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Stille Wellen
Eine kleine eisenbeschlagene Türe im nordwestlichen Turme der Rocchetta führte in ein Kellergewölbe, in dem viele eichene Kisten standen. Hier war die Schatzkammer Moros. Über der Türe befand sich ein unvollendetes Fresko von Leonardos Hand; es stellte Gott Merkur in Gestalt eines drohenden Engels dar. In der Nacht auf den 1. September 1499 waren in der Schatzkammer der Hofschatzmeister Ambrogio da Ferrari und der Verwalter der herzoglichen Einkünfte Borgonzio Botto mit ihren Beamten versammelt; sie füllten gemünztes Gold, Perlen, die sie wie Getreide mit vollen Kellen schöpften, und andere Kostbarkeiten in Ledersäcke und versiegelten diese. Diener trugen die Säcke in den Garten und luden sie auf Maultiere. Dreißig Maultiere waren bereits mit zweihundertvierzig Säcken beladen, doch sah man beim Scheine der heruntergebrannten Kerzen noch ganze Haufen Dukaten in den Kisten liegen.
Moro saß vor der Türe der Schatzkammer an einem Schreibpult, auf dem viele Rechnungsbücher lagen, und starrte, ohne auf die Arbeit der Schatzmeister zu achten, wie geistesabwesend in die Flamme der Kerze.
Von jenem Tage an, als ihn die Nachricht von der Flucht seines ersten Feldherrn Signor Galeazzo Sanseverino und von dem Marsche der Franzosen gegen Mailand erreicht hatte, war er in diesen Zustand von Starre verfallen.
Als alle Schätze verpackt waren, fragte ihn der Schatzmeister, ob er auch das Gold- und Silbergeschirr mitzunehmen gedenke, oder ob er es zurücklassen wolle. Moro blickte ihn geistesabwesend und doch mit der größten Anspannung an, als ob es ihm unsagbare Mühe koste, die Frage zu verstehen. Er wandte sich aber gleich ab und starrte wieder in die Flamme. Als Messer Ambrogio seine Frage wiederholte, wandte sich der Herzog gar nicht mehr um. Die Beamten entfernten sich, ohne eine Antwort erhalten zu haben. Moro blieb allein.
Der alte Cameriere Mariolo Pusterlo meldete den neuen Festungskommandanten Bernardino da Corte. Moro fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, erhob sich und sagte:
»Ja, gewiß. Er soll eintreten.«
Er hatte stets den Vertretern vornehmer Geschlechter mißtraut und ihnen Menschen ganz niederer Herkunft vorgezogen, die Ersten zu Letzten, die Letzten zu Ersten gemacht. Unter seinen höchsten Beamten befanden sich Söhne von Ofenheizern, Gärtnern, Köchen und Maultiertreibern. Bernardino war der Sohn eines Hoflakaien und späteren Hofküchenbuchhalters und hatte in seiner Jugend selbst eine Livree getragen. Moro hatte ihn zu den höchsten Würden emporgehoben und erwies ihm nun die größte Ehre, indem er ihn mit der Verteidigung der Mailänder Zitadelle, der letzten Feste seiner Macht in der Lombardei betraute.
Der Herzog empfing den neuen Präfekten sehr gnädig. Er bot ihm einen Sessel an, entfaltete vor ihm die Festungspläne und erklärte ihm die Signale, mit denen die Besatzung der Festung sich mit den Einwohnern der Stadt zu verständigen hatte: die Notwendigkeit rascher Hilfe wurde am Tage durch ein krummes Gartenmesser, nachts durch drei brennende Fackeln auf dem Hauptturme der Festung angezeigt; ein am Turme der Bona Savoja ausgehängtes Laken bedeutete den Verrat der Soldaten; ein aus einer Schießscharte an einem Strick hängender Stuhl – Mangel an Pulver; ein Frauenrock – Mangel an Wein; eine schwarze Hose – Mangel an Brot; ein irdenes Nachtgeschirr bedeutete, daß man einen Arzt brauchte.
Moro hatte diese Zeichen selbst erfunden. Er tröstete sich mit ihnen, einfältig wie ein Kind, und glaubte, daß in ihnen seine letzte Hoffnung und Rettung sei.
»Also siehst du, Bernardino,« schloß er seine Erläuterungen, »alles ist vorgesehen; du hast genügende Vorräte an Geld, Pulver, Lebensmitteln und Geschützen; dreitausend Söldner haben ihren Lohn im voraus bekommen. Ich gebe dir eine Festung, die einer dreijährigen Belagerung stand halten kann; ich bitte dich aber, nur drei Monate auszuharren, und wenn ich dir bis dahin nicht zu Hilfe komme, so kannst du tun, was dir beliebt. – Das wäre, glaube ich, alles. Lebe wohl! Gott schütze dich, mein Sohn!«
Zum Abschied umarmte er ihn.
Als der Präfekt fort war, befahl Moro dem Pagen, sein Feldbett zu richten; er betete, legte sich hin, doch er konnte nicht einschlafen. Er steckte sich wieder eine Kerze an, holte aus seiner Reisetasche ein Päckchen Papiere, und entnahm diesem das Gedicht des Konkurrenten des Bellincioni – eines gewissen Antonio Camelli-da-Pistoja, der den Herzog, seinen ehemaligen Wohltäter, in Stich gelassen und sich zu den Franzosen begeben hatte. In diesem Gedicht wurde der Krieg Moros gegen Frankreich als Kampf zwischen der geflügelten Schlange des Hauses Sforza und dem alten gallischen Hahn beschrieben:
Ich seh den Kampf des Hahnes mit dem Drachen:
Sie haben sich umschlungen und umklammert.
Der Drache hat ein Auge schon verloren
Und will entfliehen, doch er kann es nicht:
Der Hahn umklammert fest den Kopf der Schlange
Und diese windet sich in Wut und Schmerz.
Der Drache stirbt, der gall'sche Hahn wird König!
Den Wurm, der sich als Weltbeherrscher wähnte,
Verachten alle Menschen und auch Tiere
Und selbst der Rabe, der sich nährt von Aas.
Ein Memme war er stets und nur in diesem Streite
Erschien sein feiges Herz voll Mannesmut.
Weil du den Feind ins eigne Land gerufen
Und deinen Neffen seines Trons beraubt,
Hat Gott dir eine Plage nun gespendet,
Von der dich, Moro, nur der Tod erlöst.
Und wenn du an dein Glück noch denkst zurück,
So wirst du, Sohn des Condottiere,
Voll Schrecken starren in die Leere,
Die dir verschlungen hat dein Glück.
Diese unverdiente Beleidigung erfüllte Moros Herz mit einem bitteren und zugleich beinahe wollüstigen Gefühl. Er mußte an die sklavisch-devoten Hymnen, die der gleiche Antonio Camelli-da-Pistoja vor nicht allzu langer Zeit an ihn richtete, denken:
Wer Moros Herrlichkeit erschaut, erstarrt
In heil'gem Grauen, wie vor der Meduse. –
Du Herr von Frieden und von Krieg,
Mit deinen Füßen trittst du auf den Himmel
Und auf die Erde.
Wenn du, o Herzog, einen Finger hebst,
Steht still die Welt!
Als erster neben Gott regierest du
Des Weltalls Steuer und das Rad Fortunas.
Mitternacht war längst vorüber. Die Kerze war ganz heruntergebrannt und ihre Flamme zuckte im Erlöschen. Der Herzog aber ging noch immer in der finsteren Schatzkammer auf und ab. Er dachte an seine Leiden, an die Ungerechtigkeit des Schicksals und an die Undankbarkeit der Menschen.
»Was habe ich ihnen getan? Warum hassen sie mich so? Sie sagen, ich sei ein Verbrecher und Mörder. Dann waren aber Romulus, der seinen Bruder tötete, Caesar und Alexander und alle Helden des Altertums – nur Verbrecher und Mörder! Ich wollte ihnen ein neues Goldenes Zeitalter geben, wie es die Völker seit Augustus, Trajan und Antonius nicht gesehen haben. Es hatte noch wenig gefehlt – und unter meiner Herrschaft wären im vereinigten Italien die alten Lorbeeren Apollos und die Olivenbäume Athenas erblüht; ein Reich des ewigen Friedens, das Reich der göttlichen Musen wäre angebrochen. Ich war der erste unter den Fürsten, der seinen Ruhm nicht in blutigem Streite, sondern in den Früchten des goldenen Friedens – in der Aufklärung suchte. Bramante, Paccioli, Caradosso, Leonardo und noch viele andere Namen werden auch in den entferntesten Zeiten, wenn das eitle Klirren der Waffen längst verstummt sein wird, neben dem Namen Sforza genannt werden! Was hätte ich noch alles vollbracht, auf welche Höhe hätte ich, ein neuer Perikles, mein neues Athen erhoben, wenn nicht diese wilde Horde der nordischen Barbaren ...! Mein Gott, mein Gott, warum muß ich das erleben?«
Er ließ seinen Kopf sinken und wiederholte die Verse des Dichters:
Dann wirst du, Sohn des Condottiere
Voll Schrecken starren in die Leere,
Die dir verschlungen hat dein Glück!
Die Kerze flackerte zum letzten Mal auf, die Flamme beleuchtete die Gewölbe des Turmes und den Merkur über der Türe der Schatzkammer und erlosch. Der Herzog fuhr zusammen, denn das letzte Aufflackern eines verlöschenden Lichtes galt als schlimmes Vorzeichen. Um Ricciardetto nicht zu wecken, suchte er im Finsteren tastend sein Bett auf, entkleidete sich, legte sich nieder und schlief sofort ein.
Er sah sich im Traume vor Madonna Beatrice knien, die erst eben von einem Liebesstelldichein ihres Gatten mit Madonna Lucrezia erfahren hatte, ihn beschimpfte und auf die Backe schlug. Es tat ihm weh, doch er fühlte sich nicht beleidigt: denn er war froh, daß sie lebte. Er ließ sich gehorsam schlagen, haschte nach ihren kleinen braunen Händen, um sie an die Lippen zu drücken und weinte vor Liebe und Mitleid mit ihr. Plötzlich sah er statt Beatrice – den Gott Merkur, wie er von Leonardo auf dem Fresko über der eisernen Türe als drohender Engel dargestellt war, vor sich stehen. Der Gott hatte ihn beim Haarschopf gepackt und schrie ihn an: »Narr! Narr! Worauf hoffst du noch? Du glaubst wohl, daß dir alle deine Schliche helfen werden, der göttlichen Strafe zu entrinnen? Du Mörder!«
Als er erwachte, drang durch die Fenster das erste Morgenlicht ein. Ritter, Würdenträger und Soldaten, die ihn nach Deutschland begleiten sollten, – im ganzen etwa dreitausend Berittene, erwarteten den Herzog in der Hauptallee des Parkes und auf der Landstraße, die gen Norden – zu den Alpen führte.
Moro ritt noch zum Kloster delle Grazie, um zum letzten Mal am Grabe seiner Frau zu beten.
Als die Sonne eben aufging, setzte sich der traurige Zug in Bewegung.
Da die Straßen infolge des herbstlichen Unwetters schlecht waren, verzögerte sich die Reise um mehr als zwei Wochen.
Am 18. September, auf einer der letzten Tagereisen, beschloß der Herzog, der müde und krank war, auf einer Höhe in einer Höhle, die sonst nur Hirten als Zuflucht diente, zu übernachten. Es wäre wohl möglich gewesen, einen ruhigeren und bequemeren Ort zum Übernachten zu finden, aber Moro wählte absichtlich diese Wildnis zur Begegnung mit dem Gesandten des Kaisers Maximilian.
Ein Holzfeuer beleuchtete die Stalaktiten auf den tief herabhängenden Wölbungen der Höhle. In der Feldküche wurden Fasanen zum Abendessen gebraten. Der Herzog saß auf einem aus Riemen geflochtenen Feldstuhl, in warme Decken eingehüllt, mit einer Wärmflasche an den Füßen. Madonna Lucrezia, heiter und ruhig wie immer, spielte die Hausfrau; jetzt bereitete sie für den Herzog ein von ihr selbst erfundenes Spülwasser gegen Zahnschmerzen; es bestand aus Wein, Pfeffer, Nelken und anderen starkriechenden Gewürzen. Der Herzog hatte Zahnweh.
»So stehen die Sachen, Messer Odoardo,« sagte er zum kaiserlichen Gesandten; die Größe seiner Leiden schien ihn mit einem gewissen Stolz zu erfüllen. »Ihr könnt seiner Majestät berichten, wo und in welchem Zustande Ihr den rechtmäßigen Herzog der Lombardei angetroffen habt!«
Er hatte wieder einen jener Anfälle von Geschwätzigkeit, die jetzt oft seinen Zuständen von Starre und Geistesabwesenheit folgten.
»Füchse haben ihre Löcher, Vögel ihre Nester, ich allein finde keine Zufluchtstätte!«
»Corio,« wandte er sich zum Hofhistoriographen: »vergiß nicht in deiner Chronik auch dieses Nachtlager in der Höhle zu erwähnen, dieser letzten Zufluchtsstätte des Nachkommen der großen Sforzas aus dem Geschlechte des trojanischen Helden Anglus, des Begleiters des Aeneas!«
»Signore, Euer Mißgeschick ist der Feder eines neuen Tacitus würdig!« bemerkte Odoardo.
Lucrezia reichte dem Herzog das Mundwasser. Er sah sie an und konnte seinen entzückten Blick nicht von ihr wenden. Sie stand blaß, aber frisch im rosigen Widerschein der Flamme, mit ihrem schwarzen, glatt über die Ohren gekämmten Haar und einem Diamanten auf dem schmalen Stirnreif. Sie blickte lächelnd auf ihn, voll mütterlicher Zärtlichkeit und zugleich etwas scheu mit ihren aufmerksamen, ernsten und kindlich unschuldigen Augen.
»Mein Lieb! Du wirst mich nie verraten, nie verlassen!« dachte er sich. Als er mit dem Spülen fertig war, sagte er:
»Corio, notiere dir: Im Schmelzofen der großen Leiden wird echte Freundschaft geprüft, so wie das Gold im Feuer.«
Der Zwerg und Hofnarr Janacchi näherte sich dem Herzog. Er kauerte sich zu seinen Füßen, klopfte ihm freundschaftlich aufs Knie und sagte: »Gevatter, he Gevatter! Was läßt du deine Nase hängen und bläst Trübsal? Laß das! Für jedes Leid gibt es eine Arznei, nur für den Tod nicht. In der Tat: es ist besser ein lebender Esel, als ein toter König zu sein. – Sättel!« schrie er plötzlich, auf einen Haufen Pferdegeschirr weisend. »Gevatter, sieh nur hin: da sind Eselsättel!«
»Worüber freust du dich so?« fragte der Herzog.
»Es ist ein altes Märchen, Moro! Du solltest es eigentlich hören, soll ich es dir erzählen?«
»Meinetwegen kannst du es erzählen.«
Der Zwerg sprang auf, so daß alle seine Schellen klirrten, und fuchtelte mit seinem Narrenstab, an dem eine mit Erbsen gefüllte Schweinsblase hing.
»Beim König Alfonso von Neapel lebte der Maler Giotto. Der König befahl ihm einmal, sein ganzes Königreich auf einer Wand im Schlosse darzustellen. Giotto malte einen Esel, der auf dem Rücken einen Sattel mit dem königlichen Wappen, Krone und Szepter trug und einen anderen neuen Sattel, mit dem gleichen Wappen, der zu seinen Füßen lag, beschnupperte. ›Was hat das zu bedeuten?‹ fragte ihn Alfonso. – ›Es ist Euer Volk, Majestät,‹ erwiderte der Künstler, ›das sich jeden Tag einen neuen Herrscher wünscht.‹ – Das ist mein ganzes Märchen, Gevatter. Ich bin zwar ein Narr, doch spreche ich die Wahrheit: der französische Sattel, den jetzt die Mailänder beschnuppern, wird ihnen bald den Rücken wundreiben; laß den Esel nur seine Freude daran haben: bald wird ihm der alte Sattel wieder neu erscheinen und der neue – alt.«
» Stulti aliquando sapientes. – Die Narren sind manchmal weise,« sagte der Herzog mit traurigem Lächeln. »Corio, notiere dir ...«
Diesmal war es ihm nicht gegönnt, den bemerkenswerten Ausspruch zu diktieren: denn er hörte vor der Höhle Pferdegewieher, Klirren von Hufeisen und mehrere gedämpfte Stimmen. Der Cameriere Mariolo Pusterlo kam hereingestürzt und flüsterte ganz erschrocken dem ersten Sekretär Bartolomeo Calco etwas ins Ohr.
»Was gibt's?« fragte Moro.
Alle verstummten.
»Hoheit, ...« begann der Sekretär. Aber seine Stimme versagte und er wandte sich erschauernd ab.
»Signore,« sagte Luigi Marliani, sich dem Herzog nähernd. »Der Herr möge Ew. Durchlaucht beschützen! Ihr müßt Euch auf alles gefaßt machen. Es ist eine schlimme Nachricht ...«
»Redet doch! Sagt alles!« schrie Moro erbleichend.
Sein Blick fiel auf einen Mann in kotbespritzten Reiterstiefeln, der unter den Hofbediensteten und Soldaten am Eingänge der Höhle stand. Alle machten ihm schweigend Platz. Der Herzog stieß Messer Luigi zur Seite, stürzte zum Boten, und entriß ihm einen Brief. Er entfaltete und las das Schreiben, schrie auf und fiel in Ohnmacht. Pusterlo und Marliani gelang es noch, ihn in ihre Arme aufzufangen.
Borgonzio Botto teilte mit, daß am 17. September, dem Tage des heiligen Satyrus, der Verräter Bernardino da Corte die Mailänder Feste dem Marschalle des Königs von Frankreich, Gian-Jacopo Trivulzio, übergeben hatte.
Der Herzog liebte es in Ohnmacht zu fallen und war darin ein großer Künstler. Manchmal gebrauchte er dies Mittel als diplomatischen Trick. Diesmal aber war die Ohnmacht echt.
Man konnte ihn lange nicht zum Bewußtsein bringen. Endlich öffnete er die Augen, seufzte auf, erhob sich, bekreuzte sich inbrünstig und sprach:
»Seit Judas gab es noch keinen größeren Verräter als Bernardino da Corte!«
An diesem Tag sprach er kein Wort mehr.
Einige Tage später befand er sich schon in Innsbruck, wo ihn Kaiser Maximilian höchst gnädig aufgenommen hatte. Zu einer späten Nachtstunde ging er in einem Saal des kaiserlichen Schlosses auf und ab und diktierte seinem ersten Sekretär Bartolomeo Calco Beglaubigungsschreiben für die Gesandten, die er heimlich nach Konstantinopel zum Sultan schicken wollte.
Das Gesicht des alten Sekretärs drückte nichts als gespannte Aufmerksamkeit aus. Seine Feder flog gehorsam über das Papier und konnte kaum dem raschen Diktat Moros folgen.
»Indem Wir stets fest und unerschütterlich in Unseren guten Vorsätzen und in Unseren freundschaftlichen Gefühlen Ew. Majestät gegenüber sind und nun auf die großmütige Beihilfe des Herrschers des Ottomanischen Reiches zur Wiedererlangung Unseres Landes hoffen, haben wir beschlossen, drei Boten auf drei verschiedenen Wegen zu schicken, damit wenigstens einer Unsere Aufträge ausführe.«
Weiter beklagte er sich beim Sultan über den Papst Alexander VI.:
»Der Papst, der von Natur aus hinterlistig und schlecht ist ...«
Die leidenschaftslose Feder des Sekretärs stockte. Er hob die Brauen, runzelte die Stirne und fragte in der Annahme, daß er falsch verstanden habe:
»Der Papst?«
»Ja, der Papst. Schreibe rascher.«
Der Sekretär beugte seinen Kopf noch tiefer und kritzelte weiter.
»Der Papst, der, wie es Ew. Majestät bekannt ist, von Natur aus hinterlistig und schlecht ist, hat den König von Frankreich zu einem Feldzug gegen die Lombardei bewogen.«
Weiter wurden die Siege der Franzosen beschrieben.
»Als Wir von den Siegen erfuhren, gerieten Wir in solche Angst,« gestand Moro ein, »daß Wir es vorzogen, Uns zum Kaiser Maximilian zu begeben und hier auf die Hilfe Ew. Majestät zu warten. Alle haben Uns betrogen und verraten, am meisten aber Bernardino ...«
Bei diesem Namen zitterte seine Stimme.
»Bernardino da Corte ist eine Schlange, die Wir an Unserem Busen großgezogen, ein Sklave, den wir mit Unseren Gnadenbeweisen und reichen Gaben überschüttet haben; und er hat Uns wie Judas verraten ... – Nein, warte: das mit dem Judas gehört nicht hinein ...« Ihm fiel ein, daß der Brief doch an einen ungläubigen Türken gerichtet war.
Nachdem er seine Leiden beschrieben, bat er den Sultan, Venedig von der Land- und der Seeseite zu überfallen und prophezeite ihm einen sicheren Sieg und die vollständige Vernichtung der San Marco-Republik – des Erbfeindes des Ottomanischen Reiches.
»Ew. Majestät,« schloß er den Brief, »dürfen, wie in diesem Kriege, so auch in jedem andern Unternehmen über alles, was Wir besitzen, verfügen, denn Ew. Majestät können wohl in ganz Europa keinen stärkeren und treueren Bundesgenossen finden, als Wir es sind.«
Er ging zum Schreibtisch, um noch etwas hinzuzufügen, doch gab er es auf und sank erschöpft in einen Sessel.
Bartolomeo streute Sand auf die letzte Seite, die noch nicht ganz trocken war. Plötzlich hob er den Blick auf seinen Herrn: der Herzog hatte sein Gesicht mit beiden Händen bedeckt und weinte. Sein Rücken und seine Schultern, das weiche Doppelkinn, die bläulichen, glattrasierten Wangen, seine glatte Frisur – die Zazzera – alles zitterte unter dem Schluchzen.
»Wofür? Wofür? Herr, wo ist deine Gerechtigkeit?«
Er wandte sein runzliges Gesicht, das in diesem Augenblick dem eines alten verweinten Weibes glich, dem Sekretär zu und sagte:
»Bartolomeo, dir vertraue ich; sag mir aufrichtig, ob ich im Rechte oder Unrechte bin?«
»Durchlaucht denken dabei an die Gesandtschaft zum Türken?«
Moro nickte bejahend. Der alte Diplomat hob nachdenklich seine Brauen, spitzte die Lippen und runzelte die Stirne.
»Einerseits steht ja fest, daß man unter Wölfen heulen soll; aber andererseits ... Ich erlaube mir Ew. Hoheit den Vorschlag zu machen, noch etwas zu warten ...«
»Um nichts in der Welt!« rief Moro erregt aus. »Ich habe genug gewartet! Ich will ihnen zeigen, daß man einen Herzog von Mailand nicht wie einen überflüssigen Bauer im Schachspiel hinauswerfen darf! Siehst du, mein Freund: wenn der Gerechte leidet, wie es mein Fall ist, so darf ihn niemand verurteilen, und wenn er nicht nur die Hilfe des Großtürken, sondern auch die des Teufels anruft!«
»Hoheit,« sagte der Sekretär mit einschmeichelnder Stimme, »wäre denn nicht zu befürchten, daß die Berufung der Türken nach Europa unerwartete Folgen ... sagen wir für die christliche Kirche haben könnte?«
»Bartolomeo, glaubst du denn, daß ich nicht schon selbst darüber nachgedacht habe? Ich will lieber tausendmal den Tod erleiden, als unserer Mutter, der Kirche, auch den geringsten Schaden zuzufügen. Daß Gott mich davor bewahre!«
»Du kennst noch nicht alle meine Pläne,« fügte er mit seinem früheren listigen und gierigen Lächeln hinzu. »Laß mir nur Zeit! Ich werde den Feinden schon eine Suppe einbrocken und sie so umgarnen, daß es ihnen angst und bange werden wird! Eines will ich dir nur sagen: der Großtürke ist nur ein Werkzeug in meiner Hand. Wenn die Zeit kommt, werden wir auch ihn vernichten, die gottlose Sekte Mohammeds aus der Welt schaffen und das Heilige Grab vom Joche der Ungläubigen erlösen! ...«
Bartolomeo antwortete nichts und blickte finster zu Boden.
»Schlecht steht es mit ihm!« dachte er sich. »Ganz schlecht! Er hat sich verrannt. Was für eine Politik kann dabei herauskommen?!«
In dieser Nacht betete der Herzog lange mit heißem Glauben und in der Hoffnung auf die Hilfe des Großtürken vor seinem liebsten Heiligenbilde, auf dem Leonardo die schöne Geliebte Moros, Gräfin Cecilia Bergamini, als Mutter Gottes dargestellt hatte.
Zehn Tage vor der Übergabe der Mailänder Zitadelle war Marschall Trivulzio, mit den Freudenrufen des Volkes: »Frankreich! Frankreich!« und mit Glockengeläute empfangen, in Mailand wie in eine eroberte Stadt eingezogen.
Der feierliche Einzug des Königs sollte am 6. Oktober stattfinden. Die Bürger rüsteten sich zum festlichen Empfang.
Im Festzug sollten auch zwei Engel, die vor fünfzig Jahren in den Tagen der Ambrosianischen Republik Genien der Volksfreiheit dargestellt hatten, und die jetzt von den Handelssyndici aus der Schatzkammer des Domes herausgeholt wurden, Verwendung finden. Die alten Federn, die die vergoldeten Flügel antrieben, hatten nachgelassen. Die Engel wurden daher dem ehemaligen herzoglichen Mechaniker Leonardo da Vinci in Reparatur gegeben.
Um jene Zeit war Leonardo mit dem Bau einer neuen Flugmaschine beschäftigt. Eines Morgens, als es noch finster war, saß er bei seinen Zeichnungen und mathematischen Berechnungen. Das leichte Rohrgerippe der Flügel, das mit Taffet wie mit einer Schwimmhaut überzogen war, erinnerte nicht mehr an eine Fledermaus, wie die erste Maschine, sondern an eine Riesenschwalbe. Das feine, spitze und überaus schöne Gebilde eines schon fertigen Flügels reichte vom Boden bis zur Decke; unten in seinem Schatten saß Astro, mit der Ausbesserung der beschädigten Sprungfedern an den beiden hölzernen Engeln der Mailänder Kommune beschäftigt.
Diesmal wollte Leonardo mit seinem Flugapparat dem Körperbau der Vögel nahekommen, denn darin hatte die Natur selbst dem Menschen das Modell eines Flugapparats geliefert. Er ließ sich noch immer von der Hoffnung leiten, das Wunder des Fluges den Gesetzen der Mechanik anpassen zu können. Er wußte wohl alles, was man überhaupt wissen kann, und doch fühlte er, daß im Fluge ein Geheimnis enthalten sei, das sich den einfachen mechanischen Gesetzen nicht fügen wollte. Er näherte sich, wie bei vielen früheren Versuchen, jener Kluft, die ein Werk der Natur von einem Werke der Menschenhände, und den Bau eines lebenden Körpers von einer toten Maschine trennt. Es schien ihm, daß er nach Unmöglichem strebe.
»Gott sei Dank, fertig!« rief Astro, die Federn aufziehend. Die Engel schwangen ihre schweren Flügel. Ein Windhauch flog durchs Zimmer und der dünne leichte Flügel der Riesenschwalbe zitterte und rauschte wie lebendig. Der Schmied blickte den Flügel mit unsagbarer Zärtlichkeit an.
»So viel Zeit habe ich mit diesen Kerlen verloren!« sagte er auf die Engel zeigend. »Aber jetzt, Meister, verlasse ich diese Werkstatt nicht eher, als bis ich mit den Flügeln fertig bin. – Ich bitte um die Zeichnung des Schwanzes.«
»Sie ist noch nicht fertig, Astro. Ich muß mir da noch manches überlegen.«
»Aber Messere! Ihr hattet sie mir ja noch vorgestern versprochen ...«
»Was kann ich machen, Freund! Du weißt, daß der Schwanz unseres Vogels als Steuer dient. Der kleinste Fehler kann da alles verderben.«
»Gut, Ihr müßt es wohl besser wissen. Ich will warten, aber inzwischen nehme ich den zweiten Flügel vor ...«
»Warte noch etwas damit, Astro,« sagte der Meister. »Ich fürchte nämlich, daß wir wieder etwas werden abändern müssen ...«
Der Schmied antwortete nichts. Er hob vorsichtig das Rohrgerippe, das von einem Netzwerk aus Ochsensehnen zusammengehalten war, und begann es zu wenden. Dann sagte er mit dumpfer, bebender Stimme:
»Meister, zürnt mir nur nicht, aber wenn Ihr mit Eurer Mathematik wieder erklärt, daß man auch mit dieser Maschine nicht fliegen könne, so werde ich trotzdem fliegen, Eurer Mechanik zum Trotz; denn ich kann nicht länger warten, es geht über meine Kräfte! ... Eines weiß ich bestimmt: wenn wir auch diesmal ...«
Er kam nicht weiter und wandte sich ab. Leonardo musterte aufmerksam sein derbknochiges, stumpfes und eigensinniges Gesicht, in dem nur ein einziger, unverrückbarer, wahnsinniger und alles andere niederdrückender Gedanke zu lesen war.
»Messere,« sagte Astro, »sagt es mir lieber offen: werden wir fliegen, oder nicht?«
Aus diesen Worten klang so viel Angst und Hoffnung, daß Leonardo nicht den Mut fand, die Wahrheit zu sagen.
»Bestimmt kann ich noch nichts sagen,« antwortete er, zu Boden blickend, »ehe wir es nicht versucht haben. Aber ich glaube doch, Astro, daß wir fliegen werden ...«
»Genug, kein Wort mehr!« rief der Schmied, vor Entzücken mit den Armen fuchtelnd. »Jetzt will ich auf nichts mehr hören! Wenn Ihr selbst sagt, daß wir fliegen werden, so werden wir auch fliegen!«
Er gab sich offenbar Mühe, sich zu beherrschen, doch schließlich brach er in ein glückliches kindliches Lachen aus.
»Was hast du?« wunderte sich Leonardo.
»Verzeiht, Messere. Ich störe Euch bei Eurer Arbeit. Aber nur noch dies eine Mal will ich Euch unterbrechen ... Glaubt es mir: wenn ich an die Mailänder, an die Franzosen, den Herzog Moro, den König denke, so muß ich lachen, und zugleich tun sie mir auch etwas leid. Die Armen streiten miteinander, mühen sich ab und glauben große Taten zu vollbringen. Die kriechenden Würmer, flügellosen Käfer ahnen gar nicht, was für ein Wunder hier vorbereitet wird. Stellt Euch nur vor, Meister, was für Augen sie machen, wie sie die Mäuler aufreißen werden, wenn sie beflügelte und fliegende Menschen sehen. Denn das ist doch was anderes als diese hölzernen Engel, die zur Ergötzung des Pöbels ihre Flügel schwingen. Sie werden ihren Augen nicht trauen und glauben, es sind Götter. Das heißt: mich werden sie wohl kaum für einen Gott ansehen, viel eher für einen Teufel; Ihr werdet aber mit den Flügeln wirklich wie ein Gott erscheinen. Vielleicht werden sie Euch auch für den Antichrist halten. Sie werden erschrecken und auf ihr Angesicht fallen und Euch anbeten. Und Ihr werdet mit ihnen alles tun können, was Ihr nur wollt. Ich glaube, Meister, daß es dann weder Kriege noch Gesetze, weder Herren noch Sklaven geben wird; alles wird anders werden und eine neue Zeit wird anbrechen, wie wir sie uns heute noch gar nicht ausmalen können. Die Völker werden sich zu geflügelten Chören vereinigen und sie werden ein allversöhnendes Hosianna anstimmen ... Messere Leonardo! Mein Gott! wird es denn auch wirklich so kommen?«
Er sprach wie im Fieber.
»Der Arme!« dachte sich Leonardo. »Wie fest sein Glaube ist! Vielleicht kommt er noch wirklich um seinen Verstand. Was soll ich mit ihm tun? Wie kann ich ihm denn die Wahrheit sagen?«
In diesem Augenblick wurde an die Haustüre und etwas später an die Türe der Werkstatt geklopft. Man hörte auch Stimmen und Schritte.
»Wer, zum Teufel, kommt nun schon wieder?« fluchte Astro. »Wer ist da? Der Meister ist nicht zu sprechen. Er ist nicht in Mailand, er ist verreist.«
»Ich bin es, Astro! Ich – Luca Paccioli. Um Gottes willen, mach auf!«
Astro machte auf und ließ den Mönch herein.
»Was ist mit Euch, Fra Luca?« fragte der Künstler, als er das erschrockene Gesicht Pacciolis erblickte.
»Es handelt sich nicht um mich, Messer Leonardo, – oder doch auch um mich, doch davon später. Messer Leonardo! ... Euer Koloß ... Die Gascogner Armbrustschützen, – ich komme direkt aus dem Castello und habe es mit eigenen Augen gesehen: die Franzosen zerstören Euer Pferd ... Kommt doch rasch mit, wir müssen eilen!«
»Wozu?« fragte Leonardo. Er blieb ruhig und wurde nur etwas blaß. »Was können wir da machen?«
»Wie? Erlaubt mir! Ihr werdet doch nicht hier ruhig dasitzen, während Euer größtes Werk zerstört wird? Ich kann mir Zugang zum Sir de la Trémouille verschaffen. Wir müssen sofort etwas unternehmen ...«
»Wir kommen wohl so wie so zu spät,« sagte der Künstler.
»Wir kommen noch zurecht! Wir wollen den kürzesten Weg, über Gemüsegärten und Zäune nehmen. Aber rasch, beeilt Euch!«
Der Mönch schleppte Leonardo aus dem Haus und sie rannten beide zum Schloß.
Unterwegs erzählte ihm Fra Luca von seinem eigenen Leid: in der vergangenen Nacht hatten die Landsknechte den Keller des Kanonikus von San Simpliciano, wo Paccioli sein Quartier hatte, ausgeplündert; sie betranken sich und schlugen alles kurz und klein, auch die Kristallmodelle der geometrischen Körper, die sie in einer der Zellen fanden und für Werkzeuge der schwarzen Magie oder für »Kristalle zum Wahrsagen« hielten.
»Was haben ihnen meine unschuldigen Kristalle getan?« jammerte Paccioli.
Sie gelangten auf den Schloßplatz und sahen vor dem südlichen Haupttor, auf der Battiponte-Zugbrücke neben dem Torre del Filarete einen jungen französischen Stutzer stehen, der von einer Suite umgeben war.
»Maître Gilles!« rief Fra Luca aus und erklärte Leonardo, daß dieser Maître Gilles ein Vogelfänger, ein sogenannter »Feldhuhnpfeifer » sei, der die Zeisige, Elstern, Papageien und Staare seiner allerchristlichsten Majestät abrichte und ihnen das Singen und Sprechen beibringe, und der am Hofe eine große Rolle spiele. Es wurde erzählt, daß in Frankreich nicht nur die Elstern allein nach seiner Pfeife tanzten. Paccioli hatte schon längst die Absicht, ihm seine Werke »Die göttliche Proportion« und »Summa Arithmeticae« in kostbaren Einbänden zu dedizieren.
»Ihr könnt um mich unbesorgt sein, Fra Luca,« sagte Leonardo. »Geht nur zum Maître Gilles. Ich werde schon allein das Nötige tun.«
»Nein, zu ihm gehe ich später,« sagte Paccioli etwas verblüfft. »Wißt Ihr was? Jetzt will ich nur für einen Augenblick zu ihm gehen und ihn fragen, wohin er geht. Dann kehre ich gleich zu Euch zurück. Ihr selbst müßt aber gleich zum Sir de la Trémouille gehen.«
Der flinke Mönch raffte die Schöße seiner braunen Kutte hoch und hüpfte dem königlichen Feldhuhnpfeifer nach, wobei die Zoccoli auf seinen nackten Füßen klapperten.
Leonardo ging über den Battiponte und gelangte auf das Marsfeld – den inneren Hof des Mailänder Schlosses.
Der Morgen war nebelig. Die Lagerfeuer waren im Erlöschen. Auf dem Platze und in den anliegenden Gebäuden waren Kanonen, Kugeln, Lagergepäck, Hafersäcke, Strohbündel und Mist angehäuft, so war das Marsfeld in eine riesengroße Kaserne, in Pferdestall und Kantine verwandelt. Vor den Marketenderbuden und Bratküchen standen und lagen volle und leere Fässer, von denen manche als Spieltische dienten; man schrie, fluchte und schimpfte in verschiedenen Sprachen. Gotteslästerungen und trunkene Lieder schwirrten durch die Luft. Wenn irgendein Vorgesetzter vorbeiging, wurde alles still; man vernahm Trommelwirbel und Trompeten der rheinischen und schwäbischen Landsknechte. Söldner aus den freien Kantonen Uri und Unterwalden bliesen auf ihren Alpenhörnern eintönige Schäferweisen.
Der Künstler drängte sich bis zur Mitte des Platzes und sah, daß sein Koloß fast unversehrt war.
Francesco Attendolo Sforza, der große Herzog und Eroberer der Lombardei, mit dem kahlen Kopf eines römischen Imperators und dem Ausdruck von Löwenmut und Fuchslist im Gesicht, saß noch immer auf seinem Pferd, das sich bäumte und einen gefallenen Krieger mit den Hufen trat.
Schwäbische Arkebusiere, graubündner Schützen, pikardische Steinschleuderer und gascogner Armbrustschützen drängten sich um das Bildwerk und schrien. Da sie einander offenbar schlecht verstanden, ergänzten sie die Worte mit Gebärden, nach denen Leonardo schloß, daß hier ein Wettkampf zweier Schützen, eines Deutschen und eines Franzosen, bevorstehe. Sie sollten abwechselnd auf Distanz von fünfzig Schritten, nachdem ein jeder vier Krüge starken Weines getrunken, schießen. Als Zielpunkt wurde das Muttermal auf der Wange des Kolosses bestimmt.
Die Distanz wurde abgemessen und die Reihenfolge der Schützen ausgewürfelt. Die Marketenderin brachte den Wein. Der Deutsche trank die vier Krüge in einem Zuge aus, trat zurück, zielte, drückte ab und schoß fehl. Der Pfeil zerkratzte die Wange, zertrümmerte den Rand des linken Ohres, berührte aber das Mal nicht.
Als nun der Franzose seine Armbrust anlegte, kam in die Zuschauermenge Bewegung. Die Soldaten machten Platz und ließen einen Zug prunkvoll gekleideter Herolde, die einen Ritter begleiteten, passieren. Dieser ritt vorbei, ohne auf das Treiben der Soldaten zu achten.
»Wer ist es?« fragte Leonardo einen neben ihm stehenden Steinschleuderer.
»Sir de la Trémouille.«
»Noch habe ich Zeit!« dachte sich der Künstler, »soll ich ihm nachlaufen, ihn bitten? ...«
Er blieb aber wie erstarrt stehen, denn er fühlte sich zu keiner Handlung fähig; sein Wille war so geschwächt, daß er auch dann keinen Finger gerührt hätte, wenn es um sein Leben gegangen wäre. Angst, Scham und Ekel bemächtigten sich seiner beim Gedanken, daß er sich nun durch den Troß der Lakaien hindurchdrängen und dem Mächtigen nachlaufen müsse, wie es eben Luca Paccioli tat.
Der Gascogner drückte ab. Der Pfeil sauste durch die Luft und blieb im Muttermal stecken.
»Bigorre! Bigorre! Montjoie Saint-Denis!« schrien die Soldaten, ihre Mützen schwingend. »Frankreich hat gesiegt!«
Die Schützen drängten sich wieder um den Koloß und setzten den Wettkampf fort.
Leonardo wollte fortgehen, blieb aber wie angewurzelt stehen und sah teilnahmslos, als ob es ein schrecklicher und sinnloser Traum wäre, zu, wie das Werk der sechzehn besten Jahre seines Lebens, vielleicht das herrlichste Bildwerk seit Praxiteles und Phidias, zerstört wurde.
Unter dem Hagel von Pfeilen, Kugeln und Steinen bröckelte der Ton ab, feiner Sand und größere Klumpen fielen zu Boden und in den Staubwolken wurde das Eisengerippe sichtbar.
Die Sonne kam hinter den Wolken zum Vorschein. In ihrem freudigen Licht erschien die Ruine des Kolosses mit dem kopflosen Rumpf des Helden auf dem Pferde ohne Beine, mit den Resten des herzoglichen Szepters in der noch unversehrten Hand und der Inschrift » Ecce Deus! – Sehet welch ein Gott!« auf dem Postament, noch unglücklicher und elender.
In diesem Augenblick kam der erste Feldherr des Königs von Frankreich, der alte Marschall Gian-Jacopo Trivulzio über den Platz. Als er den Koloß gewahrte, blieb er etwas verdutzt stehen. Er hielt die Hand vor die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, sah das Bildwerk noch einmal an und wandte sich dann zu seinen Begleitern:
»Was ist das?«
»Monseigneur!« erklärte ehrfurchtsvoll ein Leutnant, »Hauptmann Georges Coqueburn hat es den Armbrustschützen aus eigener Machtvollkommenheit erlaubt ...«
»Das Sforzadenkmal,« rief der Marschall aus, »ein Werk Leonardo da Vincis als Zielscheibe für die gascogner Schützen! ...«
Er ging auf die Soldaten zu, die so sehr hingerissen waren, daß sie ihn gar nicht bemerkten, packte einen pikardischen Schleuderer am Kragen, warf ihn zu Boden und begann wahnsinnig zu fluchen.
Das Gesicht des alten Marschalls wurde blaurot, die Adern auf seinem Halse blähten sich.
»Monseigneur!« lallte der Soldat, kniend und am ganzen Leibe bebend. »Monseigneur, wir hatten es nicht gewußt ... Hauptmann Coqueburn ...«
»Wartet nur, ihr Hundesöhne!« schrie Trivulzio, »ich werde euch schon den Hauptmann Coqueburn zeigen! Ich werde euch alle an den Beinen aufhängen lassen! ...«
Er zog blank und hätte wohl zugehauen, wenn Leonardo ihn nicht mit seiner Linken so kräftig am Handgelenk gepackt hätte, daß sich das eherne Armstück der Rüstung verbog.
Der Marschall bemühte sich vergebens, den Arm zu befreien und blickte Leonardo mit größtem Erstaunen an.
»Wer ist es?« fragte er.
»Leonardo da Vinci,« erwiderte jener ruhig.
»Wie unterstehst du dich!« schrie ihn der Alte wütend an. Als ihn aber der ruhige Blick des Künstlers traf, verstummte er.
»Du bist also – Leonardo!« sagte er, ihn anblickend. »Die Hand laß aber los! Du hast mir das Armstück verbogen, so eine Kraft! Das nenne ich kühn! ...«
»Monsignore, ich bitte Euch, zürnt nicht und vergebt ihnen!« sagte der Künstler ehrfurchtsvoll.
Der Marschall musterte ihn noch aufmerksamer, lächelte und schüttelte den Kopf:
»Narr! Sie haben ja dein bestes Werk zerstört und du bittest noch für sie?«
»Ew. Durchlaucht, wenn Ihr sie auch alle aufhängen ließet, was würde das mir und meinem Werke nützen? Sie wissen nicht, was sie tun.«
Der Alte wurde nachdenklich. Sein Gesicht heiterte sich plötzlich auf und seine kleinen klugen Augen nahmen einen gutmütigen Ausdruck an.
»Hör einmal, Messer Leonardo, eines kann ich nicht begreifen: wie konntest du hier ruhig dabei stehen und zusehen? Warum hast du dich nicht beschwert, warum hast du es nicht mir oder Sir de la Trémouille gesagt? Er ritt hier wohl übrigens vor kurzem vorbei?«
Leonardo schlug die Augen nieder und sagte stotternd und errötend, als ob er sich einer Schuld bewußt wäre:
»Ich hatte nicht mehr Zeit ... Auch kenn ich Sir de la Trémouille nicht ...«
»Schade!« sagte der Alte, die Trümmer betrachtend. »Ich hätte hundert meiner besten Soldaten für dein Koloß geopfert!« ...
Auf dem Heimwege ging der Künstler über die Brücke mit der schönen Loggia des Bramante, wo er seine letzte Begegnung mit Moro gehabt hatte. Er sah, wie die französischen Pagen und Reitknechte auf die zahmen Schwäne, die Lieblinge des Herzogs von Mailand, mit Armbrüsten schossen. Die Vögel warfen sich in dem engen, von hohen Wänden eingeschlossenen Graben erschrocken hin und her. Im schwarzen Wasser schaukelten zwischen weißem Flaum und Federn blutbespritzte Leichen. Ein erst eben verwundeter Schwan streckte mit einem durchdringenden jammervollen Schrei seinen langen Hals aus und schlug mit den erlahmenden Flügeln, als wolle er noch vor dem Tode in die Lüfte steigen.
Leonardo wandte sich ab und ging rasch vorüber. Er kam sich selbst wie dieser Schwan vor.
Sonntag, den 6. Oktober, zog König Ludwig XII. von Frankreich durch das Ticino-Tor in Mailand ein. Unter seinem Gefolge befand sich Cesare Borgia, Herzog von Valentino, ein Sohn des Papstes. Im Zuge vom Domplatze zum Schloß wurden auch die Engel der Mailänder Kommune getragen, die ihre Flügel ganz vorschriftsmäßig bewegten.
Von jenem Tage an, als der Koloß zerstört wurde, hatte Leonardo seinen Flugapparat nicht angerührt. Astro allein machte den Apparat fertig. Leonardo hatte nicht den Mut, ihm zu sagen, daß auch diese Flügel nichts taugten. Der Schmied ging dem Meister augenscheinlich aus dem Wege und sprach mit ihm kein Wort über den bevorstehenden Flugversuch. Nur ab und zu warf er ihm einen stummen Blick aus seinem einzigen Auge zu, in dem ein trübes und wahnsinniges Feuer leuchtete.
An einem der letzten Oktobertage kam Paccioli eines Morgens zu Leonardo hereingestürzt und brachte die Nachricht, daß der König ihn ins Schloß berufe. Der Künstler ging mit einigem Widerwillen hin. Er hatte bemerkt, daß die Flügel verschwunden waren und fürchtete, daß Astro, der doch um jeden Preis fliegen wollte, Unheil anrichten könne.
Als Leonardo den ihm so wohlvertrauten Saal der Rocchetta betrat, empfing Ludwig XII. die Ältesten und die Syndici von Mailand.
Der Künstler betrachtete seinen zukünftigen Herrn, den König von Frankreich.
In seinem Äußern war nichts Majestätisches: er hatte einen schwachen, gebrechlichen Körper mit schmalen Schultern und eingefallener Brust, sein Gesicht war von Runzeln entstellt und leidend, doch von den Leiden nicht veredelt, sondern flach, alltäglich, mit dem Ausdrucke kleinbürgerlicher Tugendhaftigkeit.
Auf der obersten Stufe des Thrones stand ein etwa zwanzigjähriger junger Mann in einfacher schwarzer Kleidung, nur mit einigen Perlen an den Aufschlägen des Baretts und mit der Muschelkette des Erzengel Michaelordens geschmückt; er hatte lange blonde Locken, kurzen, geteilten, dunkelblonden Bart, ein gleichmäßig blasses Gesicht und schwarzblaue, freundliche und kluge Augen.
»Sagt mir doch, Fra Luca,« flüsterte der Künstler seinem Begleiter zu: »Wer ist dieser Würdenträger?«
»Ein Sohn des Papstes,« erwiderte der Mönch, »Cesare Borgia, Herzog von Valentino.«
Leonardo hatte von den Greueltaten Cesares gehört. Obwohl es keine absolut sicheren Beweise gab, zweifelte niemand daran, daß er seinen Bruder Giovanni Borgia ermordet habe, da er nicht länger als der Jüngere angesehen werden mochte und seinen Kardinalspurpur mit dem Amte des Heerführers der Kirche – Gonfaloniere – vertauschen wollte. Es gingen über ihn noch grauenhaftere Gerüchte um: es wurde behauptet, daß die Ursache dieser Kainstat nicht nur die Eifersucht auf die väterliche Huld gewesen sei, sondern auch eine blutschänderische Zuneigung der beiden Brüder zu ihrer leiblichen Schwester Madonna Lucrezia.
»Das kann nicht sein!« dachte sich Leonardo, das ruhige Gesicht und die unschuldsvollen Augen des Herzogs betrachtend.
Cesare fühlte wohl den durchdringenden Blick des Künstlers auf sich ruhen; er sah sich um, beugte sich zu einem neben ihm stehenden schönen Greis, der dunkle Kleidung trug und wohl sein Sekretär war, und flüsterte ihm etwas zu, auf Leonardo weisend. Als der Alte ihm etwas erwidert hatte, begann er Leonardo aufmerksam zu mustern. Ein feines Lächeln spielte um seine Lippen. In diesem Augenblick fühlte Leonardo:
»Ja, es kann sein; der ist zu allem fähig, und zu noch viel schlimmeren Dingen, als denen, die man ihm zuschreibt!«
Der Älteste der Syndici, der seine langweilige Ansprache beendet hatte, trat vor den Thron, beugte die Knie und überreichte dem König eine Bittschrift. Die Pergamentrolle entglitt Ludwigs Händen. Der Älteste machte Anstalten, sie aufzuheben. Aber Cesare kam ihm zuvor, hob mit einer raschen und geschickten Bewegung die Rolle auf und reichte sie mit einer Verbeugung dem König.
»Sklavenseele!« flüsterte jemand unter den hinter Leonardo stehenden französischen Würdenträgern. »Wie der die Gelegenheit erhascht hat, sich dienstbar zu machen!«
»Ihr habt recht, Messere!« sagte ein anderer. »Der Sohn des Papstes versieht ganz vorzüglich das Amt eines Lakaien. Hättet Ihr nur gesehen, wie er jeden Morgen dem König beim Ankleiden hilft und wie er ihm das Hemd wärmt! Ich glaube, er würde nicht verschmähen, auch seinen Pferdestall zu reinigen.«
Der Künstler hatte die unterwürfige Bewegung Cesares bemerkt, doch schien sie ihm mehr schrecklich, als sklavisch; wie eine verräterische liebkosende Gebärde eines Raubtiers.
Paccioli bemühte sich indessen um Leonardo: er stieß ihn am Ellenbogen und raunte ihm etwas zu; als er aber sah, daß Leonardo mit seiner gewohnten Schüchternheit wohl imstande sei, den ganzen Tag im Gedränge zu stehen, ohne die Aufmerksamkeit des Königs irgendwie auf sich zu lenken, ergriff er energische Maßregeln: er faßte ihn bei der Hand und stellte den Künstler mit tiefen Bücklingen dem Könige vor, wobei die Superlative: stupendissimo, prestantissimo, invicissimo nur so pfiffen und zischten.
Ludwig brachte das Gespräch auf das Heilige Abendmahl; er lobte die Darstellung der Apostel, doch war er von der Perspektive der Zimmerdecke am meisten entzückt.
Fra Luca wartete von Augenblick zu Augenblick, daß seine Majestät Leonardo vorschlagen würde, in seine Dienste einzutreten. Da aber kam ein Page herein und überreichte dem König einen soeben aus Frankreich eingetroffenen Brief.
Der König erkannte die Handschrift seiner Frau, der von ihm so sehr geliebten Bretonin Anna. Der Brief enthielt die Nachricht von ihrer Entbindung.
Die Höflinge brachten ihm seine Glückwünsche dar. Leonardo und Paccioli wurden dabei zurückgedrängt. Der König warf ihnen einen Blick zu, wollte wohl noch etwas sagen, doch vergaß er es gleich wieder; er forderte die Damen freundlich auf, auf das Wohl seiner neugeborenen Tochter zu trinken und ging in einen anderen Saal.
Paccioli ergriff die Hand seines Begleiters und zog ihn mit sich:
»Nein, Fra Luca,« erwiderte Leonardo ruhig. »Ich danke Euch für Eure Bemühungen: aber ich will mich nicht vordrängen, denn seine Majestät hat jetzt andere Gedanken im Kopf.«
Er verließ das Schloß.
Bei der Battiponte-Zugbrücke im Südtor des Castello holte ihn der Sekretär Cesare Borgias, Messer Agapito, ein. Er bot ihm im Namen des Herzogs das Amt des ersten Baumeisters, das er auch bei Moro versehen hatte, an.
Der Künstler erbat sich einige Tage Bedenkzeit.
Als er sich seinem Hause näherte, sah er noch von weitem einen Menschenauflauf. Er beschleunigte seine Schritte. Giovanni, Marco, Salaino und Cesare trugen wohl aus Ermangelung einer Tragbahre auf einem großen zerrissenen und eingedrückten Flügel der neuen Flugmaschine, der einem Schwalbenflügel glich, ihren Kameraden, den Schmied Astro da Peretola, dessen Kleidung zerrissen und mit Blut bespritzt und dessen Gesicht totenblaß war.
Was der Meister befürchtet hatte, war auch wirklich geschehen: der Schmied hatte die Maschine ausprobieren wollen und war dabei nach wenigen Flügelschlägen herabgestürzt. Es hätte ihm wohl das Leben gekostet, wenn sich nicht einer der Flügel in den Ästen eines Baumes verfangen hätte.
Leonardo half seinen Schülern die Bahre ins Haus zu tragen und brachte den verletzten vorsichtig ins Bett. Als er sich über ihn beugte, um die Wunden zu untersuchen, kam Astro zur Besinnung, blickte Leonardo flehend an und flüsterte:
»Meister, vergebt mir!«
In den ersten Tagen des Novembers, gleich nach den prunkvollen Festen zu Ehren der neugeborenen Prinzessin, reiste Ludwig XII., nachdem er von den Mailändern den Treueid entgegengenommen hatte, nach Frankreich, seinen Marschall Trivulzio ließ er als Statthalter der Lombardei zurück.
Im Dome wurde dem heiligen Geist eine Dankmesse zelebriert. Die Ruhe war wieder hergestellt, doch nur äußerlich: das Volk haßte Trivulzio für seine Grausamkeit und Tücke. Die Anhänger Moros wiegelten den Pöbel auf und verbreiteten anonyme Drohbriefe, viele, die den Herzog noch vor kurzer Zeit mit Spott und Schimpf in sein Exil geleitet hatten, beweinten ihn jetzt als den besten Fürsten.
Ende November hatte das Volk die Stände der französischen Steuereinnehmer vor dem Ticino-Tore geplündert. Am gleichen Tage hatte sich ein französischer Soldat in der Villa Lardirago bei Pavia an einer jungen lombardischen Bäuerin vergriffen. Sie verteidigte ihre Ehre und schlug dabei den Attentäter mit einem Besen ins Gesicht. Der Soldat bedrohte sie mit einer Axt. Auf ihr Schreien stürzte ihr Vater mit einem Stock herbei. Der Franzose erschlug den Alten. Sofort sammelte sich eine Menschenmenge und der Soldat wurde getötet. Die Franzosen überfielen die Lombarden, töteten viele und verwüsteten das ganze Dorf. Die Nachricht wirkte in Mailand wie ein Funke im Pulverfaß. Das Volk überschwemmte die Plätze, Straßen und Märkte und schrie:
»Nieder mit dem König! Nieder mit dem Statthalter! schlagt die Franzosen, schlagt sie tot! Es lebe Moro!«
Trivulzios Truppen reichten nicht aus, um sich gegen dreimalhunderttausend Bürger zu verteidigen. Er pflanzte auf dem provisorischen Glockenturme des Domes einige Kanonen auf, richtete ihre Mündungen auf die Volksmenge und befahl, auf seinen ersten Wink zu schießen; er selbst unternahm aber noch einen letzten Versuch, das Volk zu überreden und trat unter die Menge. Der Pöbel hätte ihn beinahe erschlagen. Man trieb ihn ins Rathaus und hier wäre er wohl umgekommen, wenn nicht rechtzeitig eine Abteilung Schweizer unter dem Befehl des Signore Coursinge ihm zu Hilfe gekommen wäre.
Es kam nun eine Zeit von Brandstiftungen, Morden, Überfällen, Folterungen und Hinrichtungen von Franzosen, die den Aufrührern in die Hände fielen, und von Bürgern, die einer Neigung zu den Franzosen verdächtig schienen.
In der Nacht zum ersten Februar verließ Trivulzio heimlich die Festung und überließ ihre Verteidigung den Hauptleuten d'Espy und Cordequard. In der gleichen Nacht wurde der aus Deutschland heimkehrende Moro in Como mit großem Jubel empfangen. Die Bürger Mailands erwarteten ihn wie ihren Erlöser.
Leonardo hatte sich in den letzten Tagen des Aufruhrs, in seiner Angst vor den Kanonen, die schon einige Nachbarhäuser zerstört hatten, in seinen Keller zurückgezogen. Er hatte darin Kamine und Rohrleitungen gebaut und einige behagliche Räume eingerichtet. Alles, was im Hause Wertvolles war: seine Bilder, Zeichnungen, Bücher, Handschriften und wissenschaftlichen Instrumente wurden in diese kleine Festung geschafft.
In dieser Zeit faßte er den endgiltigen Entschluß, in die Dienste Cesare Borgias einzutreten. Nach dem Vertrag, den er mit Messer Agapito abgeschlossen hatte, war er verpflichtet, spätestens in den Sommermonaten 1500 nach Romagna zu kommen. Er wollte aber noch zuvor seinen alten Freund Girolamo Melzi aufsuchen, um in dessen einsam gelegener Villa Vaprio bei Mailand die Zeit des Krieges und des Aufruhrs abzuwarten.
Am zweiten Februar, am Tage Mariä Reinigung, brachte ihm Fra Luca Paccioli die Nachricht, daß das Schloß unter Wasser stehe: der Mailänder Luigi da Porto, der in französischen Diensten stand, hätte nachts die Schleusen der Kanäle, von denen die Festungsgraben gespeist wurden, geöffnet und wäre dann zu den Aufständischen geflohen. Das Wasser hätte die Mühle im Parke an der Rocchettamauer fortgeschwemmt und wäre in die Keller gedrungen, wo Pulver, Öl, Brot, Wein und alle anderen Vorräte aufbewahrt wurden. Den Franzosen sei es mit der größten Mühe gelungen, einen Teil der Vorräte zu retten, sonst hätten sie, von Hunger gezwungen, schon nach wenigen Tagen die Festung übergeben müssen, was auch die Absicht Messer Luigis gewesen sei. Bei dieser Überschwemmung wären auch die Kanäle in der Vercellina-Vorstadt aus ihren Ufern getreten und hätten die sumpfige Gegend, wo sich das Kloster delle Grazie befand, unter Wasser gesetzt. Fra Luca teilte dem Künstler seine Befürchtungen mit, daß das Wasser das heilige Abendmahl beschädigt haben könnte und schlug ihm vor, hinzugehen und nach dem Bilde zu sehen.
Leonardo erwiderte mit geheuchelter Gleichgültigkeit, er habe jetzt keine Zeit und sei um das heilige Abendmahl unbesorgt: das Bild sei hoch angebracht, so daß ihm die Feuchtigkeit unmöglich schaden könne, sobald aber Paccioli gegangen war, eilte Leonardo ins Kloster.
Im Refektorium gewahrte er auf dem steinernen Boden Pfützen, die die Überschwemmung zurückgelassen hatte. Es roch nach Feuchtigkeit. Ein Mönch erzählte ihm, daß das Wasser eine viertel Elle hoch gestanden hätte.
Leonardo näherte sich der Wand mit dem heiligen Abendmahl.
Die Farben schienen ihm unverändert und ungetrübt.
Die durchsichtigen zarten Farben waren keine Wasserfarben, wie man sie gewöhnlich zu Wandmalereien gebrauchte, sondern Ölfarben, die er nach eigenem Verfahren bereitete. Auch die Wand war auf eine ganz besondere Art präpariert: er hatte sie zuerst mit einem Gemenge aus Ton mit Wacholderlack und Firnis grundiert und darüber einen zweiten Malgrund aus Mastix, Harz und Gips aufgetragen. Erfahrene Meister behaupteten, daß die Malerei auf einer feuchten, auf sumpfigem Boden stehenden Wand unmöglich dauerhaft sein könne. Aber Leonardo, der immer neuen Versuchen und noch unerforschten Wegen in der Kunst nachging, achtete nicht auf alle Ratschläge und Warnungen. Er griff nicht zu den Wasserfarben auch aus dem Grunde, weil die Arbeit auf frisch angelegtem und noch feuchtem Kalk Entschlossenheit und Sicherheit erheischt, also gerade jene Eigenschaften, die Leonardo abgingen. »Ein Künstler, der nie zweifelt, kann nur wenig erreichen,« behauptete er stets. Diese ihm notwendigen Zweifel, das Schwanken, Tasten, Abändern und das unglaublich langsame Tempo der Arbeit waren nur bei Anwendung von Ölfarbe möglich.
Er trat ganz nahe an die Wand heran und begann die Oberfläche des Bildes mit einer Lupe zu untersuchen. Da entdeckte er in der linken unteren Ecke am Tischtuche, bei den Füßen des Apostels Bartholomäus einen kleinen Riß und daneben, auf der etwas verblaßten Farbschicht – einen samtweichen, weißen, reifartigen Anflug von Schimmel.
Er erblaßte. Doch beherrschte er sich und untersuchte weiter.
Der untere Tongrund hatte sich vor Feuchtigkeit geworfen und von der Mauer gelöst; dabei hatte er auch den Gipsgrund mitgenommen und dadurch waren in der dünnen Halbschicht kleine kaum wahrnehmbare Risse entstanden, durch die jetzt die salpeterhaltige Feuchtigkeit der morschen porösen Mauersteine hindurchsickerte.
Das Schicksal des heiligen Abendmahls war besiegelt: wenn auch die Farben noch vierzig oder fünfzig Jahre halten konnten und der Künstler daher ihren langsamen Verfall nicht erleben würde, so durfte er doch nicht an der schrecklichen Wahrheit zweifeln: sein größtes Werk war unrettbar verloren.
Vor dem Verlassen des Refektoriums blickte er noch zum letzten Mal das Antlitz Christi an, und plötzlich fühlte er, als ob er jetzt zum ersten Mal sähe, wie teuer ihm dieses Werk war. Mit dem Untergang des heiligen Abendmahls und des Kolosses rissen die letzten Fäden, die ihn noch mit den lebenden Menschen, wenn auch nicht mit seinen Zeitgenossen, so doch mit den kommenden Geschlechtern verbanden; seine Einsamkeit wurde jetzt noch hoffnungsloser.
Den Staub des tönernen Kolosses wird der Wind verwehen; auf jener Stelle der Mauer, wo einst das Antlitz Christi war, werden die Farben wie Schuppen abfallen oder von Schimmel überwuchert werden und so wird alles, worin er lebte, wie ein Schatten verschwinden.
Er ging nach Hause, stieg in den Keller hinunter und verweilte im Zimmer, wo Astro lag. Beltraffio machte ihm gerade kalte Umschläge.
»Hat er wieder Fieber?« fragte der Meister.
»Ja, er phantasiert.«
Leonardo beugte sich über ihn, um den Verband zu wechseln und lauschte seinem schnellen, sinnlosen Lallen:
»Höher, höher! Zur Sonne! Daß die Flügel nur nicht Feuer fangen. Kleiner, wo kommst du her? Wie heißt du? Mechanik? Ich habe noch nie gehört, daß der Teufel so heißt. Warum lachst du so? Laß es sein! Hast genug gescherzt. Er schleppt mich ... Ich kann nicht weiter, warte, laß mich Atem holen ... Es ist mein Tod! ...«
Er stieß einen wahnsinnigen Angstschrei aus. Es war ihm, als ob er in einen Abgrund stürze.
Dann begann er wieder mit großer Hast zu murmeln:
»Nein, nein, über ihn sollt ihr nicht lachen! Es war meine Schuld. Er sagte mir ja, daß die Flügel noch nicht fertig sind. Jetzt ist es aus ... Ich habe den Meister blamiert! ... Hört ihr? Was ist es nun wieder? Ja, ich weiß, die Rede ist vom kleinsten und schwersten aller Teufel – von der Mechanik! ...«
»Und der Teufel führte ihn gen Jerusalem und stellte ihn auf des Tempels Zinne,« fuhr der Kranke in singendem Tone fort, wie man in der Kirche die Evangelien liest: »und sprach zu ihm: ›Bist du Gottes Sohn, so laß dich von hinnen hinunter. Denn es stehet geschrieben: Er wird befehlen seinen Engeln, daß sie dich bewahren und auf den Händen tragen, auf daß du nicht etwa deinen Fuß an einen Stein stoßest ... Nun habe ich vergessen, was er dem Teufel der Mechanik geantwortet hat. Weißt du es nicht, Giovanni?«
Er blickte Beltraffio beinahe vernünftig an.
Jener glaubte, daß er noch immer phantasiere.
»Weißt du es nicht?« fragte Astro eindringlich.
Um ihn zu beruhigen, zitierte Giovanni den zwölften Vers aus dem vierten Kapitel des Evangeliums Lukas:
»Jesus antwortete und sprach zu ihm: Es ist gesaget: ›Du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen.‹«
»Du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen!« wiederholte der Kranke mit unbeschreiblichem Ausdruck, dann phantasierte er wieder:
»Ganz blau, ohne Wölkchen ... von der Sonne ist nichts zu sehen und sie wird auch nie erscheinen – oben und unten ist nichts wie blauer Himmel. Auch die Flügel sind überflüssig. Wenn es der Meister nur wüßte, wie wohl, wie weich es ist, wenn man in den Himmel stürzt! ...«
Leonardo sah ihn an und dachte:
»Ich bin schuld daran, daß er zugrunde geht! Ich habe dieser Geringsten Einen geärgert, ich habe ihn verführt, wie ich schon Giovanni verführt habe.«
Er legte seine Hand auf Astros glühende Stirne. Der Kranke wurde nach und nach ruhig und schlief ein.
Leonardo zog sich in seine unterirdische Zelle zurück. Er steckte sich ein Licht an und vertiefte sich in seine Berechnungen.
Zur Vermeidung neuer Fehler in der Konstruktion der Flügel studierte er jetzt die Mechanik des Windes und der Luftbewegung mit Hilfe der Mechanik der Wellenbewegung im Wasser. Er schrieb in sein Tagebuch:
»Wenn du zwei Steine von gleicher Größe in einiger Entfernung voneinander in ruhiges Wasser wirfst, so entstehen auf der Wasseroberfläche zwei auseinandergehende Kreise. Nun frage ich: wenn einer dieser Kreise so groß wird, daß er den anderen ihm entsprechenden trifft, wird er in ihn eindringen und ihn zerschneiden, oder werden die Wellenstöße an den Berührungspunkten unter gleichen Winkeln abprallen?«
Die Einfachheit, mit der die Natur dies Problem löste, entzückte ihn dermaßen, daß er an den Rand die Bemerkung schrieb: »Questo è bellissimo, questo è sottile! – Das ist ein herrliches, feines Problem!«
»Ich beantworte die Frage auf Grund eines Versuches,« fuhr er fort: »Die Kreise werden sich gegenseitig schneiden, ohne sich miteinander zu vermischen oder zu vereinigen und die beiden Mittelpunkte werden immer an jenen Stellen liegen, wo die Steine hineingefallen sind.«
Er behandelte nun dies Problem auch mathematisch und sah, daß die Mathematik mit ihren Gesetzen der inneren logischen Notwendigkeit die natürliche Notwendigkeit der Mechanik bestätigt.
Die Stunden flogen dahin. Der Abend brach an.
Leonardo nahm sein Nachtmahl ein, unterhielt sich eine Weile mit den Schülern, erholte sich etwas und ging wieder an die Arbeit.
Seine Gedanken waren außerordentlich klar und scharf und daraus schloß er, daß er sich einer großen Entdeckung nähere.
»Sieh nur hin, wie der Wind im Kornfelde Wellen treibt, wie Welle auf Welle folgt; die Halme beugen sich, bleiben aber auf ihrem Platze. Ebenso sind auch die Wellen im unbeweglichen Wasser; diese von einem hineingeworfenen Stein oder vom Wind auf der Oberfläche erzeugten Wellen sind als Zittern des Wassers und nicht als seine Bewegung aufzufassen. Du kannst dich davon überzeugen, wenn du einen Strohhalm auf die im Wasser auseinandergehenden Kreise wirfst: er wird zittern, doch auf seiner Stelle bleiben.«
Der Versuch mit dem Strohhalm rief ihm in Erinnerung einen anderen Versuch, den er bei seinen Studien über die Fortpflanzung des Schalls gemacht hatte. Er blätterte etwas zurück und fand die Stelle:
»Wenn eine Glocke ertönt, so antwortet ihr die benachbarte Glocke mit leisem Dröhnen und Zittern; wenn auf einer Laute eine Saite ertönt, so antwortet ihr die entsprechende Saite auf einer anderen Laute, und wenn du auf diese einen Strohhalm legst, so kannst du sehen, daß er zittert.«
Mit unbeschreiblicher Erregung ahnte er den Zusammenhang zwischen den beiden, so sehr voneinander verschiedenen Erscheinungen; eine ganze noch unbekannte Welt der Erkenntnis lag wohl zwischen den beiden zitternden Strohhalmen: dem einen auf dem sich kräuselnden Wasser, dem andern – auf der Saite, die mit einer andern mitklingt.
Und plötzlich durchzuckte sein Gehirn ein Gedanke, grell wie ein Blitz:
»Hier wie dort das gleiche Gesetz der Mechanik! Wie die im Wasser von einem Stein erzeugten Wellen, so ziehen auch die Schallwellen ihre Kreise in der Luft, ohne sich zu vermischen, wenn sie sich schneiden, und bewahren den Mittelpunkt ihrer Kreise im Entstehungspunkte. – Und das Licht? Wie das Echo eine Spiegelung des Schalls ist, so ist auch die Spiegelung des Lichts – ein Echo der Lichtstrahlen. In allen Erscheinungen der Energie herrscht ein einziges mechanisches Gesetz. Einzig ist dein Wille und deine Gerechtigkeit, du Urheber der ersten Bewegung: Der Einfallswinkel ist immer dem Ausfallswinkel gleich!«
Sein Gesicht war blaß, seine Augen brannten. Er fühlte, daß er wieder in jenen Abgrund blicke, in den vor ihm noch niemand geschaut hatte, und diesmal aus so erschreckender Nähe, wie noch nie zuvor. Er wußte, daß seine Entdeckung, wenn sie der Versuch bestätigte, die größte in der Mechanik seit Archimedes sein würde.
Vor zwei Monaten hatte er einen Brief von Messer Guido Berardi erhalten, der ihm die soeben in Europa eingetroffene Nachricht von den Reisen Vasco da Gamas mitteilte; dieser hatte zwei Ozeane durchquert, das Südkap von Afrika umsegelt und einen neuen Weg nach Indien entdeckt. Leonardo hatte ihn damals beneidet, aber nun hatte er das Recht zu sagen, daß er eine noch viel größere Entdeckung als Kolumbus und Vasco da Gama gemacht, daß er noch weitere Fernen des neuen Himmels und der neuen Erde geschaut habe.
Er hörte den Kranken im Nebenzimmer stöhnen. Der Künstler horchte auf und gleich fielen ihm wieder seine Mißerfolge und die Schicksalsschläge, die ihn getroffen, ein: er dachte an die unsinnige Zerstörung des Kolosses, an den sinnlosen Untergang des heiligen Abendmahls, an den dummen und schrecklichen Sturz Astros. Er dachte:
»Wird denn auch diese Entdeckung ebenso spurlos und unrühmlich untergehen, wie alles andere, was ich gemacht habe? Wird denn nie und niemand meine Stimme vernehmen? Werde ich denn immer allein bleiben, wie ich jetzt hier in dieser Finsternis lebendig begraben bin, allein mit meinem Traum von den Flügeln?«
Doch diese Gedanken vermochten nicht seine Freude zu ersticken. »Meinetwegen – einsam. Meinetwegen in der Finsternis, im ewigen Schweigen und von allen vergessen. Meinetwegen soll es niemand wissen. Aber ich weiß es!«
Er fühlte sich so sieghaft und stark, als ob er jene Flügel, nach denen er sich sein Leben lang gesehnt hatte, schon geschaffen hätte und sich auf ihnen erhöbe.
Er fühlte sich im Keller beengt und sehnte sich nach Luft und Raum.
Er verließ das Haus und ging zum Domplatz.
Die Nacht war heiter und mondhell. Über den Dächern leuchtete der blutrote dunstige Widerschein der Feuersbrünste. Je mehr er sich dem Broletto-Platz, dem Mittelpunkt der Stadt, näherte, desto größere Volksmassen traf er auf seinem Wege. Im blauen Mondlicht und im rötlichen Fackelschein sah er vor Wut entstellte Gesichter, weiße mit roten Kreuzen bestickte Fahnen der Mailänder Kommune, an Stangen befestigte Laternen, Arkebusen, Musketen, Flinten, Keulen, Speere, Jagdspieße, Sensen, Heugabeln und Zaunstecken. Er sah eine riesengroße, alte Bombarde, die aus Faßdauben und Eisenreifen verfertigt war, von Ochsen gezogen; Menschen wimmelten wie Ameisen um dieses altertümliche Geschütz und halfen es zu scheppen. Die Sturmglocke dröhnte, Kanonenschüsse krachten. Die französischen Söldner saßen in der Festung und beschossen von da aus die Straßen Mailands. Die Belagerten behaupteten prahlerisch, daß sie die ganze Stadt dem Erdboden gleich machen würden, ehe sie sich ergäben. In das Glockengeläute und den Kanonendonner mischte sich das nicht endenwollende Geheul des Volkes:
»Schlagt die Franzosen tot! Nieder mit dem König! Es lebe Moro!«
Alles, was Leonardo sah, war wie ein schrecklicher sinnloser Traum.
Auf dem Fischmarkte von Broletto wurde an der Ostmauer ein in die Hände des Pöbels gefallener pikardischer Tambour – ein sechzehnjähriger Junge – gehängt. Er stand auf einer an die Wand gelehnten Leiter. Der Paramentenmacher Mascarello, ein lustiger Gesell, verrichtete das Amt des Henkers. Er legte dem Jungen die Schlinge um den Hals, versetzte ihm einen leichten Schlag auf den Kopf und sprach feierlich:
»Der Knecht Gottes, der französische Infanterist ›Hüpf-über-den-Busch›, genannt auch ›,Samtener-Kragen-nichts-im-Magen› wird hiermit zum Ritter des Hanfhalsbandes ernannt. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!«
»Amen!« fiel die Menge ein.
Der Tambour, der wohl kaum begriff, was mit ihm vorging, zwinkerte mit den Augen wie ein Kind, das weinen will, duckte sich und nestelte an der Schlinge, die auf seinem dünnen Halse lag. Ein sonderbares Lächeln wich nicht von seinen Lippen. Im letzten Augenblick erwachte er wohl doch aus seiner Betäubung und wandte sein blasses, schönes Gesicht der Menge zu, als ob er etwas sagen oder um etwas bitten wollte. Aber die Menge brach in ein Wutgeheul aus. Der Knabe winkte schwach und ergeben mit der Hand, holte aus dem Busen ein silbernes Kreuzchen an blauem Bande – wohl ein Geschenk seiner Mutter oder Schwester, – küßte es eilig und bekreuzte sich. Mascarello stieß ihn von der Leiter und rief lustig:
»Zeig uns mal jetzt, Ritter des Hanfhalsbandes, wie man die französische Gaillarde tanzt!«
Als der Körper auf dem eisernen Fackelhalter hängen blieb und im Todeskampfe zuckte, gleichsam tanzte, brach die Menge in Gelächter aus.
Einige Schritte weiter sah Leonardo eine in Lumpen gehüllte Alte auf der Straße vor ihrem soeben von den Kanonenkugeln zerstörten alten Häuschen zwischen Haufen von Küchengeschirr, Betten, Kissen und sonstigem Hausrat stehen. Sie streckte ihre nackten knochigen Arme aus und schrie:
»Hilfe! Hilfe! Hilfe! ...«
»Was hast du, Tante?« fragte der Schuhmacher Corbolo.
»Mein Junge ist da verschüttet! Er lag in seinem Bettchen ... Der Fußboden stürzte ein ... vielleicht lebt er noch ... Hilfe! Hilfe!«
Eine Kanonenkugel pfiff und sauste durch die Luft und schlug das halbzerstörte Dach gänzlich ein. Die Balken krachten. Eine Staubwolke flog in die Höhe. Das Häuschen stürzte ein und die Alte verstummte.
Leonardo ging zum Rathaus. Vor der Loggia della Osia bei den Geldwechslerläden stand auf einer Bank ein Scholar, wohl ein Student aus Pavia, und predigte wie von einem Katheder herab von der Größe des Volkes, von der Gleichheit der Armen und Reichen und von Tyrannenmord. Das Volk hörte mißtrauisch zu.
»Mitbürger!« rief er, sein Messer schwingend, das ihm für gewöhnlich zu höchst friedlichen Zwecken diente: zum Spitzen von Gänsefedern, zum Zerteilen der weißen Hirnwurst – Cervellata – und zum Einschneiden von pfeildurchbohrten Herzen mit den Namen der von ihm bevorzugten Wirtshausnymphen in die Rinden der Vorstadtulmen. Jetzt nannte er dies Messer den »Dolch der Nemesis« und predigte: »Mitbürger! Sterben wir für die Freiheit! Der Dolch der Nemesis soll vom Blute der Tyrannen triefen! Es lebe die Republik!«
»Was faselt er da?« tönte es aus der Menge, »wir kennen die Freiheit, die ihr meint, ihr Verräter und französischen Spione! Zum Teufel die Republik, es lebe der Herzog! Schlagt ihn tot, den Verräter!«
Als der Redner zur Bekräftigung seiner Meinung Cicero, Tacitus und Livius zu zitieren begann, fielen die Zuhörer über ihn her, warfen ihn zu Boden und verprügelten ihn. Sie schrien:
»Da hast du für deine Freiheit! Und da – für deine Republik! Verhaut ihn ordentlich, Brüder! Uns wirst du nicht betrügen! Wir werden dich lehren, was es heißt, das Volk gegen den rechtmäßigen Herzog aufzuwiegeln! ...«
Leonardo begab sich zum Arengoplatz und sah den weißen Stalaktitenwald der Türme und Pfeiler des Domes in doppeltem Lichte: im bläulichen des Mondes und im rötlichen der Feuersbrünste.
Vor dem Palaste des Erzbischofs sah er einen Menschenknäuel, der einem Leichenhaufen glich; die Körper regten und walzten sich und aus ihrer Mitte drang ein Wehgeschrei.
»Was ist da los?« fragte der Künstler einen alten Handwerker mit einem ängstlichen, gutmütigen und traurigen Gesicht.
»Da soll sich der Teufel auskennen! Sie sagen, es sei der Marktvikarius Jacopo Crotto, ein französischer Spion. Er soll vergiftete Lebensmittel unters Volk gebracht haben, vielleicht ist es auch ein anderer, wer ihnen zuerst in den Weg läuft, den schlagen sie tot. Es ist schrecklich! O Herr Jesu, sei uns Sündern gnädig!«
Aus dem Haufen sprang der Glasbläser Gorgoglio heraus, mit einer Stange, an deren Spitze ein abgeschlagener blutiger Menschenkopf steckte; er fuchtelte mit dieser Siegestrophäe herum.
Der Gassenjunge Farfanicchio lief ihm nach, hüpfte auf einem Bein und schrie, auf den Kopf zeigend:
»Dem Hunde ein hündischer Tod! Tod den Verrätern!«
Der Alte bekreuzigte sich und sprach die Worte des Gebets:
» A furore populi libera nos, Domine! – Erlöse uns, Herr, von der Wut des Volkes!«
Vom Schlosse her erklangen Trommelwirbel, Trompetengeschmetter, das Knattern der Arkebusen und Schreie der Soldaten, die einen neuen Angriff auf die Zitadelle unternahmen. Im gleichen Augenblick krachte in den Bastionen ein so mächtiger Schuß, daß die Erde erbebte und die ganze Stadt zusammenzustürzen schien. Es war ein Schuß aus der riesengroßen Kanone, einem ehernen Ungeheuer, das von den Franzosen » Margot la Folle« und von den Deutschen »Die tolle Grete« genannt wurde.
Der Schuß traf ein brennendes Haus hinter dem Borgo Nuovo. Eine Feuersäule stieg in den nächtlichen Himmel empor. Der Platz wurde vom roten Lichtschein überflutet und das stille Mondlicht erlosch.
Die Leute liefen, rannten und wimmelten von Schrecken erfüllt durcheinander wie schwarze Schatten.
Leonardo betrachtete diese menschlichen Gespenster.
Er dachte an seine Entdeckung und sah und hörte im Feuerscheine, im Heulen der Menge, im Dröhnen der Sturmglocke und im Kanonendonner – die stillen Wellen von Schall und Licht, die ruhig, wie die im Wasser von einem hineingefallenen Stein erzeugten Kreise dahinglitten, sich in der Luft verbreiteten, sich schnitten, ohne sich zu vermengen und ihren Mittelpunkt stets in ihrem Entstehungsorte behielten. Ein berauschendes Gefühl erfüllte ihn beim Gedanken, daß die Menschen dieses zwecklose Spiel, diese Harmonie der unendlichen und unsichtbaren Wellen und das die Welt wie der einzige Wille eines Schöpfers beherrschende mechanische Gesetz, das Gesetz der Gerechtigkeit – unmöglich stören können: der Einfallswinkel ist immer dem Ausfallswinkel gleich.
In seinem Herzen klangen die Worte, die er einst in sein Tagebuch eingetragen und später so oft wiederholt hatte:
» O mirabile giustizia di te, primo Motore! O deine wunderbare Gerechtigkeit, du Urheber der ersten Bewegung! Du versagst keiner Kraft die Ordnung und die Art der notwendigen Wirkungen. O du göttliche Notwendigkeit, du zwingst alle Wirkungen, auf dem kürzesten Wege ihren Ursachen zu folgen.«
Der Künstler stand unter der vertierten, tollen Volksmenge und in seinem Herzen herrschte die ewige Ruhe der Betrachtung. Sie glich dem stillen Mondlichte vor dem Widerscheine der Feuersbrünste.
Am 4. Februar 1500 zog Moro am Morgen in Mailand durch die Porta Nuova ein.
Am Tage vorher hatte sich Leonardo zu seinem Freunde Melzi in die Villa Vaprio begeben.
Girolamo Melzi war einst beim Hofe der Sforza angestellt. Als aber vor zehn Jahren seine junge Frau starb, verließ er den Hof und zog sich in die einsame Villa am Fuße der Alpen, fünf Stunden nordwestlich von Mailand, zurück. Er lebte hier als Philosoph in voller Abgeschiedenheit von der lärmenden Welt, bestellte selbst seinen Garten und verbrachte seine Mußestunden mit dem Studium von Geheimwissenschaften und Musik, deren großer Liebhaber er war. Man erzählte, daß Messer Girolamo sich mit schwarzer Magie abgebe, um den Schatten seiner verstorbenen Frau aus dem Jenseits zurückrufen zu können.
Der Alchimist Galeotto Sacrobosco und Fra Luca Paccioli besuchten ihn hier öfters. Sie verbrachten zuweilen ganze Nächte im Streite über die Geheimnisse der Platonischen Ideen und der Pythagoräischen Zahlengesetze, welche die Sphärenmusik regieren. Die größte Freude hatte aber der Hausherr an den Besuchen Leonardos.
Als der Künstler noch den Bau des Martesana-Kanals leitete, kam er öfters in diese Gegend und so lernte er die schöne Villa kennen und lieben.
Vaprio lag am linken steilen Ufer der Adda. Der Kanal lief zwischen Garten und Fluß. An dieser Stelle hatte die Adda Stromschnellen. Das Wasser tobte hier ununterbrochen wie die Brandung der See. Der freie reißende Strom lief kalt und grün zwischen den zerklüfteten Sandsteinufern; und an seiner Seite glitt der spiegelglatte stille Kanal stumm in seinen schnurgeraden Ufern mit dem gleichen grünen Gebirgswasser, das in ihm aber beruhigt und gezähmt schlummerte. In dieser Verschiedenheit der beiden Wasserläufe sah der Künstler einen tiefen Sinn; er verglich die beiden und wußte nicht, was schöner sei: – das Werk von Menschenvernunft und Menschenwille, das Werk seiner eigenen Hände, der Martesana-Kanal, oder dessen wilde Schwester, die Adda; beide waren ihm gleich lieb und seiner Seele verwandt.
Von der oberen Gartenterrasse war eine Aussicht auf die grüne Lombardische Ebene zwischen Bergamo, Treviglio, Cremona und Brescia. Im Sommer duftete es nach dem Heu der weiten feuchten Wiesen. In den fruchtbaren Feldern wuchs der Roggen und Weizen so üppig, daß die mit Rebengirlanden miteinander verbundenen Obstbäume fast gänzlich von den Ähren verdeckt waren. Die Ähren berührten die Birnen, Äpfel, Kirschen und Pflaumen, und die ganze Ebene glich einem großen Garten.
Im Norden standen die dunklen Berge von Como. Über ihnen erhoben sich im Halbkreise die ersten Vorsprünge der Alpen und noch höher in den Wolken schimmerten rosig und golden die Schneegipfel.
Zwischen der heiteren Lombardischen Ebene, wo jeder Fleck Erde von Menschenhänden bebaut war, und den wilden, öden Alpen fühlte Leonardo den gleichen harmonischen Gegensatz, wie zwischen der stillen Martesana und der ungestümen Adda.
Zu gleicher Zeit mit Leonardo waren hier auch Fra Luca Paccioli und der Alchimist Sacrobosco, dessen Häuschen beim Vercellino-Tor von den Franzosen zerstört worden war, auf Besuch. Leonardo hielt sich etwas abseits von ihnen. Dagegen befreundete er sich mit dem kleinen Sohne des Hausherrn – Francesco.
Der Knabe war scheu und schüchtern wie ein Mädchen und fürchtete sich anfangs vor dem Künstler. Als ihn aber der Vater einmal mit irgend einem Auftrag zu Leonardo schickte, sah er bei ihm bunte Gläser, die dem Künstler zum Studium der Komplementärfarben dienten. Leonardo ließ ihn durch die Gläser hindurchschauen. Das gefiel dem Knaben. Gegenstände, die ihm längst bekannt waren, erschienen auf einmal ganz märchenhaft, bald finster, bald freudig, bald feindlich, bald freundlich, je nachdem er sie durch ein gelbes, blaues, rotes, violettes oder grünes Glas betrachtete.
Auch eine andere Erfindung Leonardos – die Camera Obscura gefiel ihm gut: wenn auf dem weißen Papierblatt ein lebendes Bild erschien, auf dem man deutlich sah, wie sich das Mühlenrad drehte, wie die Dohlen um den Kirchturm flogen, wie der graue Esel des Holzhackers Peppo eine Tracht Reisig durch den Straßenkot schleppte und wie sich die Gipfel der Pappeln im Winde neigten, – so konnte sich Francesco nicht länger beherrschen und klatschte vor Wonne in die Hände.
Den größten Reiz hatte für ihn aber der Regenmesser, der aus einem mit Teilungen versehenen Messingring, einem Wagebalken und zwei an diesem befestigten Kugeln bestand; die eine war mit Wachs umknetet, die andere mit Baumwolle umwickelt; wenn die Luft feucht war, zog die Baumwolle die Feuchtigkeit an, die mit ihr umwickelte Kugel wurde schwerer und sank, während die Wachskugel ihr Gewicht behielt. Auf dem Messingring konnte dann genau der Feuchtigkeitsgehalt der Luft abgelesen werden. Die Schwankungen des Wagebalkens zeigten auf diese Weise das Wetter für die nächsten zwei Tage an. Der Knabe baute sich einen ähnlichen Apparat und freute sich, wenn seine Wettervoraussagen zum Erstaunen der Hausgenossen in Erfüllung gingen.
Francesco besuchte die Dorfschule, in der der alte Abt des nächsten Kanonikats, Don Lorenzo, unterrichtete. Er lernte mit Widerwillen: die lateinische Grammatik flößte ihm Ekel ein und beim bloßen Anblick der mit Tinte beschmierten grünen Rechenfibel verzog er sein Gesicht. Ganz anders war die Wissenschaft Leonardos: sie kam dem Kinde wie ein Märchen vor. Die mechanischen, optischen, akustischen und hydraulischen Instrumente und Modelle lockten ihn wie lebendiges Zauberspielzeug. Er wurde nie müde, Leonardos Erzählungen zu lauschen. Der Künstler war den Erwachsenen gegenüber verschlossen, denn er wußte, daß jedes unvorsichtige Wort Verdacht oder Spott auf ihn lenken könnte. Aber mit Francesco sprach er über alles offen und vertrauensvoll. Er belehrte ihn und zugleich lernte er auch selbst von ihm. Er dachte an die Worte des Heilands: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen,« und fügte noch hinzu: »und werdet nicht in das Reich der Erkenntnis kommen.«
Um diese Zeit schrieb er sein »Buch von den Sternen«.
In den klaren Märznächten, als in der kalten Luft schon der erste Frühlingshauch schwebte, stand er oft nachts mit Francesco auf dem Dache der Villa, beobachtete den Lauf der Gestirne und zeichnete die Mondflecke ab, um sie später zu vergleichen und so festzustellen, ob sie ihre Umrisse ändern. Einst fragte ihn der Knabe, ob es wahr sei, was ihm Paccioli von den Gestirnen erzählt hatte: daß sie von Gott wie Diamanten in die himmlischen Kristallsphären eingesetzt seien; diese zögen sie bei ihren Umdrehungen mit und erzeugten dabei die Sphärenmusik. Leonardo erklärte ihm, daß diese Sphären, die sich nach Pacciolis Auffassung seit vielen Jahrtausenden mit rasender Geschwindigkeit drehten, nach den Gesetzen der Reibung schon längst zerfallen müßten; ihre Kristallränder müßten sich abnützen, die Musik verstummen und die »unermüdlichen Tänzerinnen« müßten längst in ihrem Laufe stehen geblieben sein.
Er durchstach ein Stück Papier mit einer Nadel und ließ den Knaben durch die Öffnung hindurchsehen. Francesco sah die Sterne nun ohne Strahlen, als helle runde winzige Punkte und Kugeln.
»Diese Punkte,« erklärte ihm Leonardo, »sind riesengroße Welten; viele unter ihnen sind hundert und tausend Mal größer als unsere Welt, die übrigens in keiner Weise geringer oder weniger ehrwürdig ist, als die andern Himmelskörper. Die von der menschlichen Vernunft entdeckten Gesetze der Mechanik, die auf Erden herrschen, regieren auch die Welten und Sonnen.«
So wies er unserer sonst verachteten Erde den ihr gebührenden Platz neben den anderen Gestirnen an.
»Unsere Erde erscheint den Bewohnern der anderen Planeten,« sprach der Meister, »als unvergänglicher Stern, als leuchtendes Stäubchen, wie uns jene Welten erscheinen.«
Francesco konnte vieles von seinen Worten nicht verstehen, wenn er aber den Kopf in den Nacken warf und in den Himmel sah, überkam ihn ein Angstgefühl.
»Was ist denn dort, hinter den Sternen?« fragte er.
»Andere Sterne, andere Welten, die wir nicht sehen.«
»Und hinter diesen?«
»Wieder andere Sterne.«
»Was ist aber ganz am Ende?«
»Es gibt kein Ende.«
»Es gibt kein Ende? ...«wiederholte der Knabe und Leonardo fühlte, wie die Hand Francescos in seiner Hand erbebte. Beim Lichtscheine des Lämpchens, das auf einem kleinen Tisch zwischen astronomischen Geräten stand, sah er, daß das Gesicht des Knaben plötzlich leichenblaß wurde.
»Wo ist aber,« fragte er mit langsam anwachsendem Erstaunen, »wo ist aber das Paradies, Messer Leonardo? Wo sind die Engel, die Heiligen, die Madonna, Gott-Vater, der auf seinem Throne sitzt, der Sohn und der heilige Geist?«
Der Meister wollte ihm erwidern, daß Gott überall sei, wie in den Sandkörnchen, so auch in den Sonnen und Welten; er schwieg aber, denn den kindlichen Glauben wollte er nicht zerstören.
Als die Zeit der Baumblüte kam, verbrachten Leonardo und Francesco ganze Tage im Garten der Villa und im nahen Gehölz, um das Wiederaufleben der Pflanzen zu beobachten. Wenn der Künstler einen Baum oder eine Blüte abzeichnete, so war er immer bestrebt, die Pflanze porträtähnlich darzustellen und ihr den ihr eigentümlichen und sich nie wiederholenden Ausdruck abzugucken.
Er lehrte Francesco, das Alter der Bäume nach der Zahl der Jahresringe und die Feuchtigkeit der betreffenden Jahre nach der Breite der Ringe zu bestimmen und festzustellen, wie die Äste gerichtet waren: denn die nach Norden gerichteten Ringe seien breiter und der Mittelpunkt der Ringe sei stets nach Süden verschoben, also nach der Seite, die von der Sonne mehr erwärmt wird.
Er erzählte ihm, daß der Saft sich im Frühling zwischen der inneren grünen Haut – dem »Hemdchen« der Pflanze – und der Rinde ansammele; dadurch werde die Rinde gerunzelt und auseinandergetrieben; in den vorjährigen Furchen entstünden neue tiefere und so werde der Umfang der Pflanze vergrößert. Wenn man an einer Stelle einen Ast abschneide oder die Rinde beschädige, so bekämen die verwundeten Stellen dank der heilenden Lebenskraft mehr nährende Säfte, als die heilen Stellen; an solchen Stellen bilde sich daher mit der Zeit eine festere und stärkere Rinde. Dieser Andrang der Säfte sei so groß, daß sie oft noch über die verwundete Stelle hinaus stiegen, als ob sie in ihrem Laufe nicht rechtzeitig innehalten könnten; und so erzeugen sie, nach außen hinaustretend, Knospen und Knoten – »wie Blasen im siedenden Wasser«.
Leonardo sprach von der Natur trocken und kühl, denn er war nur auf die wissenschaftliche Präzision bedacht. Die zarten Feinheiten des Frühlingslebens der Pflanze erörterte er mit leidenschaftsloser Genauigkeit, als ob es sich um eine tote Maschine handelte: »der von dem Ast und dem Stamm gebildete Winkel ist um so spitzer, je jünger und dünner der Ast ist.« Die geheimnisvollen Gesetze der kristallinisch-regelmäßigen, konischen Anordnung der Nadeln an den Fichten, Tannen und Kiefern führte er auf abstrakte Mathematik zurück.
Und doch fühlte Francesco bei all dieser Leidenschaftslosigkeit und Kälte die große Liebe Leonardos zu allem Lebenden: zu dem kläglich zerknitterten, dem Gesichte eines neugeborenen Kindes gleichenden Blättchen, das die Natur mit solcher Berechnung unter das sechste obere Blatt gesetzt hat, daß es recht viel Licht habe und der zu ihm längs des Stengels herabgleitende Regentropfen durch nichts aufgehalten werde; und auch zu den alten mächtigen Ästen, die sich aus dem Schatten zur Sonne wie Arme im Gebet emporrecken; und zu der Kraft der Pflanzensäfte, die wie lebendes sprudelndes Blut den verwundeten Stellen zur Hilfe eilen.
Er blieb oft im Waldesdickicht stehen und sah lächelnd zu, wie ein grünes Hälmchen aus einem Haufen vorjährigen welken Laubes hervorlugte, oder wie eine nach dem Winterschlafe noch matte Biene mühevoll in den noch halb geschlossenen Kelch eines Schneeglöckchens einzudringen suchte. Ringsumher war es so still, daß Francesco seine eigenen Herzschläge hören konnte. Schüchtern blickte er den Meister an: die Sonnenstrahlen fielen durch die noch nackten Zweige auf das blonde Haar, den langen Bart, die buschigen Augenbrauen Leonardos und umgaben sein Haupt mit einem Glorienschein; sein Gesicht war ruhig und schön; in solchen Augenblicken glich er dem alten Pan, der dem Wachsen des Grases, dem Lallen der unterirdischen Quellen und dem Erwachen der geheimnisvollen Lebenskräfte lauscht.
Alles schien ihm von Leben erfüllt: das Weltall – als ein großer Körper, und der Menschenkörper – als ein kleines Weltall.
In einem Tautropfen sah er das Ebenbild der die Erde umfassenden Wassersphäre. In Trezzo bei Vaprio, wo der Martesana-Kanal seinen Anfang hatte, studierte er bei den Schleusen die Wasserfälle und Wasserwirbel, die er mit den Wellen in Frauenlocken verglich.
»Merke dir,« sagte er, »wie die Haare zweien Strömungen folgen: der Hauptrichtung, die der Richtung ihrer eigenen Schwere entspricht, und einer anderen Kraft, die sie zu Locken windet, so auch in den Wasserläufen: ein Teil des Wassers stürzt hinab, während der andere Teil Strudel und Wirbel bildet, die den Haarlocken ähnlich sehen.«
Solche rätselhafte Ähnlichkeiten, solche Anklänge in Naturerscheinungen reizten und lockten den Künstler; sie erschienen ihm als Zwiegespräch zweier verschiedenen Welten.
Bei Beobachtung des Regenbogens bemerkte er, daß die gleichen Farben auch im Vogelgefieder, im stehenden Wasser bei faulen Baumwurzeln, in Edelsteinen, in der auf einer Wasserfläche schwimmenden Fettschicht und in alten trüben Glasscheiben vorkommen. In den Formen des Reifes auf den Bäumen und den eingefrorenen Fensterscheiben sah er eine Ähnlichkeit mit lebenden Blättern, Blumen und Gräsern; ihm war es, als webe durch die Welt der Eiskristalle ein Traum von der lebenden Pflanzenwelt.
Zuweilen ahnte er vor sich eine neue Welt der Erkenntnis,, die sich vielleicht erst den kommenden Geschlechtern offenbaren sollte. So schrieb er in sein Tagebuch über die Anziehungskraft des Magnets und des mit Tuch geriebenen Bernsteins: »Ich weiß nicht, wie der Menschengeist diese Erscheinungen erklären könnte. Ich glaube, daß die magnetische Kraft eine von jenen Kräften ist, die den Menschen noch unbekannt sind. Die Welt ist voll von unzähligen Möglichkeiten, die noch nie ihre Erfüllung gefunden haben.«
Einmal besuchte sie der in Bergamo, in der Nähe von Vaprio lebende Dichter Giudotto Prestinari. Während des Abendessens begann er einen Streit über die Vorzüge der Dichtkunst gegenüber der Malerei, denn er fühlte sich dadurch beleidigt, daß Leonardo seine Verse wenig gelobt hatte. Der Künstler schwieg, schließlich amüsierte ihn die Erregung des Dichters und er begann ihm halb im Scherz zu widersprechen:
»Die Malerei,« sagte Leonardo u. a., »steht schon aus diesem Grunde höher als die Dichtkunst, weil sie die Werke Gottes darstellt, während die Dichter, wenigstens heutzutage, sich mit der Darstellung ihrer eigenen Ideen begnügen; sie stellen auch nichts dar, sie beschreiben nur, wobei sie das Meiste fremden Werken entlehnen und so mit fremder Ware handeln. Sie sammeln den alten Kram und die Abfälle der verschiedenen Wissenschaften und man kann sie mit den Verkäufern gestohlener Sachen vergleichen ...«
Fra Luca, Melzi und Galeotto widersprachen ihm. Leonardo ließ sich allmählich in den Streit hineinziehen und schließlich stritt er ganz ernsthaft:
»Das Auge verhilft dem Menschen zu einer tieferen Kenntnis der Natur, als es das Ohr zu tun vermag. Das Gesehene ist zuverlässiger als das Gehörte. Daher steht die Malerei, die stumme Dichtkunst, der exakten Wissenschaft näher, als die Dichtkunst, – die blinde Malerei. In einer poetischen Beschreibung haben wir nur eine Reihe von aufeinanderfolgenden Bildern; in einem Gemälde sind aber alle Bilder und Farben zu einem Ganzen vereinigt und so verschmolzen, wie die Töne in einem musikalischen Gleichklange; daher finden wir in der Malerei wie in der Musik mehr Harmonie, als in der Dichtkunst. Wo aber die höchste Harmonie fehlt, dort fehlt auch die höchste Schönheit. – Fragt nur einen Verliebten, was er vorzieht: ein Bildnis der Geliebten oder eine Beschreibung ihrer Gestalt, selbst vom größten Dichter verfaßt.«
Alle mußten unwillkürlich über dieses Argument lachen.
»Ich habe selbst folgenden Fall erlebt,« fuhr Leonardo fort. »Ein Florentiner Jüngling verliebte sich dermaßen in ein Frauenantlitz auf einem meiner Bilder, daß er dies Bild kaufte. Anfangs wollte er davon alle Merkmale des Heiligenbildes beseitigen, um das geliebte Antlitz ganz unbefangen küssen zu können. Aber sein Gewissen besiegte die Wollust. Er entfernte das Bild aus seinem Hause, denn anders konnte er keine Ruhe finden. Nun soll einmal ein Dichter versuchen, mit seiner Beschreibung eines schönes Weibes eine derartige Leidenschaft zu wecken! Ja, Messere, ich will es nicht von mir selbst behaupten, denn ich weiß, wie sehr ich von der Vollkommenheit entfernt bin, aber von einem Künstler, der die Vollkommenheit erreicht hat: ein solcher Künstler ist durch die Macht seines Blickes mehr als ein Mensch. Will er die himmlische Schönheit, oder ungeheuerliche, komische, traurige, schreckliche Gestalten schauen, – in allen Dingen bleibt er ein Herrscher wie Gott!«
Fra Luca machte dem Meister Vorwürfe, daß er seine Werke nicht sammle und herausgebe. Der Mönch wollte ihm gern einen Verleger vermitteln. Aber Leonardo wollte davon nichts wissen.
Er blieb sich treu bis ans Ende: bei seinen Lebzeiten wurde keine einzige Zeile von ihm gedruckt. Und dabei faßte er seine Aufzeichnungen so ab, als ob er sich mit dem Leser unterhielte. Am Anfange eines seiner Tagebücher entschuldigt er sich wegen der Unordnung in den Aufzeichnungen und der häufigen Wiederholungen: »Tadele mich nicht, Leser, deshalb; denn die Fülle der Dinge ist unendlich und mein Gedächtnis kann sie nicht alle fassen; daher weiß ich nie, was in den früheren Aufzeichnungen schon erwähnt, und was noch unerwähnt war; um so mehr, als ich mit großen Unterbrechungen schreibe und die Notizen aus verschiedenen Lebensjahren stammen.«
Einmal stellte er die Entwicklung des menschlichen Geistes auf folgende Art allegorisch dar: er zeichnete eine Reihe von Würfeln, von denen der erste fiel und im Fallen den zweiten umwarf; ebenso der zweite den dritten und so fort. Die Unterschrift lautete: »Einer stürzt den anderen.« Dem fügte er noch hinzu: »Diese Würfel stellen die menschlichen Geschlechter und das menschliche Wissen dar.«
Eine andere Zeichnung stellte einen die Erde aufwühlenden Pflug dar. Darunter stand: »Trotzige Strenge.«
Er hoffte in diesem Sturze der Würfel auch einmal an die Reihe zu kommen und bei den kommenden Geschlechtern einen Widerhall zu finden.
Er war wie ein Mensch, der zu früh erwacht ist: alle schlafen und um ihn ist Finsternis, selbst unter den ihm nahestehenden Menschen war er stets einsam; seine in einer Geheimschrift geschriebenen Tagebücher waren für den kommenden Bruder bestimmt und für diesen ging auch der einsame Pflüger in der Morgendämmerung ins Feld, um mit seinem Pfluge mit »trotziger Strenge« Furchen zu ziehen.
In den letzten Märztagen trafen auf der Villa Melzi beunruhigende Nachrichten ein. Das Heer Ludwigs XII. hatte unter dem Befehl des Sir de la Trémouille die Alpen überschritten. Moro befürchtete den Verrat seiner Soldaten und wich daher einer Schlacht aus. Ihn quälten abergläubische Vorahnungen und er war »feiger als ein Weib«.
Die Gerüchte über Krieg und Politik gelangten nach Vaprio wie ein schwaches gedämpftes Dröhnen.
Ohne sich um den König von Frankreich und den Herzog zu kümmern, durchzogen Leonardo und Francesco die nahen Hügel, Täler und Wälder. Manchmal gelangten sie, den Lauf eines Stromes verfolgend, in Bergwälder. Hier ließ der Künstler Ausgrabungen machen und suchte nach vorsintflutlichen Muscheln, versteinerten Seetieren und Algen.
Als sie einmal von einem solchen Ausfluge heimkehrten, setzten sie sich auf dem steilen Adda-Ufer am Rande des Abhanges unter einer alten Linde nieder, um etwas auszuruhen. Zu ihren Füßen lag die weite Ebene mit den Ulmen- und Pappelalleen. Im Abendsonnenschein sahen sie die freundlichen weißen Häuschen von Bergamo. Die schneebedeckten Alpen schienen in der Luft zu schweben. Die Luft war klar. Aber in der Ferne zwischen Treviglio, Castell-Rozzone und Brignano schwebte dicht am Horizonte eine Rauchwolke.
»Was ist das?« fragte Francesco.
»Ich weiß nicht,« erwiderte Leonardo. »Vielleicht ist es eine Schlacht ... Siehst du die Flammen? ... Es könnten Kanonenschüsse sein. Vielleicht ist es ein Gefecht zwischen den Franzosen und den Unsrigen ...«
In den letzten Tagen waren solche zufälligen Gefechte in der ganzen Lombardischen Ebene sehr häufig.
Sie schauten eine Weile der Rauchwolke zu. Dann dachten sie nicht mehr an sie und vertieften sich in die Untersuchung der Ausbeute der letzten Ausgrabungen. Der Meister ergriff einen langen spitzen, noch erdbeschmutzten Knochen, der vielleicht aus der Flosse eines vorsintflutlichen Fisches stammte.
»Wieviel Völker,« sagte er nachdenklich, wie vor sich hin, mit einem milden Lächeln, »wieviel Könige hat wohl die Zeit seit jenem Tage vernichtet, als dieser Fisch, mit dem wunderbaren Körperbau, in dem Höhlenlabyrinth, in dem wir ihn heute fanden, eingeschlummert ist? Wieviel Jahrtausende sind da hingegangen, wieviel Umwälzungen hat das Antlitz der Erde erfahren, während dieser Fisch hier von allen Zeiten eingeschlossen lag, die schweren Erdschollen mit seinem vom Zahne der Zeit abgenagten Gerippe stützend? ...«
Er streckte seine Hand aus und wies auf die zu ihren Füßen liegende Ebene.
»Alles, was du hier siehst, Francesco, war einst der Boden eines Ozeans, der den größten Teil von Europa, Asien und Afrika bedeckte. Die Seetiere, die wir hier finden, zeugen von jenen Zeiten, als die Gipfel der Apenninen noch Inseln auf einem großen Meere waren und als über den Tälern, über denen heute Vögel fliegen, Fische schwammen.«
Sie blickten jetzt wieder auf die ferne Rauchwolke, in der ab und zu Kanonenschüsse aufblitzten. In der grenzenlosen Ferne, im rosigen Lichte der Abendsonne gebadet, erschien sie ihnen so winzig, friedlich und ruhevoll, daß man unmöglich glauben konnte, daß dort eine Schlacht wütete und Männer sich mordeten.
Ein Zug Vögel flog vorbei. Francesco verfolgte sie mit den Augen und versuchte sich jene Fische vorzustellen, die hier einmal durch die Wellen eines Ozeans, der ebenso tief und leer wie der Himmel war, dahinglitten.
Sie schwiegen. Doch beide hatten den gleichen Gedanken: »Ist es denn nicht ganz gleich, ob die Franzosen die Lombarden oder die Lombarden die Franzosen bezwingen, ob der König oder der Herzog Sieger wird? Vaterland, Politik, Ruhm, Krieg, Sturz von Königreichen, Aufruhr der Völker, kurz alles, was den Menschen groß und drohend erscheint, verschwindet es denn nicht vor der ewigen heiteren Natur wie die kleine Wolke, die im Abendlichte schmilzt?«
In der Villa Vaprio vollendete Leonardo ein Bild, das er noch vor vielen Jahren in Florenz begonnen hatte.
Es stellte die Mutter Gottes dar, wie sie in einer Felsgrotte sitzend, mit ihrer Rechten den kleinen Johannes den Täufer umarmte und mit der Linken ihren Sohn beschattete, als ob sie beide, den Menschen und den Gott, in einer Liebe vereinigen wollte. Johannes kniete mit gefalteten Händen vor dem Jesuskinde, das ihn mit zwei Fingern segnete. Der kleine Heiland saß ganz nackt auf der nackten Erde; das eine dicke Beinchen hatte er unter das andere geschoben und er stützte sich auf sein rundliches Händchen mit den gespreizten Fingern: die ganze Gestalt besagte, daß das Kind noch nicht laufen, sondern nur kriechen konnte. Aber sein Gesicht drückte jene vollkommene Weisheit aus, die zugleich auch vollkommene Einfalt ist. Ein Engel, der neben dem Herrn kniete und ihn mit der einen Hand stützte, wies mit der anderen Hand auf Johannes und wandte sein von einer trüben Ahnung erfülltes Gesicht mit rätselhaftem mildem Lächeln dem Zuschauer zu. In der Ferne zwischen den Felsen fiel feuchtes Sonnenlicht durch einen Regenschleier hindurch auf bläuliche, spitze und feine Berge, die gar nicht irdisch aussahen und mehr spitzen Stalaktiten glichen. Diese gleichsam von Salzwasser zerfressenen und abgenagten Felsen erinnerten an den Grund eines ausgetrockneten Ozeans. In der Grotte herrschte eine tiefe Dämmerung, wie unter Wasser. Das Auge unterschied kaum eine unterirdische Quelle, runde Blätter von Wasserpflanzen und zarte Kelche blasser Schwertlilien. Man hörte förmlich die durch die Wurzeln der Schlingpflanzen, Schachtelhalme und Bärlapp hindurchsickernden Wassertropfen von dem überhängenden schwarzen Dolomitgestein heruntertropfen. Nur das halb kindliche, halb jungfräuliche Gesicht der Madonna leuchtete im Dunkeln wie ein von innen durchleuchtetes Alabastergefäß. Die Himmelskönigin erschien hier dem Menschen zum ersten Mal; im geheimnisvollen Dunkel der unterirdischen Höhle, die vielleicht einst dem alten Pan und den Nymphen als Zufluchtsstätte gedient hatte, saß hier die Mutter des Gottmenschen am Herzen der Natur, in den Tiefen der Mutter Erde, ein Geheimnis aller Geheimnisse.
Es war die Schöpfung eines großen Künstlers und zugleich eines großen Gelehrten. Die Verteilung von Licht und Schatten, die Gesetze des Pflanzenlebens, den Bau des menschlichen Körpers und der Erde, die Mechanik der Kleiderfalten, die Mechanik der Frauenlocken, die sich nach den Gesetzen der Wasserwirbel ringeln, so daß der Anprallwinkel dem Abprallwinkel gleich ist, alles, was der Gelehrte mit seiner »trotzigen Strenge« leidenschaftslos und exakt erforscht und gemessen und wie eine leblose Leiche seziert hatte, das hatte der Künstler zu einem göttlichen Ganzen zusammengefügt und in atmende Schönheit, in stumme Musik, in eine geheimnisvolle Hymne an die heilige Jungfrau, an die Mutter alles Seins, verwandelt. Mit der gleichen Liebe und dem gleichen Wissen malte er die Äderchen in der Schwertlilie, das Grübchen im runden Ellenbogen des Kindes, die tausendjährige Furche im Dolomitfelsen, die Bewegung des tiefen Wassers der unterirdischen Quelle und die Bewegung der tiefen Trauer im Antlitze des Engels.
Er wußte alles und liebte alles, denn die große Liebe ist die Tochter der großen Erkenntnis.
Der Alchimist Galeotto Sacrobosco wollte einen Versuch mit der »Rute des Merkur« machen. So nannte man Stöcke aus Myrten-, Mandel-, Tamarinden- oder irgend einem andern »astrologischen« Holz; alle diese Holzarten sollten eine gewisse Verwandtschaft mit Metallen besitzen. Die Stöcke dienten zum Auffinden von Kupfer-, Gold- und Silbererzen.
Zu diesem Zweck begab er sich mit Messer Girolamo an das Ostufer des Lecco-Sees, wo es viele Bergwerke gab. Leonardo schloß sich ihnen an, obwohl er an die »Rute des Merkur« nicht glaubte und über sie ebenso spottete, wie über alle anderen Phantasien der Alchimisten. In der Nähe des Dorfes Mandello lag am Fuße des Campione ein Eisenbergwerk. Die Bauern erzählten, daß hier vor einigen Jahren ein Stollen eingestürzt sei und viele Arbeiter verschüttet habe, daß auch noch heute aus den tiefen Spalten Schwefeldämpfe kämen und daß ein hineingeworfener Stein mit nie endendem, immer leiser werdendem Gepolter falle und den Grund nie erreiche, weil es da überhaupt keinen Grund gäbe.
Diese Erzählungen reizten die Neugier des Künstlers und er beschloß, das verlassene Bergwerk zu erforschen, während seine Freunde ihre Versuche mit der Rute machten. Doch die Bauern weigerten sich, ihn hinzugeleiten, denn sie glaubten, daß in der Grube ein böser Geist wohne. Endlich fand er doch einen alten Bergmann, der die Führung übernahm.
Ein steiler, finsterer unterirdischer Gang, der einem Brunnen glich und dessen Stufen halb zerstört und sehr glitschig waren, zog sich in der Richtung zum See hin und führte in die Schächte. Voraus schritt der Führer mit einer Laterne; Leonardo folgte ihm, Francesco auf den Armen tragend. Der Knabe hatte, trotz des Einspruches des Vaters und der Ermahnungen Leonardos, so lange gebettelt, daß ihn Leonardo mitnehmen mußte.
Der unterirdische Gang wurde immer enger und steiler. Sie hatten schon über zweihundert Stufen gezählt, der Gang führte aber immer tiefer hinunter und schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Ein schwüler feuchter Hauch kam ihnen entgegen. Leonardo beklopfte die Wände mit einem Spaten, wobei er auf den Klang achtete, und studierte das Gestein, die Erdschichten und den in den Granit eingestreuten Glimmerglanz.
»Hast du Angst?« fragte er mit liebevollem Lächeln, denn er fühlte, wie der Knabe sich enger an ihn schmiegte.
»Nein, wenn ich bei Euch bin, fürchte ich nichts.«
Nach einer Weile fügte er hinzu:
»Ist es wahr, Messer Leonardo, was der Vater erzählt: daß Ihr bald abreist?«
»Ja, Francesco, es ist wahr.«
»Wohin?«
»Nach Romagna, um in den Dienst Cesares, des Herzogs von Valentino, zu treten.«
»Nach Romagna? Ist es weit?«
»Einige Tage von hier.«
»Einige Tage!« wiederholte Francesco. »Da werden wir uns nie wiedersehen?«
»Warum denn? Ich werde ja wieder herkommen, sobald es mir möglich sein wird.«
Der Knabe wurde nachdenklich. Dann umschlang er in plötzlicher Anwandlung von Zärtlichkeit Leonardos Hals, schmiegte sich noch enger an ihn an und flüsterte:
»Messer Leonardo, nehmt, o nehmt mich doch mit!«
»Was fällt dir ein, Kind? Du darfst nicht mit. Dort wütet ja ein Krieg!«
»Und wenn auch! Ich habe ja schon gesagt, daß ich mit Euch nichts fürchte! ... Es ist ja schon hier schrecklich genug; und wenn es noch schrecklicher sein wird, so werde ich dennoch nichts fürchten! ... Ich will Euer Diener sein, Eure Kleidung werde ich reinigen, die Zimmer fegen, den Pferden Futter geben; Ihr wißt ja, ich bin geschickt im Sammeln von Muscheln und verstehe von Pflanzen Abdrücke mit Kohlenpulver zu machen. Ihr habt mir neulich selbst gesagt, daß ich es vorzüglich mache. Ich will wie ein Erwachsener alle Eure Befehle ausführen ... Nehmt mich nur mit, Messer Leonardo, verlaßt mich nicht! ...«
»Und Messer Girolamo? Glaubst du, daß er dich mit mir ziehen läßt?«
»Er wird mich lassen! Ich werde ihn so lange darum bitten. Er ist ja so gut. Wenn er mich aber doch nicht gehen läßt, so werde ich heimlich fortgehen ... Sagt mir nur, daß Ihr es mir erlaubt ... Ja?«
»Nein, Francesco, – ich weiß ja, daß du es nicht ernst meinst und deinen Vater nie verlassen wirst. Er ist ja alt und einsam. Du wirst doch Mitleid mit ihm haben ...«
»Gewiß habe ich mit ihm Mitleid ... Aber auch Ihr tut mir leid. Ihr kennt mich noch nicht, Messer Leonardo, Ihr glaubt, ich sei ein Kind. Aber ich weiß alles! Tante Bona sagt, Ihr seid ein Zauberer, und auch der Schullehrer Dom Lorenzo meint, daß Ihr schlecht seid und daß ich in meinem Umgange mit Euch mein Seelenheil verlieren könne. Als er einmal wieder so schlecht von Euch sprach, habe ich ihm eine Antwort gegeben, daß er mich beinahe durchgehauen hätte. Alle fürchten Euch. Aber ich fürchte mich nicht, denn Ihr seid besser als die anderen, und ich will immer mit Euch sein!«
Leonardo streichelte ihm schweigend den Kopf und mußte dabei unwillkürlich an einen anderen Knaben denken, den er vor einigen Jahren ebenso in seinen Armen getragen – an das Kind, das beim Feste Moros das Goldene Zeitalter dargestellt hatte.
Francescos heiteres Gesicht wurde plötzlich finster, das Feuer in seinen Augen erlosch, seine Mundwinkel senkten sich und er sagte leise:
»Was soll ich tun? Ich weiß ja, warum Ihr mich nicht mitnehmen wollt: Ihr liebt mich nicht ... Aber ich ...«
Er schluchzte und kam nicht weiter.
»Weine nicht, Kind. Wie, schämst du dich nicht? Höre lieber, was ich dir sagen werde: Wenn du einmal groß bist, will ich dich unter meine Schüler aufnehmen. Wir werden dann gar prächtig miteinander leben und uns nie trennen.«
Francesco hob die Augen, an deren langen Wimpern noch Tränen glänzten und blickte Leonardo lange prüfend an.
»Wollt Ihr mich wirklich als Schüler haben? Vielleicht sagt Ihr es jetzt nur, um mich zu trösten, und vergeßt es später wieder?«
»Nein, ich verspreche es dir, Francesco.«
»Ihr versprecht es mir? Wieviel Jahre muß ich warten?«
»Acht oder neun, wenn du fünfzehn Jahre alt bist ...«
»Neun Jahre ...« Er zählte es an seinen Fingern ab. »Und dann bleiben wir immer zusammen?«
»Ja, bis an den Tod.«
»Gut, jetzt glaube ich sicher daran. Also noch acht Jahre?«
»Ja, du kannst dich darauf verlassen.«
Francesco lächelte ihm glückselig zu und liebkoste ihn nach einer eigenen von ihm erfundenen Art: er rieb sich mit seinem Gesicht an seiner Wange, wie eine Katze.
»Wißt Ihr, Messer Leonardo, wie wunderbar es war! Mir träumte einmal, daß ich viele, unendlich viele Stufen, unendlich lange Gänge ohne Anfang und ohne Ende hinabstiege. Jemand trug mich dabei auf den Armen. Das Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber ich wußte, daß es meine Mutter war. Ich habe sie ja nie gekannt, denn sie starb, als ich noch ganz klein war. Und jetzt hat sich dieser Traum erfüllt. Nur werde ich von Euch getragen und nicht von der Mutter. Mir ist aber in Euren Armen ebenso wohl wie in den ihrigen. Und ich fürchte nichts ...«
Leonardo sah ihn mit einem unendlich milden Blicke an.
Die Augen des Kindes strahlten im Dunkeln. Francesco streckte dem Künstler seine Lippen so zutraulich entgegen, als ob er seine Mutter vor sich habe. Leonardo küßte ihn und es war ihm, als hätte ihm Francesco in diesem Kusse seine Seele geschenkt.
Er fühlte, wie an seinem Herzen das Herz des Kindes pochte und er stieg mit festen Schritten, der trüben Laterne folgend und von unstillbarem Wissensdrang getrieben, die schreckliche Treppe des Bergwerks in die unterirdische Finsternis hinab.
Als die Bewohner der Villa nach Vaprio zurückkehrten, vernahmen sie die beunruhigende Nachricht vom Herannahen des französischen Heeres.
Der König hatte, über den Verrat und die Empörung aufs höchste erzürnt, die Stadt Mailand aus Rache den Söldnern preisgegeben. Wer nur die Möglichkeit dazu hatte, flüchtete in die Berge.
Auf allen Straßen traf man Wagen, die mit allerlei Hausrat beladen waren und denen weinende Kinder und Frauen folgten. Nachts sah man aus den Fenstern der Villa über die ganze Ebene »rote Hähne« – Flammen der Feuersbrünste flattern. Von Tag zu Tag erwartete man bei Novara eine Schlacht, die das Schicksal der ganzen Lombardei entscheiden sollte.
Fra Luca kam einmal in die Villa aus der Stadt mit der Nachricht von den letzten Ereignissen:
Die Schlacht sollte am 10. April stattfinden. Als der Herzog am Morgen dieses Tages Novara verlassen hatte und im Angesicht des Feindes seine Truppen ordnete, weigerten sich die schweizer Söldner, die seine Hauptmacht bildeten, aber von Marschall Trivulzio bestochen waren, in die Schlacht zu gehen. Der Herzog flehte sie mit Tränen in den Augen an, ihn nicht ins Verderben zu stürzen und schwor, ihnen im Falle des Sieges einen Teil seines Besitzes zu schenken. Sie blieben unerbittlich. Moro verkleidete sich als Mönch und wollte fliehen. Aber ein Schweizer aus Luzern, namens Schattenhalb, verriet ihn den Franzosen. Der Herzog wurde ergriffen und zum Marschall gebracht, der den Schweizern für diesen Dienst dreißigtausend Dukaten, »dreißig Silberlinge des Judas«, zahlte.
Ludwig XII. beauftragte Sir de la Trémouille, den Gefangenen nach Frankreich zu schaffen. So wurde derjenige, der nach den Worten der Hofdichter »als erster neben Gott das Rad Fortunas und das Steuer des Weltalls lenkte«, wie ein wildes Tier in einen Käfig gesperrt und auf einem Leiterwagen fortgeführt. Man erzählte, der Herzog habe sich als besondere Gnade ausgebeten, Dantes »Göttliche Komödie« nach Frankreich mitnehmen zu dürfen.
Der Aufenthalt in der Villa wurde von Tag zu Tag gefährlicher. Die Franzosen verwüsteten die Lomellina, die Landsknechte Seprio und die Venezianer die Gegend von Martesana. In der Nähe von Vaprio waren Räuberbanden aufgetaucht. Messer Girolamo zog mit Francesco und Tante Bona nach Chiavenna.
Als Leonardo die letzte Nacht in der Villa Melzi verbrachte, trug er, wie es seine Gewohnheit war, in sein Tagebuch alles Interessante, was er am Tage gesehen und gehört, ein. In dieser Nacht schrieb er:
»Wenn ein Vogel einen kurzen Schwanz, aber breite Flügel hat, so wendet er sich mit einigen kräftigen Flügelschlägen so dem Winde zu, daß dieser ihm unter die Flügel weht und ihn so hochhebt, wie ich es selbst beim Auffluge eines jungen Habichts über der Kirche von Vaprio links von der Bergamo-Straße, morgens d. 14. April 1500, beobachtet habe.«
Auf der gleichen Seite stand noch die Notiz:
»Moro hat sein Reich, sein Eigentum und seine Freiheit verloren und alle seine Werke sind eitel Staub.«
Und sonst kein Wort darüber! Als erscheine ihm der Sturz des großen Hauses Sforza und das Ende des Mannes, mit dem er sechzehn Jahre gelebt, weniger wichtig und bemerkenswert, als der einsame Flug eines Raubvogels.