flügel, indem er immer ein und dasselbe Lied durch die Nase summte:
»Kraniche, Stare,
Falken und Aare,
Die Sonne winkt,
Die Erde versinkt.
Kraniche, Stare,
Falken und Aare.«
Darauf blickte er den Meister mit seinem einzigen Auge an und begann plötzlich leise zu weinen.
Er schien in solchen Augenblicken so unglücklich, daß Leonardo sich rasch abwandte oder fortging. Er hatte jedoch nicht das Herz, den Kranken ganz zu entfernen. Auf allen seinen Wanderungen verließ er ihn nie, sorgte für ihn, schickte ihm Geld und sobald er sich irgendwo niederließ, nahm er ihn zu sich ins Haus.
So vergingen Jahre und dieser Krüppel war gleichsam ein lebendiger Vorwurf, ein ewiger Hohn auf die ganze Lebensarbeit Leonardos, – auf die Erschaffung von Flügeln für die Menschen.
Er bemitleidete nicht minder auch seinen anderen Schüler, der seinem Herzen vielleicht am nächsten stand, Cesare da Sesto.
Cesare begnügte sich nicht mit dem Nachahmen und wollte selbständig sein. Der Meister vernichtete ihn jedoch, verschlang ihn, verwandelte ihn in sein Wesen. Cesare war nicht schwach genug, um sich zu fügen und nicht stark genug, um sich zu behaupten, und so quälte er sich nur, ohne jeden Erfolg, erbitterte sich und vermochte ebenso wenig sich zu retten, als auch ganz zugrunde zu gehen. Er war gleich Giovanni und Astro ein Krüppel, weder lebendig noch tot; auch er gehörte zu denjenigen, die Leonardo durch seinen »bösen Blick« verdorben und behext hatte.
Andrea Salaino verständigte den Meister von Cesares geheimem Briefwechsel mit den Schülern des Rafael Sanzio, der in Rom bei Papst Julius II. den Vatikan mit Fresken schmückte. Viele prophezeiten, daß Leonardos Ruhm in den Strahlen dieses neuen Gestirns verblassen werde. Manchmal kam es dem Meister vor, als hätte Cesare Verrat im Sinne.
Doch die Treue der Freunde war dem Verrate der Feinde kaum vorzuziehen.
Unter dem Namen der Leonardischen Akademie hatte sich in Mailand eine Schule junger lombardischer Maler gebildet; es waren dies zum Teil seine früheren Schüler, zum Teil unzählige neue Ankömmlinge, deren Zahl immer anwuchs. Sie drängten sich um ihn und wähnten selbst und versicherten anderen, daß sie seinen Spuren folgten. Er beobachtete aus der Ferne das Treiben dieser unschuldigen Verräter, die selbst nicht wußten, was sie taten. Und manchmal stieg in ihm ein Gefühl des Ekels auf, wenn er sah, wie alles, was in seinem Leben heilig und groß war, die Beute des Pöbels wurde: das Antlitz des Heilandes auf dem heiligen Abendmahl wurde den Nachkommen in Kopien übermittelt, die es mit der platten kirchlichen Überlieferung in Einklang brachten; das Lächeln der Gioconda wurde schamlos entblößt, indem man es lüstern machte oder es in Träume platonischer Liebe verwandelte, oder gutmütig und dumm werden ließ.
Im Winter 1512 starb im Städtchen Riva di Trento am Ufer des Gardasees Marc-Antonio della Torre im Alter von dreißig Jahren an Sumpffieber, mit dem er sich von den Armen, die er behandelte, angesteckt hatte.
Leonardo verlor in ihm den Letzten von denjenigen, die ihm zwar nicht nahe standen, aber doch weniger fremd waren als die anderen, während die Schatten des Alters sich auf sein Leben niedersenkten, rissen die Fäden, die ihn mit der Welt der Lebenden verbanden, einer nach dem andern, und die Einsamkeit und das Schweigen um ihn herum wurden immer tiefer und größer; es schien ihm manchmal, daß er sich auf einer schmalen, dunklen Stiege in die unterirdische Finsternis herabließe, mit einer eisernen Axt den Weg durch die Steinblöcke bahnend, von »trotziger Strenge« und von der vielleicht wahnwitzigen Hoffnung erfüllt, es könnte dort unten einen Ausgang zu einem anderen Himmel geben.
In einer Winternacht saß er allein in seinem Zimmer und lauschte dem Heulen des Sturmes, wie in der Nacht nach jenem Tage, als er von Giocondas Tod erfahren haue. Die übermenschliche Stimme des nächtlichen Windes erzählte von Bekanntem und Unentrinnbarem, das dem Menschenherzen verständlich ist, von der letzten Einsamkeit in dem furchtbaren, blinden Dunkel, im Schoße des Vaters alles Seins, des uralten Chaos, von der grenzenlosen Öde der Welt.
Er dachte an den Tod, und dieser Gedanke, welcher ihm jetzt immer häufiger kam, verschmolz mit dem Gedanken an Gioconda.
Plötzlich klopfte jemand an die Tür. Er erhob sich und öffnete.
In das Zimmer trat ein unbekannter Jüngling mit lustigen und gutmütigen Augen, mit einem vom Frost geröteten frischen Gesicht und mit schmelzenden Schneeflocken in den dunkelblonden Locken.
»Messer Leonardo!« – rief der Jüngling aus. – »Ihr erkennt mich nicht?«
Leonardo sah ihn genauer an und erkannte in ihm seinen kleinen Freund, den achtjährigen Knaben Francesco Melzi, mit dem er einst im Frühjahre durch die Wälder Vaprios gestreift war.
Er umarmte ihn mit väterlicher Zärtlichkeit.
Francesco erzählte, er käme aus Bologna, wohin sein Vater bald nach der französischen Invasion von 1500 gereist war, um die Schmach und das Elend der Heimat nicht zu sehen, und wo er schwer erkrankt sei und lange Jahre dahinsiechte; vor kurzem sei er gestorben. Jetzt sei er nun zu Leonardo geeilt, da er dessen Versprechen noch in Erinnerung habe.
»Welches Versprechen?« – fragte der Meister.
»Wie? Ihr habt es vergessen? Und ich war so dumm, darauf zu hoffen! ... Wißt Ihr es wirklich nicht mehr? ... Es war in den letzten Tagen vor unserer Trennung im Dorfe Mandello, am Leccosee, am Fuße des Campione. Wir stiegen in ein verlassenes Bergwerk hinab und Ihr trugt mich auf den Armen; Ihr sagtet, Ihr würdet in die Romagna reisen und in Cesare Borgias Dienste treten, und ich begann zu weinen und wollte mit Euch fliehen und den Vater verlassen; Ihr ließet es jedoch nicht zu und gabt mir das Wort, in zehn Jahren, wenn ich erwachsen sein würde ...«
»Ich erinnere mich, ich erinnere mich!« – unterbrach ihn der Meister freudig.
»Also Gott sei Dank! – Ich weiß, daß Ihr mich nicht braucht, Messer Leonardo. Ich werde Euch aber doch nicht stören. Jagt mich nicht davon. Ich werde übrigens auch dann nicht fortgehen, wenn Ihr mich sogar wegjagen wolltet ... Es steht in Eurer Macht, Meister, tut mit mir, was Ihr wollt, ich werde Euch nie mehr verlassen ...«
»Mein lieber Junge! ...« sagte Leonardo mit zitternder Stimme.
Er umarmte ihn von neuem und küßte ihn auf den Kopf, und Francesco schmiegte sich mit derselben zutraulichen Liebkosung an seine Brust, wie es der kleine Knabe getan hatte, den Leonardo auf seinen Armen in das Erzbergwerk getragen und mit dem er die schlüpfrige, unheimliche Stiege immer tiefer und tiefer in das unterirdische Dunkel hinabgestiegen war.
Seitdem der Meister im Jahre 1507 Florenz verlassen hatte, trug er den Titel eines Hofmalers und stand in Diensten des Königs Ludwig XII. von Frankreich. Da er jedoch kein Gehalt bezog, mußte er sich auf die königliche Gnade verlassen. Oft vergaß man ihn ganz und er verstand es nicht, sich durch seine Werke in Erinnerung zu bringen, denn er arbeitete mit den Jahren immer weniger und langsamer. Da er wie bisher immer Geld brauchte und seine Vermögensverhältnisse immer verwickelter wurden, borgte er bei allen, bei denen es nur ging, selbst bei seinen eigenen Schülern; bevor er die alten Schulden abgetragen hatte, machte er wieder neue. Er richtete an den französischen Statthalter Charles d'Amboise und an den Schatzmeister Florimond Roberté ebenso verschämte, ungeschickte und demütige Bittschriften, wie er sie einst an den Herzog Moro gerichtet hatte:
»Indem ich Euer Gnaden nicht mehr belästigen will, nehme ich mir die Freiheit zu fragen, ob ich einen Gehalt beziehen werde. Ich habe an Ew. Signorie schon oftmals darüber geschrieben, habe aber bisher keine Antwort erhalten.«
Er antichambrierte bei den Höflingen, demütig inmitten anderer Bittsteller, bis die Reihe an ihn kam, obwohl ihm mit dem herannahenden Alter die fremden Treppen immer steiler erschienen und das fremde Brot immer bitterer schmeckte. Er fühlte sich im Dienste der Herrscher ebenso überflüssig, wie im Dienste des Volkes; er war immer und überall ein Fremder, während Rafael im Genusse der päpstlichen Freigebigkeit aus einem Halbbettler ein reicher Mann, ein römischer Patrizier geworden war, und während Michel Angelo seine Soldi für schlechte Zeiten zusammensparte, blieb Leonardo wie bisher ein heimatloser Wanderer, der nicht wußte, wo er vor dem Tode noch eine Zuflucht finden könnte.
Die Kriege, die Siege, die Niederlagen der Seinigen und der Fremden, die Änderungen der Gesetze und der Regierungen, das Knechten der Völker, der Sturz der Tyrannen, alles was den Menschen als das einzig wichtige und Ewige erschien, zog an ihm vorüber, wie ein staubiger Wirbelwind an einem Wanderer auf der Landstraße vorüberzieht. Den Dingen der Politik mit unveränderlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehend, befestigte er die Zitadelle Mailands für den König von Frankreich gegen die Lombarden, wie er sie einst für den Herzog der Lombardei gegen die Franzosen befestigt hatte. Zur Feier des Sieges Ludwigs XII. über die Venetianer bei Agnadello errichtete er einen Triumphbogen mit denselben hölzernen Engeln, die ihre vergoldeten Flügel schon zu Ehren der Ambrosianischen Republik, des Francesco Sforza und des Lodovico Moro, geschwungen hatten.
Nach drei Jahren schlossen der Papst, der Kaiser und der König Ferdinand der Katholische von Spanien einen Bund, die »Heilige Liga« gegen Ludwig XII., verjagten die Franzosen aus der Lombardei und setzten mit Hilfe der Schweizer »den kleinen Moro«, Massimiliano Moretto, den Sohn des Lodovico Sforza, einen neunzehnjährigen Jüngling, der in der Verbannung, am Hofe des Kaisers aufgewachsen war, auf den Thron.
Leonardo errichtete auch für ihn den Triumphbogen.
Morettos Regierung war von kurzer Dauer: die schweizer Söldlinge kümmerten sich gar nicht um ihn und behandelten ihn wie eine nichtssagende Puppe; die Verbündeten der Heiligen Liga beschäftigten sich zu eifrig mit ihm, wie die vielen Köche, die den Brei verderben. Der kleine Herzog hatte anderes im Kopfe als Kunst. Nichtsdestoweniger nahm er Leonardo in seine Dienste auf, bestellte bei ihm sein Porträt und setzte für ihn ein Gehalt fest, das ihm übrigens nie ausbezahlt wurde.
In Toscana ging um diese Zeit eine ebensolche Umwälzung vor sich wie in der Lombardei. Der Wille des Volkes war der Wille Gottes und die Kanonen Ferdinands des Katholischen entfernten den unglückseligen Piero Soderini. Nachdem die republikanischen Tugenden seiner Mitbürger ihn endgültig enttäuscht hatten, floh er nach Ragusa. Die früheren Tyrannen, die Gebrüder Medici, die Söhne Lorenzos des Prächtigen, kehrten nach Florenz zurück. Einer von ihnen, Giuliano, ein seltsamer Träumer, dem Macht und Ehren gleichgültig waren, ein trauriger und gutmütiger Sonderling, war ein großer Liebhaber der Alchimie. Galeotto Sacrobosco, der bei ihm nach seiner Flucht aus Mailand Schutz gefunden hatte, erzählte ihm von Leonardos geheimen Künsten und er forderte diesen auf, in seine Dienste zu treten, weniger in Eigenschaft eines Künstlers, als in der eines Alchimisten.
Anfang des Jahres 1513 knüpfte der Marschall Gian Jacopo Trivulzio mit den Schweizern Unterhandlungen wegen der Herausgabe des kleinen Moro an. Ihm drohte das Schicksal seines Vaters. Leonardo erwartete in der Lombardei neue Umwälzungen.
Er fühlte sich in den letzten Jahren durch die eintönigen und launischen Zufälligkeiten der Politik, durch den steten Rausch auf fremden Festen ermüdet: das Aufführen von Triumphbogen, das Ausbessern der Federn in den Flügeln der hinfällig gewordenen Engel ödete ihn an und es schien ihm immer häufiger, es wäre für diese Engel ebenso wie für ihn selbst an der Zeit, sich zur Ruhe zu begeben.
Er beschloß, Mailand zu verlassen und in die Dienste der Medici überzutreten.
Papst Julius II. war tot. Zu seinem Nachfolger war Giovanni Medici unter dem Namen Leo X. gewählt worden. Der neue Papst ernannte seinen Bruder Giuliano zum obersten Kapitän und Bannerträger der Römischen Kirche. Er bekleidete nun das Amt, das einst Cesare Borgia innegehabt hatte. Giuliano begab sich nach Rom. Leonardo sollte ihm im Herbste folgen.
Einige Tage vor seiner Abreise aus Mailand, beim Morgengrauen nach jener Nacht, in der auf dem Platze Broletto hundertneununddreißig Zauberer und Hexen verbrannt worden waren, fanden die Mönche des Klosters San Francesco Beltraffio in der Zelle des Fra Benedetto bewußtlos auf dem Boden liegen.
Es war anscheinend ein Anfall derselben Krankheit, die er vor fünfzehn Jahren nach Fra Pagolos Bericht über Savonarolas Tod durchgemacht hatte. Dieses Mal erholte sich Giovanni recht bald. Nur manchmal flammte in seinen gleichgültigen Augen, in seinem seltsam reglosen, toten Gesicht ein Ausdruck auf, der Leonardo noch mehr Sorge um ihn einflößte, als seine frühere schwere Krankheit.
Da der Meister die Hoffnung, ihn zu retten, noch immer nicht aufgab und ihn zu diesem Zwecke von sich und seinem bösen Blick fernhalten wollte, riet er ihm, bis zur völligen Genesung in Mailand bei Fra Benedetto zu bleiben. Doch Giovanni flehte mit einem so unbeugsamen Trotz, mit einer so stillen Verzweiflung, ihn nicht zu verlassen und nach Rom mitzunehmen, daß Leonardo nicht den Mut hatte, ihn abzuweisen.
Das französische Heer näherte sich Mailand. Der Pöbel war aufgeregt. Der kleine Moro richtete sich durch kindische Unvernunft und durch Eigensinn zugrunde. Man durfte nicht zögern.
Ebenso wie er sich einst von Lorenzo Medici zu Moro, von Moro zu Cesare, von Cesare zu Soderini und von Soderini zu Ludwig XII. begeben hatte, begab Leonardo sich jetzt zu seinem neuen Beschützer, Giuliano Medici; gelangweilt und demütig setzte er als ewiger Wanderer seine hoffnungslosen Irrfahrten fort.
»Am 23. September 1513«, – notierte er mit der gewohnten Kürze in seinem Tagebuch, – »reiste ich mit Francesco Melzi, Salaino, Cesare, Astro und Giovanni aus Mailand nach Rom.«